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Kapitel 2: Jäger und Gejagte

Beschreibung: Evan und Leuven haben die Burg Haren verlassen. Auf ihrer beschwerlichen Reise zur Hauptstadt Rabensberg wird Leuven erst wirklich bewusst, in welch gefährliche Welt er sich gewagt hat. Doch auch, wenn er gehofft hatte, sich weiterhin in der Sicherheit, die Evan ihm bot, wähnen zu können, hat dieser andere Pläne. Ihre Wege trennen sich, denn der Halbdämon bereitet sich auf ein Treffen mit einem alten Bekannten vor.

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Teil 3

Jenseits der schmutzigen und übel riechenden Gassen des Armenviertels erhob sich auf der gegenüberliegenden Seite von Rabensberg das prächtige Schloss.

Es diente nicht nur als Residenz von König Regrat, sondern galt auch als ein Monument der Ewigkeit.

Gleichzeitig symbolisierte es den immensen Reichtum des Königreichs Brünnen sowie die tief verankerte Klassenschichtung.

Niemand, der nicht auf Geheiß des Königs eingeladen war, konnte an den Wachen vorbeikommen, und selbst wenn, dann nur in Ketten, um sein jämmerliches Schicksal im Kerker des Schlosses zu finden.

Vier majestätische Türme aus hellem Stein, gekrönt von spitzen Ziegeldächern, erhoben sich stolz gen Himmel und warfen ihre Schatten in den prächtigen Vorgarten. Dieser beherbergte eine Fülle verschiedenster Pflanzenarten, darunter Rittersporn und Zypresse.

Ein kleiner Teich, überquert von einer eleganten Holzbrücke, schmückte den Innenhof, umgeben von einem Blütenmeer aus Lavendel – der persönlichen Lieblingsblume der Königsmutter.

Doch das wahre Juwel des Schlosses offenbarte sich im imposanten Haupthaus mit seinen hohen, dunklen Fenstern und dem kunstvoll verzierten Eingangstor, das vier Meter in die Höhe ragte.

Im vierten und höchsten Stockwerk befand sich das Arbeitszimmer des Königs, das einen direkten Blick auf den Stadtkern von Rabensberg gewährte.

Hector Heidenreich, der Hauptmann der Stadtwache verharrte vor der prunkvollen Tür zum Arbeitszimmer.

Er richtete seine Uniform, die im gleichen Grünton erstrahlte wie die Flagge von Brünnen. Ein massiver Brustpanzer, dazu Arm- und Beinschienen, komplettierten seine Ausrüstung. Dieselbe, die auch von den übrigen Stadtwachen getragen wurde.

Als Hauptmann genoss er zwar einen höheren Rang, doch das schien ihn wenig zu interessieren und so trug er weder seine Abzeichen, noch eine pompöse Rüstung.

Er legte großen Wert darauf, dieselbe Uniform und Rüstung wie seine Untergebenen zu tragen.

Es schuf eine Verbundenheit, die über den reinen Dienstrang hinausging und eine Vertrauensbasis zwischen ihm und seinen Stadtwachen aufbaute. So hoffte er zumindest.

Heidenreich war ein breitschultriger Mann mit gepflegten weißen Haaren, gekürztem, ebenso weißem Bart und maskulinen Wangenknochen.

Trotz seines Alters von Anfang vierzig, war er bei den jungen Damen in der Stadt sehr beliebt.

Seine kraftvolle Aura und sein selbstbewusstes Auftreten beeindruckte fast jede Frau, von der Dirne bis zur Anstandsdame.

Heidenreich atmete tief durch.

Trotz seiner äußeren Härte spiegelten sich Unsicherheit und ein Hauch von Nervosität in seinen Augen wider.

Das ungewohnte Gefühl, gleich persönlich mit dem König zu sprechen, löste eine innerliche Anspannung aus, die er jedoch gekonnt hinter einer Fassade aus Selbstbewusstsein und Stärke verbarg.

Sein Blick verriet die Entschlossenheit, die dieser ungewöhnliche Schritt erforderte, während seine Körperhaltung Standhaftigkeit ausstrahlte.

Eine Audienz beim König war auch für jemanden seiner Stellung eine Seltenheit.

Tatsächlich begleitete er bisher nur zwei Bankette und drei öffentliche Reden, bei denen er dem Monarchen nie näher als fünf Meter kam und jetzt wurde er höchstpersönlich vom König bestellt.

