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Kapitel 2: Jäger und Gejagte

Beschreibung: Evan und Leuven haben die Burg Haren verlassen. Auf ihrer beschwerlichen Reise zur Hauptstadt Rabensberg wird Leuven erst wirklich bewusst, in welch gefährliche Welt er sich gewagt hat. Doch auch, wenn er gehofft hatte, sich weiterhin in der Sicherheit, die Evan ihm bot, wähnen zu können, hat dieser andere Pläne. Ihre Wege trennen sich, denn der Halbdämon bereitet sich auf ein Treffen mit einem alten Bekannten vor.

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Teil 4

Die Gaststätte lag nur wenige verschlungene Gassen entfernt.

Das Zimmer, das sie betraten, offenbarte sich in bescheidener Größe und mit schlichtem Ambiente.

Ein schmales Bett, ein winziger Schrank, ein Tisch – an der Wand hing ein malerisches Landschaftsbild.

»Ein bisschen eng hier«, bemerkte Evan mit gerunzelter Stirn.

Leuven, auf dem Bett sitzend, einen prall gefüllten Sack neben sich, antwortete gelassen: »Für mehr hat die Anzahlung nicht gereicht. Aber es war besser, als draußen in der Kälte zu schlafen.«

»Da du den restlichen Betrag nicht zahlen konntest, was war dein Plan?«, wollte Evan wissen.

Leuven, sein Blick kurz in der Ferne verloren, antwortete bedächtig: »Das erkläre ich dir gerne.«

Schweigen hing in der Luft.

»Und?« hakte Evan nach, als das Schweigen sich langsam bedrückend anfühlte.

»Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Aber mir wäre sicher etwas eingefallen«, entgegnete Leuven mit einem verschmitzten Lächeln.

Der Halbdämon begab sich kopfschüttelnd zum Fenster, das einen faszinierenden Blick auf das lebendige Treiben der Straßen bot.

Gegenüber der Taverne befanden sich Wohnhäuser mit mehreren Parteien.

In der Ferne entdeckte er eine Frau, die Kissen aus dem Fenster schüttelte und sich dabei wagemutig weit über die Fensterbank lehnte.

Ein Stück weiter faltete eine andere Frau gerade die frisch getrocknete Wäsche von der, über die Gasse gespannten, Leine.

»Ein beeindruckender Ausblick, findest du nicht?«, fragte Leuven stolz und kippte sogleich seinen großen Beutel auf dem Bett aus.

Eine Vielzahl von Kleidungsstücken breitete sich auf dem Laken aus. Jedes einzelne davon strahlte einen Hauch von Eleganz und Wert aus.

»Sag mal«, entfuhr es Evan, als er die kostbaren Mieder betrachtete. »Du hältst mir doch etwas vor.«

»Ich dir? – Du bist doch derjenige, der ein Geheimnis um sich macht und nichts von sich preisgeben will«, konterte der Kaufmann, während er seine Kleidung akkurat sortierte.

»Als ich dich angetroffen habe, hattest du nichts zu essen, wenig Wasser und irgendein Gerümpel in deinem Karren.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Leuven und hielt sich eine fein bestickte Weste an den Körper. »Passt nicht zum Barrett oder?«

»Weißt du. Wenn du ein paar von deinen Kleidungsstücken verkaufen würdest, dann, ja dann besteht die Möglichkeit, dass du ein paar Tage länger mit deinem Geld auskommst.« Evan verschränkte die Arme und schaute den jungen Mann eindringlich an.

»Meine Kleidung verkaufen? – Die ist auf Maß geschneidert, die kann ich doch nicht einfach verkaufen!«, empörte sich Leuven, atmete dann aber tief durch.

»Deine Kleidung ist sogar maßgeschneidert?«

»Natürlich, sonst könnte ich mir doch gleich einen Kartoffelsack überziehen.«, gab der junge Mann zurück und hielt sich ein rotes Hemd mit goldenen Stickereien vor die Brust.

»Nein, auch nicht«, sagte er schließlich und legte es zurück auf das Bett.

Evan entfuhr ein Seufzer. »Woher hast du die ganzen Sachen überhaupt?«

Leuven blickte kurz zu dem Halbdämon hinüber und beschäftigte sich dann wieder mit dem Zurechtlegen seiner Kleidung. »Ich sagte doch bereits, dass ich aus einer Kaufmannsfamilie stamme. Da muss man nach Außen natürlich dementsprechend aussehen.«

»Ich schätze mal Talent ist nicht zwingend notwendig.«

»Hey!«, prustete Leuven, »hätten mich die Stadtwachen nicht aufgehalten, dann hätte ich heute ein gutes Sümmchen gemacht, sei dir dessen bewusst.«

»Ich habe dir das Leben gerettet. Schon zum zweiten Mal. Wobei, wenn wir die Geschehnisse auf der Burg Haren mitzählen sind wir bei drei Malen.«

»In deinen Träumen vielleicht!«, gab der junge Mann zu verstehen.

»Willst du nicht doch ein paar deiner Stücke verkaufen? – Die trägst du wahrscheinlich eh nie«, sagte der Halbdämon schließlich im gelangweilten Ton, nachdem Leuven bereits das fünfte Hemd ablehnte.

»Vielleicht kann ich mich von dem einem oder anderem Stück trennen. Tatsächlich habe ich gut abgenommen, seitdem ich auf Reisen bin. Da passen mir einige sicherlich nicht mehr.«

»So, so, du hast also abgenommen?«

»Ob du es glaubst oder nicht!«, gab Leuven krächzend zurück und tauschte sein grünes Barrett gegen ein rotes aus, ehe er kopfschüttelnd wieder zum alten wechselte.

»Das ist gar nicht so einfach!«, murrte er und begutachtete kritisch die Kleidungsstücke auf dem Bett.

»Hast du heute denn noch etwas vor?«

»Wir sind in Rabensberg, der Hauptstadt von Brünnen. Abends soll es hier rauschende Feiern geben, hübsche junge Frauen, denen man das Bier direkt aus dem Ausschnitt trinken kann und …«

»und etliche Betrunkene, die dich ausrauben werden, so wie du herumläufst«, warf der Halbdämon grinsend ein. »Übertreib es nicht. Hier geht es genauso vor, wie in jedem anderen Drecksloch. Die Leute betrinken sich, feiern und wenn sie davon zu viel haben, dann wollen sie dir ans Leder. Ja, Abends geht es hier ausschweifend zu, aber glaub mir, da willst du lieber woanders sein.«

»Vielleicht teilst du diese Ansicht ja auch nur, weil du stets derjenige bist, der für Reibereien sorgt«, wandte Leuven ein und schaute Evan skeptisch an.

»Möglich«, gab dieser achselzuckend zurück. »Aber glaub mir, in dem Fummel schreist du praktisch danach ausgeraubt werden zu wollen. Kauf dir lieber etwas unauffälligeres. Vor allem da du viel auf den Straßen unterwegs sein wirst. Wegelagerer und Banditen gibt es in den Marschen und Wäldern wie Sand am Meer.«

»Ich komme schon klar, außerdem habe ich Gertrud. Sie ist wirklich eine besondere Stute.«

»Du nennst sie nicht ernsthaft Getrud oder?«

»Dann vielleicht Gertru-de?«

»Du hast sie doch nicht mehr alle!«

Schnaubend wandte sich Evan zum Fenster. »Die Sonne geht bald unter. Um Mitternacht habe ich mein Treffen bei der Kathedrale.«

»O, die Kathedrale!«, entfuhr es Leuven. »Die wollte ich schon immer mal sehen.«

»Du wirst aber nicht mitkommen«, entgegnete Evan.

»Wieso denn nicht?«

»Weil es für dich viel zu gefährlich ist. Außerdem war unser Treffen ein Zufall. Wie ich bereits sagte, unsere Wege trennen sich hier.«

»Vielleicht war es aber auch Schicksal«, wandte Leuven ein. »Ja, denk mal drüber nach. Das Schicksal hat uns zusammengebracht.«

»Red doch keinen Unsinn! – Das Schicksal ist ein Arschloch. Aber so fies wird es zu mir wohl auch nicht sein.«

»Du merkst aber schon, dass du gerade ein wenig meine Gefühle verletzt oder?«

»Ich verletze deine Gefühle?« Evan hob irritiert eine Braue. »Tut das etwa weh?«

»Natürlich tut das weh!«, schnaubte Leuven.

»Dann zieh die rote Weste da an. Dann wirst du heute Nacht merken, was richtige Schmerzen sind, wenn du auf der Straße dafür verprügelt wirst.«

»Was stimmt nicht mit dir? – Ich schreibe das mal deiner dämonischen Hälfte zu. Aber du solltest unbedingt lernen, was Freundlichkeit bedeutet.« Leuven verbarg seine Unzufriedenheit nicht.

»Du hast…«, Evan verstummte.

Seine Augen weiteten sich. Ein plötzlicher Blitzschlag durchzuckte seinen Kopf, schrill und unheilvoll. Panik stieg in ihm auf.