Seit zwei Jahren regierte König Regrat über Brünnen, nachdem dessen Vater verstorben war und er als erstgeborener Sohn den Thron bestieg.

Die Jugend und Unerfahrenheit des Monarchen spiegelten sich in seinem aufbrausenden Temperament und fragwürdigen Entscheidungen wider.

So ging in der ganzen Stadt das Gerücht um, der König habe eine Dienstmagd aus der Stadt verband, weil diese Suppe verschüttet hatte.

Beweise für diese Geschichte konnte niemand liefern, aber nur die wenigsten zweifelten die Glaubwürdigkeit an.

Im Gegensatz zu dessen Vater, war König Regrat nicht sonderlich beliebt unter seinen Untertanen.

Heidenreichs Herz klopfte in seiner Brust, als zwei Wachen die Flügeltür zu dem Arbeitszimmer öffneten und ihm vielsagend zunickten. Er ließ sich keinerlei Aufgeregtheit anmerken.

Es war wichtig, keine Schwäche zu zeigen, auch nicht vor dem König. Aber Respekt und Anstand waren die Worte, die er immer wieder in seinem Kopf wiederholte.

Mit aufrechtem Rücken und im gleichmäßigen Takt betrat Heidenreich das Arbeitszimmer.

Sein Blick fiel auf unzählige Bücherregale, kunstvolle Skulpturen und Gemälde, die die Wände zierten.

Hinter einem massiven Schreibtisch aus Eichenholz erstreckte sich ein großes Fenster, das einen bezaubernden Ausblick auf den Garten und über die Dächer der Hauptstadt bot.

Der König hatte die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, ließ seinen Blick hinaus schweifen und bewunderte die lebhaften Farben der Blumen im Vorhof des Schlosses.

Der Hauptmann erwartete den König in einem reich besticktem Mantel oder irgendeinem bunten Fummel, wie er sie auf offiziellen Banketten oder Reden trug, aber er präsentierte sich an diesem Tag, zu diesem vertraulichem Gespräch in einem beigen Hemd mit Rüschen an Kragen und Ärmeln und einer engen, schwarzen Hose.

Er wirkte auf ihn eher wie ein Degenschwingender Abenteurer als der Regent eines der mächtigsten Reiche des Kontinents.

Der König trug kurze, schwarze Haare und einen gepflegten Spitzbart, der in Verbindung mit seinem düsteren Blick ihm eine fast diabolische Erscheinung verliehen.

»Heidenreich. Richtig?«, erklang König Regrats leise, kratzige Stimme.

»Ich danke Euch für diese Einladung«, erwiderte der Hauptmann mit seiner harten, kernigen Stimme.

»Setzt Euch«, sagte Regrat und drehte sich zu Heidenreich um. »Ihr fragt Euch sicher, weshalb ich Euch rief.«

Der Hauptmann spürte, dass der König tief in Gedanken versunken war. Die runzlige Stirn und die übermüdeten Augen deuteten auf etwas äußerst Wichtiges hin.

Dennoch entschied sich Heidenreich, vor dem Schreibtisch stehen zu bleiben. »Ich danke Euch, Euer Gnaden. Aber ich bleibe lieber stehen.«

»Herr Heidenreich«, räusperte sich der König. Seine Worte schienen schwere Lasten zu sein, die mühsam ihren Weg durch sein inneres Gedankenlabyrinth suchten. „Ich ließ Euch rufen, weil mein Vater sehr große Stücke auf Euch hielt.«

Ein Hauch von Sturheit umgab Heidenreichs Antwort. „Euer Vater war ein großer Mann, Euer Gnaden. Es war mir eine Ehre, ihm zu dienen, genauso wie es mir eine Ehre ist, Euch zu dienen.“

Der Monarch winkte ab. „Lassen wir dieses Geplänkel.“

Zu Heidenreichs Verwunderung wirkte der König ungewöhnlich nervös – ein Bruch mit seiner sonst so souveränen Erscheinung in der Öffentlichkeit.

Etwas stimmte nicht. Nie hätte Heidenreich erwartet, dass der Herrscher des Königreichs sich derart vor ihm zeigen würde.

»Wie kann ich Euch dienen?«, erkundigte sich Heidenreich, unsicher, wie er mit der Art des Königs umgehen sollte.