Sein Blick wanderte zurück zu dem Fenster, dann erschrak er und sprang auf Leuven zu, der hinter dem Bett stand. »Runter!«

Ein ohrenbetäubender Knall durchzerrte die Luft, gefolgt von dem schrillen Geräusch berstenden Glases. Scharfe Glassplitter wirbelten wie gefährliche Geschosse durch das Zimmer, begleitet von den entsetzten Schreien der Menschen draußen auf den Straßen.

Die Welt schien für einen flüchtigen Moment stillzustehen, nur um dann von einem tiefen, unheimlichen Schweigen durchzogen zu werden.

Evan hob seinen Kopf und wagte einen Blick über die Kante der Matratze.

Das Fenster und sein Rahmen waren zerstört, ein Trümmerfeld aus Staub und glitzernden Glassplittern breitete sich wie Schnee auf dem Holzboden aus.

Inmitten des verwüsteten Raumes kniete eine Gestalt, gehüllt in eine düstere Lederrüstung.

Eine massive Schulterplatte aus Metall zierte ihre linke Seite, und ihre Arme waren von schimmernden Armschienen bedeckt.

Der Kopf war gesenkt, von langen, schwarzen Haaren verhüllt.

Der Halbdämon umklammerte bereits den Griff seines Schwertes, entschlossen, sich zu verteidigen, als er aus der Deckung hinter dem Bett hervortrat.

Die mysteriöse Gestalt erhob sich und warf ihre Haare nach hinten.

In diesem Moment erkannte Evan, dass es eine Frau war, es sich bei ihr jedoch nicht um einen Menschen handelte. Graue Haut, spitz zulaufende Ohren und durchdringende gelbe Augen, die ihn unmittelbar fixierten.

Ihr langes, schwarzes Haar verhüllte die rechte Seite ihres Gesichts, während die linke Seite kahl rasiert war.

Das Schwert des Halbdämons glitt mit einem surrenden Klang aus der Scheide.

»Wer bist du?«, zischte Evan, seine Muskeln angespannt, bereit für den Kampf.

Die Frau wischte sich entschlossen die Scherben von ihren Armen und der stählernen Brustpanzerung, bewegte sich mit zielgerichteten Schritten näher.

Evan streckte ihr sein Schwert entschlossen entgegen. »Keinen Schritt weiter!«, warnte er.

Ihre gelblichen Augen durchbohrten ihn durchdringend, bevor sie einen flüchtigen Blick auf Leuven warf, der hinter dem Bett hockte, immer noch wimmernd.

»Gehörst du zu Rowan?«, fragte Evan mit Nachdruck und ließ sie keinen Moment aus den Augen.

Ein bedrohliches Leuchten erschien in den Augen der Frau. Ein zischendes Geräusch entwich ihren Lippen.

»Nun sprich schon!«, forderte Evan.

»Zum Reden ist keine Zeit!«, erwiderte die Frau bestimmt. »Du bist in Gefahr.«

»Gefahr? Warum sollte ich in Gefahr sein?«, hakte Evan nach, während er kurz den Griff seines Schwertes lockerte, um sich dann wieder zu besinnen und ihn fester als zuvor mit seinen Fingern zu umklammern.

»Du wurdest in eine Falle gelockt. Sie haben dir die Stadtwache auf den Hals gehetzt. Reicht dir das?«, erklärte sie hektisch. »Wir müssen hier sofort weg.«

»Zuerst will ich wissen, wer du bist!«, beharrte Evan.

Zitternd wagte Leuven einen Blick aus seinem Versteck hinter dem Bett und rief überrascht: »Evan, das ist eine Eldári!«

Ein Ausdruck der Verblüffung zeichnete sich auf Evans Gesicht ab.

»Eine waschechte Eldári!«, staunte Leuven. »Das ist ja kaum zu glauben.«

»Glaub es ruhig«, erwiderte die Frau mit einem Hauch von Stolz in ihrer Stimme.

Die Eldári waren eines der drei Urvölker, die den Kontinent bewohnten, ehe sich die Menschen dort ausbreiteten.

Mit der Zeit verblassten die Erinnerungen an sie und wurden nunmehr Teil der vielen Sagen und Legenden, die die Gelehrten und Schriftsteller niederschrieben.

Die meisten von ihnen hatten den Kontinent verlassen, doch tief in den unerforschten Regionen, hinter der Eisenmark, sollte es noch einige Stämme von ihnen geben.

War es einem Menschen vergönnt, einen Eldári mit eigenen Augen zu Gesicht bekommen, so galt dies allgemeinhin als schlechtes Omen.

Evan knirschte mit den Zähnen. »Und was macht eine Eldári in Rabensberg?«

Ihr Blick wurde ernst. »Das erzähle ich dir noch, aber vorerst müssen wir verschwinden.«

In diesem Moment drangen schwere Stiefelschritte auf dem Flur an ihre Ohren, gefolgt von einem lauten Klopfen an der Tür.

»Aufmachen, sofort!«, schallte es durch das Holz.

Die Eldári warf einen flüchtigen Blick zur Tür und wieder zu Evan. »Jetzt komm.«

Der Halbdämon schaute hektisch zwischen ihr und der Tür hin und her, die Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die Zeit drängte, und er musste eine schnelle Entscheidung treffen.

Die Frau begab sich zum zerstörten Fenster, erklomm die Fensterbank und sah über die Straße. »Schaffst du es, über diese Entfernung zu springen?«

Evan nickte, seinen Entschluss gefasst.

»Ich aber nicht, niemals!«, protestierte plötzlich Leuven, der sich aus seinem Versteck wagte.

Der Halbdämon blickte zu ihm hinüber. »Du wirst hier bleiben.«

»Was, ich kann doch nicht…«

Wieder hämmerte es an der Tür. »Wir kommen jetzt hinein!«, schallte es bedrohlich.

Mit einem kraftvollen Sprung überquerte die Eldári geschickt die Straße und landete auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes.

»Evan, du lässt mich doch nicht schon wieder alleine, oder?«, flehte Leuven mit ängstlichem Blick.

Der Halbdämon blickte in die wimmernden Augen des jungen Kaufmanns.

»Ich sagte doch, hier trennen sich unsere Wege. Mach’s gut.« Mit diesen Worten folgte er der Unbekannten.

Auf den Fenstersims gestiegen, sprang er geschickt hinüber auf das Dach.

Krachend fiel die Tür hinter Leuven aus den Angeln, und in einem kurzen Augenblick, kaum länger als ein Wimpernschlag, war er von Männern in grünen Wamsen und eisernen Brustpanzern umringt.

Erschrocken drehte sich Leuven herum.

Die langen Hellebarden blitzten bedrohlich vor Leuvens Gesicht auf.

»Habt ihr sie?«, donnerte Heidenreich mit rauer Stimme, als er das Zimmer mit schweren Schritten betrat.

»Hier ist sie nicht, Herr Hauptmann!«, meldete sich einer der Wachen zu Wort und klopfte mit dem unteren Ende seiner Hellebarde auf den Holzboden.

»Verdammt, wo ist sie hin?«, entfuhr es Heidenreich. Eine Ader auf seiner Stirn pochte aufgeregt.

»Sie ist, sie ist«, stammelte Leuven und erhob zitternd seinen Zeigefinger, »da entlang!«

»Was?«, Heidenreich wandte sich umher. Der junge Kaufmann zeigte auf die Tür. »Von dort kommen wir, was faselt Ihr da?«

»Ach, ach so«, sagte der junge Mann und ließ die Hand wieder nach unten gleiten.

Heidenreich kam ihm bedrohlich nahe. »Was ist geschehen?«

Leuven stammelte einige unverständliche Worte vor sich hin. Dann erkannte er die beiden Stadtwachen, die hinter dem Hauptmann standen.

Sie waren es, die ihn zuvor beschuldigt hatten, Hehlerware zu verkaufen und nach einer nicht existierenden Lizenz gefragt hatten.

Die beiden Wachen starrten sich überrascht an.

Leuven überlegte kurz, sollte er dem Hauptmann davon erzählen und die Aufmerksamkeit von sich ablenken? Würden sie die Geschichte vielleicht so drehen, dass er selbst in Schwierigkeiten kommen würde?

Heidenreich wandte sich ab. »Das hat keinen Sinn«, sagte er mürrisch.

Weder Leuven noch die beiden korrupten Stadtwachen gaben einen Ton von sich.

»Auf die Straße, sofort!«, spuckte der Hauptmann. »Sie darf uns nicht entwischen!«

»Und was machen wir mit ihm?«, fragte einer der Wachmänner und deutete auf Leuven.

Heidenreich musterte den jungen Mann kurz und schüttelte dann seinen Kopf. »Der wird uns nicht weiterhelfen. Der faselt nur Unsinn.«

Die Wachen gehorchten dem Befehl des Hauptmanns und folgten ihm hinaus auf den Flur.

Kurz seufzte Leuven erleichtert, ehe er die ganzen Scherben auf dem Boden vernahm. »Na toll, dafür werde ich aber nicht bezahlen.«

Evan und die geheimnisvolle Eldári schlichen sich geschickt über die schrägen Dächer von Rabensberg, während neugierige Blicke einiger Schaulustiger auf sie trafen.

»Verrätst du mir endlich, wer du bist?«, erkundigte sich Evan, als sie in einer dunklen Gasse nach vorübergehendem Schutz suchten.

»Ich bin Sarra«, antwortete die Frau knapp und spähte vorsichtig durch die düstere Gasse.

»In Ordnung, Sarra. Und weshalb bist du so eindrucksvoll durch das Fenster gesprungen?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass du in eine Falle getappt bist«, knurrte sie zurück. »Blöderweise hat die Stadtwache mich entdeckt. Mir blieb keine andere Wahl, sonst wäre ich diskreter vorgegangen.«

»Und in wessen Falle bin ich getappt?«

Sarra verdrehte seufzend die Augen. »Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist, dass es sich um Rowans Leute handelt.«

Evan schrak auf. »Rowan?«

»Ja, Rowan. Du warst nicht gerade vorsichtig dabei, nach Informationen über seinen Aufenthaltsort zu fragen. Er hat bereits seine Leute nach dir ausgeschickt, und wenn du Rabensberg nicht sofort verlässt, wird das böse enden. Entweder die Stadtwache kriegt dich, oder Rowans Leute veranstalten ein Massaker. So oder so, du bist nicht nur in Gefahr, sondern auch eine Gefahr für andere«, erklärte sie, während ihre Blicke nervös hin und her wanderten. »Verschwinde und lass von Rowan ab.«

»Niemals!«, spuckte Evan und trat ihr entschlossen entgegen. »Ich werde nicht aufgeben, ehe ich seinen Kopf habe!«

»Schrei nicht so herum«, zischte Sarra und schaute den Halbdämon finster an. »Und vor allem, sei nicht so dumm. Du kannst allein nichts gegen Rowan ausrichten. Er hat viel zu viele Leute unter sich. Die haben dich, ehe du auch nur eine richtige Spur hast, wo sich Rowan befinden könnte. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, und du bist mit Posaunen und Trompeten heranmarschiert.«

»Ich suche schon eine halbe Ewigkeit nach ihm.«, antwortete der Halbdämon und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das hat er mitbekommen«, erwiderte Sarra. »Seine Männer warten nur darauf, dass du unvorsichtig wirst, und das bist du geworden, indem du nach Rabensberg gekommen bist. Allein dein Auftreten in Haren hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt.«

»Mein Auftreten in Haren? Was hat das denn damit zu tun? – Woher weißt du überhaupt davon?«

»Du kannst von Glück reden, dass du dort lebendig herausgekommen bist.«

»Unsinn«, sagte Evan. »Ich gebe zu, am Anfang habe ich den Hintz unterschätzt, aber davon lasse ich mich nicht abhalten.«

Sarra schaute ihn mit großen, irritierten Augen an. »Der Hintz? – Von dem rede ich doch gar nicht. Rowan ist dir schon eine Weile auf der Spur und zieht die Strippen. Genau dasselbe ist in Haren passiert. Der Lord ist tot. Getötet von einem seiner Schergen.«

»Wie bitte?«, Evan wurde bleich im Gesicht. Noch bleicher, als er ohnehin schon war. »Als ich die Burg verließ, lebte der Lord noch.«

»Ein Mann namens Wenzel ist dafür verantwortlich. Ich weiß nicht viel über ihn, aber er ist einer der engsten Vertrauten von Rowan. Er ist gut darin, seine Spuren zu verwischen. Ehe ich die Burg erreichen konnte, war es leider schon zu spät.«

Evan wirkte nachdenklich. »Wäre ich doch nur länger dort geblieben.«

»Dann hätten sie dich wohl ebenfalls getötet«, gab Sarra zurück.

Die Eldári lugte immer wieder aus der Gasse hervor, aus Furcht vor der Stadtwache.

»Verdammt!«, brüllte der Halbdämon und schlug wütend auf eine Kiste. »Er hätte mich direkt zu diesem Mistkerl führen können.«

»Komm mal runter«, stöhnte Sarra. »Viel wichtiger ist, dass du hier nicht sicher bist. Denn in den höheren Kreisen hat sich herumgesprochen, dass ein Dämon namens Evan Dhorne dafür verantwortlich ist, was in Haren passiert ist.«

»Was? – Ich habe damit nichts zu tun. Das können die Bediensteten vom Hof auch bestätigen.«

»Haben sie aber nicht. Dein Name ist jetzt gebrandmarkt.«

»Und was interessiert es dich?«

Sarra stöhnte auf. »Ich bin sehr gut darin, mich bedeckt zu halten. Je mehr du aber wie ein Berserker durch die Gegend stürmst, desto vorsichtiger werden Rowans Leute, und das erschwert es mir erheblich, ihnen auf der Spur zu bleiben.«

Evan verzog das Gesicht.

»Das tut mir aber leid, dass ich dein Leben schwerer mache«, gab er sarkastisch zurück.

»Sei froh, dass ich dich warne. Rowans Leute sind auch in Rabensberg. Wäre ich nicht aufgetaucht, wärst du ihnen fröhlich in die Falle gelaufen.«

»Das ist doch Schwachsinn!«

»Ach ja?«, sie verschränkte die Arme. »Weshalb bist du dann in Rabensberg?«

»Ich… nun ja«, stammelte Evan. Er fühlte sich ertappt. Er hasste es.

»Sie wollen dich loswerden. Also, sag schon, weshalb bist du noch in der Stadt?«

»Nun, meine Kontaktperson hat mir von einem Auftraggeber berichtet. Dieser möchte mich um Mitternacht in der Kathedrale treffen.«

»In der Kathedrale? – Welch Ironie. Eine heilige Stätte der Menschen mit deinem Blut zu beschmieren, das würde Rowan sicher sehr gefallen. Wie verlässlich ist deine Quelle?«, wollte Sarra wissen.

»Nun, sie stammt von einem geldgierigen, halsabschneiderischen und hinterlistigen Gauner. Wie verlässlich kann da eine Quelle schon sein? – Aber er weiß, dass ich ihm im Schlaf die Kehle durchtrenne, wenn er mich verarscht und da ich dies bereits fast getan habe, überlegt er es sich viermal, ob er mich wieder belügt.«

Plötzlich hielten beide inne und spitzten ihre Ohren.

In der engen Gasse hallten Schritte wider. Evan und Sarra, vertieft in ihr Gespräch, bemerkten die Gefahr zu spät.

Erschrocken blickte Sarra auf den Lichtkegel, der von der Hauptstraße einfiel.

Eine dunkle Silhouette erschien und verdunkelte den kleinen Bereich der Gasse, der noch vom fahlen Sonnenlicht erhellt wurde.

Die Schritte hallten näher, und plötzlich trat eine imposante Gestalt aus dem Schatten der Gasse.

Es war Heidenreich. Sein Schwert, das bedrohlich aufblitzte, hielt er fest im Griff.

Evan schaute ihn ernst an, während Sarra die Umgebung analysierte, auf der Suche nach einem möglichen Ausweg.

Heidenreichs Augen funkelten gefährlich, als er die beiden finster ansah.

»Die Eldári und der Dämon, beide an einem Fleck. Das passt mir sehr gut“, sagte er mit dröhnender Stimme, sein Blick zwischen Evan und Sarra hin und her wandernd.

Sein Schwert hielt er fest umklammert, bereit für eine Konfrontation.

Evan trat ein paar Schritte vor, sein Blick ruhig und entschlossen. »Was wollt Ihr von uns? – Wir haben nichts getan.“

Heidenreichs Miene verfinsterte sich noch mehr. „Nichts getan? – Ihr seid für den Mord an Lord Johann Dancker verantwortlich. Dafür wird Euch die gerechte Strafe ereilen.«

Evan zögerte einen Moment, während Sarra weiterhin die Umgebung im Auge behielt. »Das ist mir bereits zu Ohren gekommen. Ich muss Euch aber sagen, dass diese Gerüchte nicht wahr sind. Ich habe mit seinem Tod nichts zu tun. Irgendjemand versucht mir das anzuhängen.“

Heidenreich trat einen Schritt näher, sein Schwert immer noch erhoben. „Unsinn. Versucht nicht, mich zu belügen. Es gibt unzählige Zeugen, die Euch als Täter bestätigt haben. Wehrt Euch nicht.“

Evan spürte die Anspannung in der Luft, aber er blieb ruhig. „Verzeiht mir, aber das werde ich nicht tun. Es geht etwas Großes vor, irgendjemand hat mir eine Falle gestellt und dem werde ich auf den Grund gehen.“

Heidenreichs Augen funkelten vor Entschlossenheit. »Kommt mit mir. Ansonsten zwingt Ihr mich andere Maßnahmen zu ergreifen.“

Evans Hand wanderte langsam zu seinem Schwertgriff, während sich weitere Gestalten im fahlen Licht der Gasse zeigten.