Doch rasch änderte sich die Aura des Monarchen. Plötzlich wirkte er gefasst, seine Autorität wiederhergestellt.

»Mein Vater hat viel Lob über Euch ausgesprochen«, fuhr der König fort, das Kinn erhoben, als hätte er gerade erkannt, dass er sein Bild als Herrscher wahren müsse. „Ihr müsst eine Aufgabe für mich erledigen.«

»Mein Schwert gehört Euch, mein König«, erwiderte Heidenreich.

Regrat wandte sich wieder dem Fenster zu, und Heidenreich konnte seine bebenden Lippen in der Spiegelung erkennen.

»Mich haben beunruhigende Nachrichten erreicht“, sprach der König, ohne sich umzudrehen. „Ihr kennt sicher die Burg Haren?«

»Natürlich, Euer Gnaden. Die Familie Dancker führt sie seit Generationen als Lehen.«

»Nicht mehr«, erwiderte der König ruhig, aber bestimmt.

Verwirrung überzog Heidenreichs Gesicht. Die Familie Dancker war seit Jahrhunderten ein treuer Vasall des Königs. Was konnte dazu geführt haben, dass sie dieses Anrecht verloren hatte?

Regrat fuhr fort. „Berichten zufolge hat ein Dämon die Burg Haren befallen. Nicht nur Bedienstete, sondern auch Lord Johann Dancker und seine Gattin fielen diesem zum Opfer.«

Ein Hauch von Empörung durchzog Heidenreichs Stimme. „Ein Dämon? Wie ist das möglich?«

Schnell beruhigte er sich, räusperte sich.

»So wurde es mir berichtet. Augenzeugen gibt es ebenfalls.«

Der König drehte sich zu dem Hauptmann um. »Ein Dämon namens Evan Dhorne soll die Burg mit einem schrecklichen Fluch belegt haben.«

Regrat zeigte auf einen Brief auf seinem Schreibtisch. »Der Kammerdiener des Lords hat mir diesen Brief zukommen lassen. Lest ihn.«

Heidenreich lehnte sich vorsichtig vor, nahm den Brief an sich und las ihn aufmerksam durch.

»Euer Gnaden«, sagte er schließlich mit aufgebrachter Stimme. »Kann das wirklich wahr sein?«

»Es wäre ein großes Vergehen, den König zu belügen«, erwiderte Regrat.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es einem Dämon gelingen sollte, in die Hauptstadt zu gelangen. Meine Männer haben ihre Augen und Ohren überall.« Der Hauptmann faltete den Brief zusammen und legte ihn auf den Tisch. „Wenn es jedoch Euer Befehl ist, mich dieser Sache anzunehmen, werde ich selbstverständlich Eurem Befehl nachkommen.«

Der König biss sich auf die Lippe und stemmte die Hände auf seinen Schreibtisch. »Tut alles, was nötig ist!«

Zeigte der König nun sein wahres Gesicht? Seine Stimme bebte. »Ich werde nicht zulassen, dass solch eine Bestie in meiner Stadt, in meinem Königreich frei herumlaufen kann!«

»Selbstverständlich, Eure Majestät«, entgegnete Heidenreich. „Soll ich die Dämonenjägergilde kontaktieren?«

»Nein!« brüllte der König. Dann beruhigte er sich und senkte seine Stimme. „Nein. Diese Sache muss äußerst diskret behandelt werden. Es ist mir egal, was diese Bande von Rumtreibern vor den Stadttoren treibt, aber ich werde nicht zulassen, dass sie Verunsicherung in der Bevölkerung stiften.«

»Ich verstehe. Ich werde meine Männer vorbereiten.«

»Denkt daran, es ist von äußerster Wichtigkeit, dass Ihr diskret vorgeht.«

»Selbstverständlich, Eure Majestät.«

»Da ist noch etwas.“ König Regrat erhob sich. „Berichten zufolge wurden in den Umlanden Eldári gesichtet.«

»Eldári, mein Herr?“ Heidenreich war verdutzt. „Ich wüsste nicht, warum sich Eldári in diesen Landen aufhalten sollten.«

Der Monarch legte die Stirn kraus. „Ich halte es ebenfalls für unwahrscheinlich. Aber geht bitte auch diesen Gerüchten nach und zerstreut sie.«