Ein halbes Dutzend Stadtwachen trat nun ebenfalls aus dem Dunkel hervor, ihre Armbrüste auf Evan und Sarra gerichtet.

»Kommt mit mir“, wiederholte Heidenreich mit unerschütterlicher Entschlossenheit, „dann können wir das Ganze ohne Blutvergießen klären.«

Sarra’s Hand legte sich schwer auf Evans Schulter. Ihre Augen blitzten auf, als sie auf eine Kiste und dann auf den darüberliegenden Fenstersims deutete.

In einem fließenden Bewegungstanz sprang sie auf die Kiste und katapultierte sich dann geschickt auf den Fenstersims, bevor sie mit federnden Schritten das hinüberliegende Dach erklomm. Ein stummer Appell lag in ihrem Nicken an Evan, ihr zu folgen.

Heidenreichs Schwert durchschnitt die Stille, als er es bedrohlich nach vorn streckte und gespannt auf eine Reaktion des Halbdämons wartete. Als jedoch keine Antwort kam, stürmte er entschlossen voran. Seine schweren Stiefel donnerten auf das Pflaster der Gasse.

Evan, vom Adrenalin beflügelt, sprang mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Torheit auf die Kiste, um Sarra zu folgen.

Geschmeidig wie eine Raubkatze balancierte er auf dem schmalen Fenstersims, bevor er sich mit einem kraftvollen Satz auf das gegenüberliegende Dach katapultierte.

In dem Augenblick, als Heidenreich mit zornverzerrtem Gesicht und erhobenem Schwert auf den Halbdämon zustürmte, durchschnitt das Surren eines Armbrustbolzens die Luft.

Ein scharfer Windhauch streifte Heidenreichs Wange, als der Bolzen knapp an ihm vorbeisauste.

Einer der Stadtwachen hatte einen Schuss abgefeuert, ohne auf den Befehl des Hauptmanns zu warten.

Ein stechender Schmerz durchzuckte Evans Bein.

Mit aller Kraft konnte er sich auf das Dach retten und ließ sich darauf niederfallen.

Sarra eilte zu Evan und half ihm auf, während sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war und eine blutige Wunde an seinem Bein klaffte.

Ihre Augen füllten sich mit Sorge, als sie den Zustand des Halbdämons erfasste.

Heidenreichs Zorn loderte wie eine Flamme in der Dunkelheit.

Seine Augen durchbohrten jeden der Stadtwache, während er mit dröhnender Stimme fragte: »Wer hat geschossen?“

Die Stadtwachen tauschten nervöse Blicke aus, ihre Gesichter von Angst gezeichnet.

Ein Schweigen legte sich über die Gruppe, niemand wollte die Schuld auf sich nehmen, aber auch nicht auf jemand anderen schieben.

»Vollidioten!«, polterte der Hauptmann, »habe ich den Befehl dazu gegeben?«

Wutentbrannt bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Begleitet von den ängstlichen Blicken der Wachen.

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Ein enttäuschter Seufzer entfloh Leuven, als er seinen Sack mit seinen Kleidern in seinem Karren verstaute.

Nicht nur, dass der Gastwirt die Vorauszahlung für das Zimmer einbehalten hatte, nein, er forderte auch eine Entschädigung für das kaputte Fenster und wies den jungen Mann des Hauses.

All das Geld, was er zuvor von Evan erhalten hatte, war somit verloren.

Mit trauriger Miene wanderte er zu seiner Stute und strich ihr über die weiche Mähne. »Ach, mein Mädchen, mir war wirklich kein Glück vergönnt. Ich hatte mir das Ganze einfacher vorgestellt.«

Leuven stand da, den Blick auf seine treue Stute gerichtet, und sein Herz war schwer vor Zweifeln.

Der Wind trug die Sorgen der Welt mit sich, während er überlegte, wie er hierher gelangen konnte – an diesen Punkt, an dem sein letzter Besitz, den er im Karren hatte, kaum mehr als Erinnerungen und Enttäuschungen barg.

»Habe ich einen Fehler begangen?«, murmelte er, die Worte kaum mehr als ein Flüstern im wehenden Wind.

Seine Finger glitten durch die weiche Mähne der Stute, als suchte er nach Trost in der Verbundenheit zu seiner einzigen Begleiterin in dieser rauen Welt.

Er redete sich immer wieder ein, dass es die richtige Entscheidung war, doch mit jedem neuen Tag häuften sich die Zweifel.

Ein ständiges Verlangen nach der Ferne hatte sein Herz getrieben, und die Sehnsucht nach Unabhängigkeit war seine Wegweiserin gewesen. Doch nun, da er hier stand und von der Welt um ihn herum kalt und rau empfangen, plagten ihn Selbstzweifel.

»Was rätst du mir?«, fragte er leise sein Pferd, in der Hoffnung, sie würde ihm tatsächlich antworten.

Seine Hand verharrte auf der seidigen Mähne der Stute, die ruhig neben ihm stand, als könne sie seine Unsicherheit spüren.

Ein Hauch von Wehmut lag in Leuvens Augen, während er sich an die Menschen erinnerte, die er hinter sich gelassen hatte.

Plötzlich durchzuckte ihn der Gedanke an seinen Vater, eine harsche Person, zu der Leuven nie einen Zugang gefunden hatte.

Zeit seines Lebens standen für seinen Vater Pflichten im Vordergrund, nie das, was Leuven sich wünschte, nie die Zuneigung, nach der er sich so sehr sehnte.

Leuven atmete tief durch, als er sich an die Momente erinnerte, in denen er vergeblich nach einer Spur von Zuwendung seitens seines Vaters gesucht hatte.

Die Pflicht hatte eine Mauer zwischen ihnen errichtet, und Leuven hatte sich stets gefragt, welche Gefühle sich hinter der Mauer verbargen, die sein Vater errichtet hatte.

»Sollte er wirklich Recht behalten?«, flüsterte Leuven leise, als ob er auf eine Antwort hoffte, während er seinen Blick schweifen ließ.

Die unzähligen Stadtbewohner, die durch die Straßen schlenderten, schienen so frei von schlechten Gedanken. Kein Gedanke des Schmerzes schien sie in diesem Moment zu plagen.

Dann hörte Leuven den Aufschrei eines kleinen Kindes und wurde aus seinen Gedanken gerissen.

Er beobachtete, wie ein Mann, kaum älter als er selbst, seine Tochter auf den Arm nahm und sie tröstete, nachdem sie auf dem harten Steinboden gestürzt war.

Die Mutter kam hinzu, gab ihrem Kind lächelnd einen Kuss auf die Stirn.

Wie verzaubert wandelte sich das aufgeregte Weinen in ein warmes, zufriedenes Kichern.

Es war lange her, dass Leuven diese Wärme und Geborgenheit spüren konnte.

Er blickte seufzend zu seiner Stute.

Seit Tagen suchte Leuven nach einem passenden Namen für sie. Nun hatte er einen gefunden: „Ida“.

Der Name trug eine gewisse Tiefe in sich, eine persönliche Bedeutung, die Leuven tief im Herzen bewegte.

Ein zartes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er den Namen aussprach.

»Ida«, wiederholte er flüsternd, während er mit einem wehmütigen Lächeln ihre Mähne streichelte.

Die Stute schien den Namen anzuerkennen, und Leuven spürte eine wohltuende Verbundenheit.

Der Name, von anderen nur als Klang wahrgenommen, trug eine Last vergangener Erinnerungen, die Leuven nun still in seinem Herzen bewahrte.

Er begab sich erneut zu dem angespannten Wagen und schob die Plane beiseite.

Sein Blick ruhte auf den Kisten, die die kostbaren Waren bargen, von denen er sich erhoffte, ein Leben in Ruhe und Bedachtsamkeit aufbauen zu können.

Er zog seinen Reisesack wieder hervor.

»Es fällt mir schwer, es zuzugeben.« Der junge Mann wandte sich wieder an sein Pferd, »aber ich denke, Evan hat recht. Wenn ich nicht bereit bin, mich von diesen Dingen zu trennen, werde ich niemals wirklich frei sein.«

Ida antwortete mit einem sanften Wiehern, eine Bestätigung, die der junge Händler mit Dankbarkeit aufnahm.

Doch plötzlich fiel ihm ein zweiter Sack ins Auge. Nach einer kurzen Überlegung holte er ihn hervor.

»Der gehört doch Evan!«, merkte Leuven erschrocken an. »O je, in der Eile hat er ihn vergessen.«

Er blickte Ida mit tiefhängenden Augen an.

»Ich wette, er wird mir die Schuld in die Schuhe schieben. Dabei war er es doch, der einfach verschwunden ist. Ich kehre bald zurück, und dann verlassen wir diese Stadt. Sie beginnt, mich mehr und mehr an meine Heimat zu erinnern«, erklärte Leuven, schwang seinen Reisesack über die Schulter und verschwand in der geschäftigen Menge, die die Straßen säumte.