Er tippte nervös mit den Fingern auf der Schreibtischplatte, erzeugte dabei ein rhythmisches Geräusch. »Welch unglückselige Zeiten wir doch haben. Ein Dämon sucht die Hauptstadt heim, die Eldári zeigen sich, der Lord von Dannenbrück plagt mich wegen des Verschwindens seines Kindes, und das Cardíz Imperium…«

Der König zog die Mundwinkel herunter und schüttelte den Kopf. „Als Herrscher muss man manchmal unbequeme Entscheidungen treffen, und die Bedrohung aus dem Osten macht es mir nicht einfacher. Mein Vater regierte in Friedenszeiten. Ich muss eine deutlich härtere Hand führen. Zeigen wir dem Cardíz Imperium auch nur den Hauch einer Schwäche, und sie werden es ausnutzen.«

»Mein König, auf Euren Schultern ruht das Schicksal eines ganzen Königreichs. Das ist die schwerste Aufgabe, die man sich vorstellen kann. Solange wir jedoch auf die Friedensverträge vertrauen können, die Euer Großvater ausgehandelt hat…«

»Schwachsinn!« Der König spuckte die Worte aus. »Ich werde mich sicher nicht auf ein Stück Papier verlassen, das vor sich dahinrottet. Ich spüre, dass sich im Osten etwas zusammenbraut.«

»Euer Gnaden, seid versichert, dass das Heer…«

Der König unterbrach ihn. »Herr Heidenreich, erledigt diese Aufgabe zu meiner Zufriedenheit, und ich könnte mir vorstellen, dass Euch ein hoher Posten im Heer erwartet.«

Heidenreich verbarg seine Überraschung geschickt.

»Ich dankte Euch, Euer Gnaden«, erwiderte er ohne eine Miene zu verziehen.

»Nun geht, bereitete Euch vor. Ich wollte dieses Gesindel nicht in meiner Stadt haben.« Der König machte eine vielsagende Handbewegung und starrte wieder aus dem Fenster hinaus.

Der Hauptmann verneigte sich ehrfürchtig und verließ das Zimmer.

______________

In der Zwischenzeit fand Evan einen Ausweg aus dem Armenviertel.

Über das Dach eines heruntergekommenen Wohnhauses gelangte er geschickt über die Mauer, die das Armenviertel vom Rest der Stadt trennte, in das Handelsviertel.

Das Glück war auf seiner Seite, denn er wurde von niemandem bei seinem waghalsigen Manöver entdeckt.

Nach einem kühnen Sprung landete er auf dem Dach eines Lagerhauses, wobei einige Dachziegel mit lautem Getöse auf die Straße hinunterfielen.

Glücklicherweise war zu dieser Zeit niemand anwesend, und niemand wurde verletzt. Die Arbeiter schenkten dem Vorfall wenig Beachtung – in diesem Viertel herrschte ohnehin ständiger Lärm.

Zwischen zwei Gebäuden setzte Evan schließlich auf der Straße auf.

Er zog seine Kapuze tief ins Gesicht und wandte sich den verschlungenen Gassen zu.

Hin und wieder begegnete er Passanten, doch deren Aufmerksamkeit galt nicht dem Halbdämon. Sie waren zu sehr in ihre Arbeit vertieft.

Einige Männer trugen schwere Lasten von einem zum anderen Ort und andere bedienten hölzerne Kräne, um Frachten durch Dachöffnungen zu hieven.

Die Wachen in der Nähe schenkten dem hektischen Treiben kaum Beachtung.

Gelangweilt lehnten sie an der Steinmauer und führten belanglose Gespräche.

Evan lauschte kaum den Fragmenten ihrer Unterhaltungen und schritt zielstrebig in Richtung des Marktviertels, stets darauf bedacht, dass seine Kapuze sein Gesicht verbarg.

Die eng aneinandergereihten Fachwerkhäuser ragten wie Geschichten vergangener Zeiten empor.

Ihre kunstvoll verwobenen Holzbalken und durchbrochenen Wände verliehen der Szenerie eine malerische Silhouette.

In den schmalen Gassen wirkte jede Ecke wie ein Kapitel aus einem längst vergessenen Märchen, während die sonnenverwöhnten Fassaden die Geschichte der Stadt in jedem Detail zu erzählen schienen.

Über den lebhaften Straßen der Stadt spannten sich Wäscheleinen von Haus zu Haus.