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Kapitel 2
Jäger und Gejagte

Beschreibung: Evan und Leuven haben die Burg Haren verlassen. Auf ihrer beschwerlichen Reise zur Hauptstadt Rabensberg wird Leuven erst wirklich bewusst, in welch gefährliche Welt er sich gewagt hat. Doch auch, wenn er gehofft hatte, sich weiterhin in der Sicherheit, die Evan ihm bot, wähnen zu können, hat dieser andere Pläne. Ihre Wege trennen sich, denn der Halbdämon bereitet sich auf ein Treffen mit einem alten Bekannten vor.

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Das Zimmer, das sie betraten, offenbarte sich in bescheidener Größe und mit schlichtem Ambiente.

Ein schmales Bett, ein winziger Schrank, ein Tisch – an der Wand hing ein malerisches Landschaftsbild.

»Ein bisschen eng hier«, bemerkte Evan mit gerunzelter Stirn.

Leuven, auf dem Bett sitzend, einen prall gefüllten Sack neben sich, antwortete gelassen: »Für mehr hat die Anzahlung nicht gereicht. Aber es war besser, als draußen in der Kälte zu schlafen.«

»Da du den restlichen Betrag nicht zahlen konntest, was war dein Plan?«, wollte Evan wissen.

Leuven, sein Blick kurz in der Ferne verloren, antwortete bedächtig: »Das erkläre ich dir gerne.«

Schweigen hing in der Luft.

»Und?« hakte Evan nach, als das Schweigen sich langsam bedrückend anfühlte.

»Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Aber mir wäre sicher etwas eingefallen«, entgegnete Leuven mit einem verschmitzten Lächeln.

Der Halbdämon begab sich kopfschüttelnd zum Fenster, das einen faszinierenden Blick auf das lebendige Treiben der Straßen bot.

Gegenüber der Taverne befanden sich Wohnhäuser mit mehreren Parteien.

In der Ferne entdeckte er eine Frau, die Kissen aus dem Fenster schüttelte und sich dabei wagemutig weit über die Fensterbank lehnte.

Ein Stück weiter faltete eine andere Frau gerade die frisch getrocknete Wäsche von der, über die Gasse gespannten, Leine.

»Ein beeindruckender Ausblick, findest du nicht?«, fragte Leuven stolz und kippte sogleich seinen großen Beutel auf dem Bett aus.

Eine Vielzahl von Kleidungsstücken breitete sich auf dem Laken aus. Jedes einzelne davon strahlte einen Hauch von Eleganz und Wert aus.

»Sag mal«, entfuhr es Evan, als er die kostbaren Mieder betrachtete. »Du hältst mir doch etwas vor.«

»Ich dir? – Du bist doch derjenige, der ein Geheimnis um sich macht und nichts von sich preisgeben will«, konterte der Kaufmann, während er seine Kleidung akkurat sortierte.

»Als ich dich angetroffen habe, hattest du nichts zu essen, wenig Wasser und irgendein Gerümpel in deinem Karren.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Leuven und hielt sich eine fein bestickte Weste an den Körper. »Passt nicht zum Barrett oder?«

»Weißt du. Wenn du ein paar von deinen Kleidungsstücken verkaufen würdest, dann, ja dann besteht die Möglichkeit, dass du ein paar Tage länger mit deinem Geld auskommst.« Evan verschränkte die Arme und schaute den jungen Mann eindringlich an.

»Meine Kleidung verkaufen? – Die ist auf Maß geschneidert, die kann ich doch nicht einfach verkaufen!«, empörte sich Leuven, atmete dann aber tief durch.

»Deine Kleidung ist sogar maßgeschneidert?«

»Natürlich, sonst könnte ich mir doch gleich einen Kartoffelsack überziehen.«, gab der junge Mann zurück und hielt sich ein rotes Hemd mit goldenen Stickereien vor die Brust.

»Nein, auch nicht«, sagte er schließlich und legte es zurück auf das Bett.

Evan entfuhr ein Seufzer. »Woher hast du die ganzen Sachen überhaupt?«

Leuven blickte kurz zu dem Halbdämon hinüber und beschäftigte sich dann wieder mit dem Zurechtlegen seiner Kleidung. »Ich sagte doch bereits, dass ich aus einer Kaufmannsfamilie stamme. Da muss man nach Außen natürlich dementsprechend aussehen.«

»Ich schätze mal Talent ist nicht zwingend notwendig.«

»Hey!«, prustete Leuven, »hätten mich die Stadtwachen nicht aufgehalten, dann hätte ich heute ein gutes Sümmchen gemacht, sei dir dessen bewusst.«

»Ich habe dir das Leben gerettet. Schon zum zweiten Mal. Wobei, wenn wir die Geschehnisse auf der Burg Haren mitzählen sind wir bei drei Malen.«

»In deinen Träumen vielleicht!«, gab der junge Mann zu verstehen.

»Willst du nicht doch ein paar deiner Stücke verkaufen? – Die trägst du wahrscheinlich eh nie«, sagte der Halbdämon schließlich im gelangweilten Ton, nachdem Leuven bereits das fünfte Hemd ablehnte.

»Vielleicht kann ich mich von dem einem oder anderem Stück trennen. Tatsächlich habe ich gut abgenommen, seitdem ich auf Reisen bin. Da passen mir einige sicherlich nicht mehr.«

»So, so, du hast also abgenommen?«

»Ob du es glaubst oder nicht!«, gab Leuven krächzend zurück und tauschte sein grünes Barrett gegen ein rotes aus, ehe er kopfschüttelnd wieder zum alten wechselte.

»Das ist gar nicht so einfach!«, murrte er und begutachtete kritisch die Kleidungsstücke auf dem Bett.

»Hast du heute denn noch etwas vor?«

»Wir sind in Rabensberg, der Hauptstadt von Brünnen. Abends soll es hier rauschende Feiern geben, hübsche junge Frauen, denen man das Bier direkt aus dem Ausschnitt trinken kann und …«

»und etliche Betrunkene, die dich ausrauben werden, so wie du herumläufst«, warf der Halbdämon grinsend ein. »Übertreib es nicht. Hier geht es genauso vor, wie in jedem anderen Drecksloch. Die Leute betrinken sich, feiern und wenn sie davon zu viel haben, dann wollen sie dir ans Leder. Ja, Abends geht es hier ausschweifend zu, aber glaub mir, da willst du lieber woanders sein.«

»Vielleicht teilst du diese Ansicht ja auch nur, weil du stets derjenige bist, der für Reibereien sorgt«, wandte Leuven ein und schaute Evan skeptisch an.

»Möglich«, gab dieser achselzuckend zurück. »Aber glaub mir, in dem Fummel schreist du praktisch danach ausgeraubt werden zu wollen. Kauf dir lieber etwas unauffälligeres. Vor allem da du viel auf den Straßen unterwegs sein wirst. Wegelagerer und Banditen gibt es in den Marschen und Wäldern wie Sand am Meer.«

»Ich komme schon klar, außerdem habe ich Gertrud. Sie ist wirklich eine besondere Stute.«

»Du nennst sie nicht ernsthaft Getrud oder?«

»Dann vielleicht Gertru-de?«

»Du hast sie doch nicht mehr alle!«

Schnaubend wandte sich Evan zum Fenster. »Die Sonne geht bald unter. Um Mitternacht habe ich mein Treffen bei der Kathedrale.«

»O, die Kathedrale!«, entfuhr es Leuven. »Die wollte ich schon immer mal sehen.«

»Du wirst aber nicht mitkommen«, entgegnete Evan.

»Wieso denn nicht?«

»Weil es für dich viel zu gefährlich ist. Außerdem war unser Treffen ein Zufall. Wie ich bereits sagte, unsere Wege trennen sich hier.«

»Vielleicht war es aber auch Schicksal«, wandte Leuven ein. »Ja, denk mal drüber nach. Das Schicksal hat uns zusammengebracht.«

»Red doch keinen Unsinn! – Das Schicksal ist ein Arschloch. Aber so fies wird es zu mir wohl auch nicht sein.«

»Du merkst aber schon, dass du gerade ein wenig meine Gefühle verletzt oder?«

»Ich verletze deine Gefühle?« Evan hob irritiert eine Braue. »Tut das etwa weh?«

»Natürlich tut das weh!«, schnaubte Leuven.

»Dann zieh die rote Weste da an. Dann wirst du heute Nacht merken, was richtige Schmerzen sind, wenn du auf der Straße dafür verprügelt wirst.«

»Was stimmt nicht mit dir? – Ich schreibe das mal deiner dämonischen Hälfte zu. Aber du solltest unbedingt lernen, was Freundlichkeit bedeutet.« Leuven verbarg seine Unzufriedenheit nicht.

»Du hast…«, Evan verstummte.

Seine Augen weiteten sich. Ein plötzlicher Blitzschlag durchzuckte seinen Kopf, schrill und unheilvoll. Panik stieg in ihm auf.