Einige Passanten murrten missmutig, als sie von ein paar Tropfen der feuchten Wäsche überrascht wurden.

Das Marktviertel bildete einen markanten Kontrast zum Armenviertel.

Hier war alles bunt, es duftete nach frischem Brot, Gebäck wenngleich gelegentlich auch der Geruch von frischem Fisch in Evans Nase drang.

Der Duft von Fäkalien und Erbrochenem war nur in einigen engen Gassen in der Nähe der gut besuchten Tavernen zu vernehmen.

Evan versuchte so unauffällig wie möglich durch die belebten Straßen zu wandern. Dies gelang ihm jedoch nur teilweise.

Einige irritierte Blicke trafen ihn. Er passte nicht in das Bild der farbenfrohen Gewänder, die die Bürger an diesem sonnigen Herbsttag trugen.

In einer kleinen Seitenstraße, zwischen einer Buchhandlung und einer kleinen Bäckerei, ließ er sich inmitten zweier Fässer sinken.

Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, blickte er zum Himmel empor.

»Verdammt, was habe ich mir dabei nur gedacht?«, murmelte er, während der Wunsch, sich selbst eine Ohrfeige zu verpassen, in ihm aufstieg.

Ein Schatten aus Zweifeln umhüllte ihn.

Geheimniskrämerei seitens des Auftraggebers konnte nur ein schlechtes Omen sein. Dieses Wissen hatte er, und dennoch überlagerte sein Drang nach Informationen über Rowan seinen gesunden Menschenverstand. Sofern er nach all den Jahrzehnten, als Halbdämon, überhaupt noch von gesundem Menschenverstand sprechen konnte.

Nach einer kurzen Atempause setzte er sich wieder in Bewegung. Gewiss, dass niemand ihn auf den Straßen verfolgte, setzte er seinen Weg fort.

Die Zeit nutzte er, um die zahlreichen Stände auf dem Marktplatz aus der Ferne zu erkunden.

Eine junge Dame präsentierte freudig ihre Lederwaren – Gürtel, Schuhe, Taschen, alles fein drapiert, vor sich auf einem langen Tisch.

Vor ihrem Stand herrschte geschäftiges Treiben.

Menschen hatten sich versammelt, probierten die Accessoires an, die die Frau anbot.

Ein angenehmer Duft von Leder stieg Evan in die Nase, als er die Szenerie beobachtete.

Er mochte diesen Duft einfach, auch wenn andere ihn vielleicht als unangenehm empfanden.

Er schritt weiter.

Am nächsten Stand stellte ein großer, braungebrannter Mann seine Backkünste vor.

Der Ledergeruch wurde von Zimt, frischgebackenem Brot und Gebäck abgelöst.

Einige Kunden standen staunend vor einem Tisch mit kunstvoll verzierten Torten, den der Bäcker unter einer Plane aufgestellt hatte, damit seine mühevoll gestalteten Kunstwerke nicht der Sonne erlagen.

Einen Stand weiter versuchte eine Weberin ihre Ware an den Mann zu bringen.

Unweit von ihr saß eine ältere Dame, auf einem kleinen Hocker, die Hände auf ihren Schoß gelegt.

Sie lächelte jeden der vorbeilaufenden Menschen herzlich an, doch für ihre Tonfigürchen, die sie ausstellte, interessierte sich kaum jemand, dabei sahen diese wirklich hochwertig aus.

Der Halbdämon erkannte eine Löwenfigur, einen Adler und sogar einen Hirsch.

Das musste wirklich harte Arbeit gewesen sein, vor allem im hohen Alter.

Evan tat sie schon beinahe leid.

Er stellte sich vor wie sie am Morgen ihre müden Knochen aus dem Bett erhob, ihre mühevoll gestalteten Figürchen in eine Kiste packte und mit ihnen zum Markt schlenderte.

Vermutlich bemerkte sie auch niemand oder bot ihr Hilfe an, so dass sie den ganzen Weg allein gehen musste.

Auch hatte sie keinen Stand aufgebaut, vermutlich fehlte ihr dazu die Kraft. Sie hatte all ihre Figürchen auf Kisten aufgereiht.

Aber der Halbdämon war beeindruckt von ihrer Willenskraft.

Trotz aller Widrigkeiten schien sie ihr Lächeln nicht verloren zu haben.