Sein Blick wanderte zurück zu dem Fenster, dann erschrak er und sprang auf Leuven zu, der hinter dem Bett stand. »Runter!«

Ein ohrenbetäubender Knall durchzerrte die Luft, gefolgt von dem schrillen Geräusch berstenden Glases. Scharfe Glassplitter wirbelten wie gefährliche Geschosse durch das Zimmer, begleitet von den entsetzten Schreien der Menschen draußen auf den Straßen.

Die Welt schien für einen flüchtigen Moment stillzustehen, nur um dann von einem tiefen, unheimlichen Schweigen durchzogen zu werden.

Evan hob seinen Kopf und wagte einen Blick über die Kante der Matratze.

Das Fenster und sein Rahmen waren zerstört, ein Trümmerfeld aus Staub und glitzernden Glassplittern breitete sich wie Schnee auf dem Holzboden aus.

Inmitten des verwüsteten Raumes kniete eine Gestalt, gehüllt in eine düstere Lederrüstung.

Eine massive Schulterplatte aus Metall zierte ihre linke Seite, und ihre Arme waren von schimmernden Armschienen bedeckt.

Der Kopf war gesenkt, von langen, schwarzen Haaren verhüllt.

Der Halbdämon umklammerte bereits den Griff seines Schwertes, entschlossen, sich zu verteidigen, als er aus der Deckung hinter dem Bett hervortrat.

Die mysteriöse Gestalt erhob sich und warf ihre Haare nach hinten.

In diesem Moment erkannte Evan, dass es eine Frau war, es sich bei ihr jedoch nicht um einen Menschen handelte. Graue Haut, spitz zulaufende Ohren und durchdringende gelbe Augen, die ihn unmittelbar fixierten.

Ihr langes, schwarzes Haar verhüllte die rechte Seite ihres Gesichts, während die linke Seite kahl rasiert war.

Das Schwert des Halbdämons glitt mit einem surrenden Klang aus der Scheide.

»Wer bist du?«, zischte Evan, seine Muskeln angespannt, bereit für den Kampf.

Die Frau wischte sich entschlossen die Scherben von ihren Armen und der stählernen Brustpanzerung, bewegte sich mit zielgerichteten Schritten näher.

Evan streckte ihr sein Schwert entschlossen entgegen. »Keinen Schritt weiter!«, warnte er.

Ihre gelblichen Augen durchbohrten ihn durchdringend, bevor sie einen flüchtigen Blick auf Leuven warf, der hinter dem Bett hockte, immer noch wimmernd.

»Gehörst du zu Rowan?«, fragte Evan mit Nachdruck und ließ sie keinen Moment aus den Augen.

Ein bedrohliches Leuchten erschien in den Augen der Frau. Ein zischendes Geräusch entwich ihren Lippen.

»Nun sprich schon!«, forderte Evan.

»Zum Reden ist keine Zeit!«, erwiderte die Frau bestimmt. »Du bist in Gefahr.«

»Gefahr? Warum sollte ich in Gefahr sein?«, hakte Evan nach, während er kurz den Griff seines Schwertes lockerte, um sich dann wieder zu besinnen und ihn fester als zuvor mit seinen Fingern zu umklammern.

»Du wurdest in eine Falle gelockt. Sie haben dir die Stadtwache auf den Hals gehetzt. Reicht dir das?«, erklärte sie hektisch. »Wir müssen hier sofort weg.«

»Zuerst will ich wissen, wer du bist!«, beharrte Evan.

Zitternd wagte Leuven einen Blick aus seinem Versteck hinter dem Bett und rief überrascht: »Evan, das ist eine Eldári!«

Ein Ausdruck der Verblüffung zeichnete sich auf Evans Gesicht ab.

»Eine waschechte Eldári!«, staunte Leuven. »Das ist ja kaum zu glauben.«

»Glaub es ruhig«, erwiderte die Frau mit einem Hauch von Stolz in ihrer Stimme.

Die Eldári waren eines der drei Urvölker, die den Kontinent bewohnten, ehe sich die Menschen dort ausbreiteten.

Mit der Zeit verblassten die Erinnerungen an sie und wurden nunmehr Teil der vielen Sagen und Legenden, die die Gelehrten und Schriftsteller niederschrieben.

Die meisten von ihnen hatten den Kontinent verlassen, doch tief in den unerforschten Regionen, hinter der Eisenmark, sollte es noch einige Stämme von ihnen geben.

War es einem Menschen vergönnt, einen Eldári mit eigenen Augen zu Gesicht bekommen, so galt dies allgemeinhin als schlechtes Omen.

Evan knirschte mit den Zähnen. »Und was macht eine Eldári in Rabensberg?«

Ihr Blick wurde ernst. »Das erzähle ich dir noch, aber vorerst müssen wir verschwinden.«

In diesem Moment drangen schwere Stiefelschritte auf dem Flur an ihre Ohren, gefolgt von einem lauten Klopfen an der Tür.

»Aufmachen, sofort!«, schallte es durch das Holz.

Die Eldári warf einen flüchtigen Blick zur Tür und wieder zu Evan. »Jetzt komm.«

Der Halbdämon schaute hektisch zwischen ihr und der Tür hin und her, die Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die Zeit drängte, und er musste eine schnelle Entscheidung treffen.

Die Frau begab sich zum zerstörten Fenster, erklomm die Fensterbank und sah über die Straße. »Schaffst du es, über diese Entfernung zu springen?«

Evan nickte, seinen Entschluss gefasst.

»Ich aber nicht, niemals!«, protestierte plötzlich Leuven, der sich aus seinem Versteck wagte.

Der Halbdämon blickte zu ihm hinüber. »Du wirst hier bleiben.«

»Was, ich kann doch nicht…«

Wieder hämmerte es an der Tür. »Wir kommen jetzt hinein!«, schallte es bedrohlich.

Mit einem kraftvollen Sprung überquerte die Eldári geschickt die Straße und landete auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes.

»Evan, du lässt mich doch nicht schon wieder alleine, oder?«, flehte Leuven mit ängstlichem Blick.

Der Halbdämon blickte in die wimmernden Augen des jungen Kaufmanns.

»Ich sagte doch, hier trennen sich unsere Wege. Mach’s gut.« Mit diesen Worten folgte er der Unbekannten.

Auf den Fenstersims gestiegen, sprang er geschickt hinüber auf das Dach.

Krachend fiel die Tür hinter Leuven aus den Angeln, und in einem kurzen Augenblick, kaum länger als ein Wimpernschlag, war er von Männern in grünen Wamsen und eisernen Brustpanzern umringt.

Erschrocken drehte sich Leuven herum.

Die langen Hellebarden blitzten bedrohlich vor Leuvens Gesicht auf.

»Habt ihr sie?«, donnerte Heidenreich mit rauer Stimme, als er das Zimmer mit schweren Schritten betrat.

»Hier ist sie nicht, Herr Hauptmann!«, meldete sich einer der Wachen zu Wort und klopfte mit dem unteren Ende seiner Hellebarde auf den Holzboden.

»Verdammt, wo ist sie hin?«, entfuhr es Heidenreich. Eine Ader auf seiner Stirn pochte aufgeregt.

»Sie ist, sie ist«, stammelte Leuven und erhob zitternd seinen Zeigefinger, »da entlang!«

»Was?«, Heidenreich wandte sich umher. Der junge Kaufmann zeigte auf die Tür. »Von dort kommen wir, was faselt Ihr da?«

»Ach, ach so«, sagte der junge Mann und ließ die Hand wieder nach unten gleiten.

Heidenreich kam ihm bedrohlich nahe. »Was ist geschehen?«

Leuven stammelte einige unverständliche Worte vor sich hin. Dann erkannte er die beiden Stadtwachen, die hinter dem Hauptmann standen.

Sie waren es, die ihn zuvor beschuldigt hatten, Hehlerware zu verkaufen und nach einer nicht existierenden Lizenz gefragt hatten.

Die beiden Wachen starrten sich überrascht an.

Leuven überlegte kurz, sollte er dem Hauptmann davon erzählen und die Aufmerksamkeit von sich ablenken? Würden sie die Geschichte vielleicht so drehen, dass er selbst in Schwierigkeiten kommen würde?

Heidenreich wandte sich ab. »Das hat keinen Sinn«, sagte er mürrisch.

Weder Leuven noch die beiden korrupten Stadtwachen gaben einen Ton von sich.

»Auf die Straße, sofort!«, spuckte der Hauptmann. »Sie darf uns nicht entwischen!«

»Und was machen wir mit ihm?«, fragte einer der Wachmänner und deutete auf Leuven.

Heidenreich musterte den jungen Mann kurz und schüttelte dann seinen Kopf. »Der wird uns nicht weiterhelfen. Der faselt nur Unsinn.«

Die Wachen gehorchten dem Befehl des Hauptmanns und folgten ihm hinaus auf den Flur.

Kurz seufzte Leuven erleichtert, ehe er die ganzen Scherben auf dem Boden vernahm. »Na toll, dafür werde ich aber nicht bezahlen.«

Evan und die geheimnisvolle Eldári schlichen sich geschickt über die schrägen Dächer von Rabensberg, während neugierige Blicke einiger Schaulustiger auf sie trafen.

»Verrätst du mir endlich, wer du bist?«, erkundigte sich Evan, als sie in einer dunklen Gasse nach vorübergehendem Schutz suchten.

»Ich bin Sarra«, antwortete die Frau knapp und spähte vorsichtig durch die düstere Gasse.

»In Ordnung, Sarra. Und weshalb bist du so eindrucksvoll durch das Fenster gesprungen?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass du in eine Falle getappt bist«, knurrte sie zurück. »Blöderweise hat die Stadtwache mich entdeckt. Mir blieb keine andere Wahl, sonst wäre ich diskreter vorgegangen.«

»Und in wessen Falle bin ich getappt?«

Sarra verdrehte seufzend die Augen. »Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist, dass es sich um Rowans Leute handelt.«

Evan schrak auf. »Rowan?«

»Ja, Rowan. Du warst nicht gerade vorsichtig dabei, nach Informationen über seinen Aufenthaltsort zu fragen. Er hat bereits seine Leute nach dir ausgeschickt, und wenn du Rabensberg nicht sofort verlässt, wird das böse enden. Entweder die Stadtwache kriegt dich, oder Rowans Leute veranstalten ein Massaker. So oder so, du bist nicht nur in Gefahr, sondern auch eine Gefahr für andere«, erklärte sie, während ihre Blicke nervös hin und her wanderten. »Verschwinde und lass von Rowan ab.«

»Niemals!«, spuckte Evan und trat ihr entschlossen entgegen. »Ich werde nicht aufgeben, ehe ich seinen Kopf habe!«

»Schrei nicht so herum«, zischte Sarra und schaute den Halbdämon finster an. »Und vor allem, sei nicht so dumm. Du kannst allein nichts gegen Rowan ausrichten. Er hat viel zu viele Leute unter sich. Die haben dich, ehe du auch nur eine richtige Spur hast, wo sich Rowan befinden könnte. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, und du bist mit Posaunen und Trompeten heranmarschiert.«

»Ich suche schon eine halbe Ewigkeit nach ihm.«, antwortete der Halbdämon und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das hat er mitbekommen«, erwiderte Sarra. »Seine Männer warten nur darauf, dass du unvorsichtig wirst, und das bist du geworden, indem du nach Rabensberg gekommen bist. Allein dein Auftreten in Haren hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt.«

»Mein Auftreten in Haren? Was hat das denn damit zu tun? – Woher weißt du überhaupt davon?«

»Du kannst von Glück reden, dass du dort lebendig herausgekommen bist.«

»Unsinn«, sagte Evan. »Ich gebe zu, am Anfang habe ich den Hintz unterschätzt, aber davon lasse ich mich nicht abhalten.«

Sarra schaute ihn mit großen, irritierten Augen an. »Der Hintz? – Von dem rede ich doch gar nicht. Rowan ist dir schon eine Weile auf der Spur und zieht die Strippen. Genau dasselbe ist in Haren passiert. Der Lord ist tot. Getötet von einem seiner Schergen.«

»Wie bitte?«, Evan wurde bleich im Gesicht. Noch bleicher, als er ohnehin schon war. »Als ich die Burg verließ, lebte der Lord noch.«

»Ein Mann namens Wenzel ist dafür verantwortlich. Ich weiß nicht viel über ihn, aber er ist einer der engsten Vertrauten von Rowan. Er ist gut darin, seine Spuren zu verwischen. Ehe ich die Burg erreichen konnte, war es leider schon zu spät.«

Evan wirkte nachdenklich. »Wäre ich doch nur länger dort geblieben.«

»Dann hätten sie dich wohl ebenfalls getötet«, gab Sarra zurück.

Die Eldári lugte immer wieder aus der Gasse hervor, aus Furcht vor der Stadtwache.

»Verdammt!«, brüllte der Halbdämon und schlug wütend auf eine Kiste. »Er hätte mich direkt zu diesem Mistkerl führen können.«

»Komm mal runter«, stöhnte Sarra. »Viel wichtiger ist, dass du hier nicht sicher bist. Denn in den höheren Kreisen hat sich herumgesprochen, dass ein Dämon namens Evan Dhorne dafür verantwortlich ist, was in Haren passiert ist.«

»Was? – Ich habe damit nichts zu tun. Das können die Bediensteten vom Hof auch bestätigen.«

»Haben sie aber nicht. Dein Name ist jetzt gebrandmarkt.«

»Und was interessiert es dich?«

Sarra stöhnte auf. »Ich bin sehr gut darin, mich bedeckt zu halten. Je mehr du aber wie ein Berserker durch die Gegend stürmst, desto vorsichtiger werden Rowans Leute, und das erschwert es mir erheblich, ihnen auf der Spur zu bleiben.«

Evan verzog das Gesicht.

»Das tut mir aber leid, dass ich dein Leben schwerer mache«, gab er sarkastisch zurück.

»Sei froh, dass ich dich warne. Rowans Leute sind auch in Rabensberg. Wäre ich nicht aufgetaucht, wärst du ihnen fröhlich in die Falle gelaufen.«

»Das ist doch Schwachsinn!«

»Ach ja?«, sie verschränkte die Arme. »Weshalb bist du dann in Rabensberg?«

»Ich… nun ja«, stammelte Evan. Er fühlte sich ertappt. Er hasste es.

»Sie wollen dich loswerden. Also, sag schon, weshalb bist du noch in der Stadt?«

»Nun, meine Kontaktperson hat mir von einem Auftraggeber berichtet. Dieser möchte mich um Mitternacht in der Kathedrale treffen.«

»In der Kathedrale? – Welch Ironie. Eine heilige Stätte der Menschen mit deinem Blut zu beschmieren, das würde Rowan sicher sehr gefallen. Wie verlässlich ist deine Quelle?«, wollte Sarra wissen.

»Nun, sie stammt von einem geldgierigen, halsabschneiderischen und hinterlistigen Gauner. Wie verlässlich kann da eine Quelle schon sein? – Aber er weiß, dass ich ihm im Schlaf die Kehle durchtrenne, wenn er mich verarscht und da ich dies bereits fast getan habe, überlegt er es sich viermal, ob er mich wieder belügt.«

Plötzlich hielten beide inne und spitzten ihre Ohren.

In der engen Gasse hallten Schritte wider. Evan und Sarra, vertieft in ihr Gespräch, bemerkten die Gefahr zu spät.

Erschrocken blickte Sarra auf den Lichtkegel, der von der Hauptstraße einfiel.

Eine dunkle Silhouette erschien und verdunkelte den kleinen Bereich der Gasse, der noch vom fahlen Sonnenlicht erhellt wurde.

Die Schritte hallten näher, und plötzlich trat eine imposante Gestalt aus dem Schatten der Gasse.

Es war Heidenreich. Sein Schwert, das bedrohlich aufblitzte, hielt er fest im Griff.

Evan schaute ihn ernst an, während Sarra die Umgebung analysierte, auf der Suche nach einem möglichen Ausweg.

Heidenreichs Augen funkelten gefährlich, als er die beiden finster ansah.

»Die Eldári und der Dämon, beide an einem Fleck. Das passt mir sehr gut“, sagte er mit dröhnender Stimme, sein Blick zwischen Evan und Sarra hin und her wandernd.

Sein Schwert hielt er fest umklammert, bereit für eine Konfrontation.

Evan trat ein paar Schritte vor, sein Blick ruhig und entschlossen. »Was wollt Ihr von uns? – Wir haben nichts getan.“

Heidenreichs Miene verfinsterte sich noch mehr. „Nichts getan? – Ihr seid für den Mord an Lord Johann Dancker verantwortlich. Dafür wird Euch die gerechte Strafe ereilen.«

Evan zögerte einen Moment, während Sarra weiterhin die Umgebung im Auge behielt. »Das ist mir bereits zu Ohren gekommen. Ich muss Euch aber sagen, dass diese Gerüchte nicht wahr sind. Ich habe mit seinem Tod nichts zu tun. Irgendjemand versucht mir das anzuhängen.“

Heidenreich trat einen Schritt näher, sein Schwert immer noch erhoben. „Unsinn. Versucht nicht, mich zu belügen. Es gibt unzählige Zeugen, die Euch als Täter bestätigt haben. Wehrt Euch nicht.“

Evan spürte die Anspannung in der Luft, aber er blieb ruhig. „Verzeiht mir, aber das werde ich nicht tun. Es geht etwas Großes vor, irgendjemand hat mir eine Falle gestellt und dem werde ich auf den Grund gehen.“

Heidenreichs Augen funkelten vor Entschlossenheit. »Kommt mit mir. Ansonsten zwingt Ihr mich andere Maßnahmen zu ergreifen.“

Evans Hand wanderte langsam zu seinem Schwertgriff, während sich weitere Gestalten im fahlen Licht der Gasse zeigten.

Ein halbes Dutzend Stadtwachen trat nun ebenfalls aus dem Dunkel hervor, ihre Armbrüste auf Evan und Sarra gerichtet.

»Kommt mit mir“, wiederholte Heidenreich mit unerschütterlicher Entschlossenheit, „dann können wir das Ganze ohne Blutvergießen klären.«

Sarra’s Hand legte sich schwer auf Evans Schulter. Ihre Augen blitzten auf, als sie auf eine Kiste und dann auf den darüberliegenden Fenstersims deutete.

In einem fließenden Bewegungstanz sprang sie auf die Kiste und katapultierte sich dann geschickt auf den Fenstersims, bevor sie mit federnden Schritten das hinüberliegende Dach erklomm. Ein stummer Appell lag in ihrem Nicken an Evan, ihr zu folgen.

Heidenreichs Schwert durchschnitt die Stille, als er es bedrohlich nach vorn streckte und gespannt auf eine Reaktion des Halbdämons wartete. Als jedoch keine Antwort kam, stürmte er entschlossen voran. Seine schweren Stiefel donnerten auf das Pflaster der Gasse.

Evan, vom Adrenalin beflügelt, sprang mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Torheit auf die Kiste, um Sarra zu folgen.

Geschmeidig wie eine Raubkatze balancierte er auf dem schmalen Fenstersims, bevor er sich mit einem kraftvollen Satz auf das gegenüberliegende Dach katapultierte.

In dem Augenblick, als Heidenreich mit zornverzerrtem Gesicht und erhobenem Schwert auf den Halbdämon zustürmte, durchschnitt das Surren eines Armbrustbolzens die Luft.

Ein scharfer Windhauch streifte Heidenreichs Wange, als der Bolzen knapp an ihm vorbeisauste.

Einer der Stadtwachen hatte einen Schuss abgefeuert, ohne auf den Befehl des Hauptmanns zu warten.

Ein stechender Schmerz durchzuckte Evans Bein.

Mit aller Kraft konnte er sich auf das Dach retten und ließ sich darauf niederfallen.

Sarra eilte zu Evan und half ihm auf, während sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war und eine blutige Wunde an seinem Bein klaffte.

Ihre Augen füllten sich mit Sorge, als sie den Zustand des Halbdämons erfasste.

Heidenreichs Zorn loderte wie eine Flamme in der Dunkelheit.

Seine Augen durchbohrten jeden der Stadtwache, während er mit dröhnender Stimme fragte: »Wer hat geschossen?“

Die Stadtwachen tauschten nervöse Blicke aus, ihre Gesichter von Angst gezeichnet.

Ein Schweigen legte sich über die Gruppe, niemand wollte die Schuld auf sich nehmen, aber auch nicht auf jemand anderen schieben.

»Vollidioten!«, polterte der Hauptmann, »habe ich den Befehl dazu gegeben?«

Wutentbrannt bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Begleitet von den ängstlichen Blicken der Wachen.

___________

Ein enttäuschter Seufzer entfloh Leuven, als er seinen Sack mit seinen Kleidern in seinem Karren verstaute.

Nicht nur, dass der Gastwirt die Vorauszahlung für das Zimmer einbehalten hatte, nein, er forderte auch eine Entschädigung für das kaputte Fenster und wies den jungen Mann des Hauses.

All das Geld, was er zuvor von Evan erhalten hatte, war somit verloren.

Mit trauriger Miene wanderte er zu seiner Stute und strich ihr über die weiche Mähne. »Ach, mein Mädchen, mir war wirklich kein Glück vergönnt. Ich hatte mir das Ganze einfacher vorgestellt.«

Leuven stand da, den Blick auf seine treue Stute gerichtet, und sein Herz war schwer vor Zweifeln.

Der Wind trug die Sorgen der Welt mit sich, während er überlegte, wie er hierher gelangen konnte – an diesen Punkt, an dem sein letzter Besitz, den er im Karren hatte, kaum mehr als Erinnerungen und Enttäuschungen barg.

»Habe ich einen Fehler begangen?«, murmelte er, die Worte kaum mehr als ein Flüstern im wehenden Wind.

Seine Finger glitten durch die weiche Mähne der Stute, als suchte er nach Trost in der Verbundenheit zu seiner einzigen Begleiterin in dieser rauen Welt.

Er redete sich immer wieder ein, dass es die richtige Entscheidung war, doch mit jedem neuen Tag häuften sich die Zweifel.

Ein ständiges Verlangen nach der Ferne hatte sein Herz getrieben, und die Sehnsucht nach Unabhängigkeit war seine Wegweiserin gewesen. Doch nun, da er hier stand und von der Welt um ihn herum kalt und rau empfangen, plagten ihn Selbstzweifel.

»Was rätst du mir?«, fragte er leise sein Pferd, in der Hoffnung, sie würde ihm tatsächlich antworten.

Seine Hand verharrte auf der seidigen Mähne der Stute, die ruhig neben ihm stand, als könne sie seine Unsicherheit spüren.

Ein Hauch von Wehmut lag in Leuvens Augen, während er sich an die Menschen erinnerte, die er hinter sich gelassen hatte.

Plötzlich durchzuckte ihn der Gedanke an seinen Vater, eine harsche Person, zu der Leuven nie einen Zugang gefunden hatte.

Zeit seines Lebens standen für seinen Vater Pflichten im Vordergrund, nie das, was Leuven sich wünschte, nie die Zuneigung, nach der er sich so sehr sehnte.

Leuven atmete tief durch, als er sich an die Momente erinnerte, in denen er vergeblich nach einer Spur von Zuwendung seitens seines Vaters gesucht hatte.

Die Pflicht hatte eine Mauer zwischen ihnen errichtet, und Leuven hatte sich stets gefragt, welche Gefühle sich hinter der Mauer verbargen, die sein Vater errichtet hatte.

»Sollte er wirklich Recht behalten?«, flüsterte Leuven leise, als ob er auf eine Antwort hoffte, während er seinen Blick schweifen ließ.

Die unzähligen Stadtbewohner, die durch die Straßen schlenderten, schienen so frei von schlechten Gedanken. Kein Gedanke des Schmerzes schien sie in diesem Moment zu plagen.

Dann hörte Leuven den Aufschrei eines kleinen Kindes und wurde aus seinen Gedanken gerissen.

Er beobachtete, wie ein Mann, kaum älter als er selbst, seine Tochter auf den Arm nahm und sie tröstete, nachdem sie auf dem harten Steinboden gestürzt war.

Die Mutter kam hinzu, gab ihrem Kind lächelnd einen Kuss auf die Stirn.

Wie verzaubert wandelte sich das aufgeregte Weinen in ein warmes, zufriedenes Kichern.

Es war lange her, dass Leuven diese Wärme und Geborgenheit spüren konnte.

Er blickte seufzend zu seiner Stute.

Seit Tagen suchte Leuven nach einem passenden Namen für sie. Nun hatte er einen gefunden: „Ida“.

Der Name trug eine gewisse Tiefe in sich, eine persönliche Bedeutung, die Leuven tief im Herzen bewegte.

Ein zartes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er den Namen aussprach.

»Ida«, wiederholte er flüsternd, während er mit einem wehmütigen Lächeln ihre Mähne streichelte.

Die Stute schien den Namen anzuerkennen, und Leuven spürte eine wohltuende Verbundenheit.

Der Name, von anderen nur als Klang wahrgenommen, trug eine Last vergangener Erinnerungen, die Leuven nun still in seinem Herzen bewahrte.

Er begab sich erneut zu dem angespannten Wagen und schob die Plane beiseite.

Sein Blick ruhte auf den Kisten, die die kostbaren Waren bargen, von denen er sich erhoffte, ein Leben in Ruhe und Bedachtsamkeit aufbauen zu können.

Er zog seinen Reisesack wieder hervor.

»Es fällt mir schwer, es zuzugeben.« Der junge Mann wandte sich wieder an sein Pferd, »aber ich denke, Evan hat recht. Wenn ich nicht bereit bin, mich von diesen Dingen zu trennen, werde ich niemals wirklich frei sein.«

Ida antwortete mit einem sanften Wiehern, eine Bestätigung, die der junge Händler mit Dankbarkeit aufnahm.

Doch plötzlich fiel ihm ein zweiter Sack ins Auge. Nach einer kurzen Überlegung holte er ihn hervor.

»Der gehört doch Evan!«, merkte Leuven erschrocken an. »O je, in der Eile hat er ihn vergessen.«

Er blickte Ida mit tiefhängenden Augen an.

»Ich wette, er wird mir die Schuld in die Schuhe schieben. Dabei war er es doch, der einfach verschwunden ist. Ich kehre bald zurück, und dann verlassen wir diese Stadt. Sie beginnt, mich mehr und mehr an meine Heimat zu erinnern«, erklärte Leuven, schwang seinen Reisesack über die Schulter und verschwand in der geschäftigen Menge, die die Straßen säumte.

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