Evan ging weiter, kam an einem Jäger vorbei, der sowohl frisches Fleisch als auch Felle anbot und sich nebenbei mit seinem Nachbarn stritt, dessen geräucherter Fisch wohl einen unangenehmen Geruch in seine Richtung verströmte.

Auch wenn alle um ihn herum sich unterhielten und einige auch freudig lachten und schwatzten, so drang das Fluchen eines jungen Mannes plötzlich in seine Ohren.

»Das ist doch Unsinn. Ich habe noch nie eine Verkaufslizenz benötigt!«

Evan horchte auf, als er die ihm allzu vertraute Stimme vernahm.

Sein Blick fiel schließlich auf Leuvens Wagen, der von zwei Stadtwachen umringt war.

Die Plane war geöffnet, so als wäre der Kaufmann gerade dabei gewesen, einen Stand aufzubauen.

Dieser schien sich abermals in Schwierigkeiten gebracht zu haben, und das war das Letzte, was Evan gebrauchen konnte.

Mit einem genervten Seufzen näherte er sich dem Wagen.

Sein kühler Blick ruhte kurz auf Leuven, der zwischen den Wachen eingekesselt war.

Als er näher kam, konnte er Fetzen des Gesprächs aufschnappen.

»Ohne Genehmigung könnt Ihr nichts verkaufen«, sagte eine der Wachen bestimmt, während die andere sich dem Wagen näherte und den Inhalt begutachtete.

»Ich habe noch nie davon gehört, dass es einer Lizenz bedurfte, wenn ich etwas verkaufen wollte«, protestierte Leuven vehement.

Eine der Stadtwachen schaute ihn amüsiert an. »Wo kämen wir denn hin, wenn jeder einfach seinen Ramsch in Rabensberg verkaufen dürfte? – Ihr benötigt eine Lizenz und müsst selbstverständlich die Standgebühren an die Stadt entrichten.«

Die zweite Wache öffnete eine Kiste, die sich auf Leuvens Wagen befand. »Oje, oje, was haben wir denn hier?«

»Hast du etwas gefunden?«, fragte sein Kollege interessiert und blickte hinüber.

»Das sieht mir ganz nach Hehlerware aus«, gab der andere zurück und konnte sein Grinsen kaum verbergen. »Das sieht nicht gut aus für Euch.«

»Das ist ungeheuerlich!« Leuven plusterte sich auf. »Das ist keine Hehlerware. Das sind echte Erbstücke!«

»Das sollen wir Euch glauben? – Ich denke es wäre das Beste, wenn wir die Ware konfiszieren«, meinte der andere Wachmann und auch er konnte sein Grinsen kaum verbergen.

Neben ihm erschien eine große Person.

Evan, den Kopf gesenkt und das Gesicht unter der Kapuze verborgen, hielt vier glänzende Münzen zwischen Mittel- und Zeigefinger.

»Das sollte für die Standgebühren reichen, oder?«, sagte er mit rauer Stimme.

Erst schauten die Wachmänner ihn irritiert an, dann begannen sie zu lachen. »Pah! – Vier Kronen reichen vielleicht für die Standgebühr, aber ohne Lizenz müssen wir die Ware konfiszieren.«

Evan machte keine Bewegung. Genau das schien die Wachen zu beunruhigen.

»Wir wissen doch alle, dass solch eine Lizenz nicht existiert. Nehmt es oder lasst es«, sagte Evan ruhig.

Kurz schauten sich die Stadtwachen misstrauisch an, dann nahm sich einer der beiden knurrend die Münzen mit einer schnellen Handbewegung, nickte seinem Kollegen zu und beide zogen wortlos von Dannen.

Als ihre Schritte sich entfernt hatten, erhob Evan seinen Kopf.

»Puh, das ging ja noch einmal glücklich aus«, prustete Leuven erfreut. »Danke, aber sag mal, verfolgst du mich?«

Eine Antwort erfolgte sogleich, aber nicht mit Worten. Evan packte den jungen Mann am Arm und zog ihn in eine enge Gasse. Begleitet vom verwunderten Schnauben der Stute.

»Aua, das tut weh!«, meckerte Leuven, als der Halbdämon ihn rabiat in die Gasse drängte und er beinahe das Gleichgewicht verlor. »Was soll denn das?«

»Was das soll?«, fragte Evan erzürnt. »Ich habe dir mal wieder den Arsch gerettet!«

»Unsinn«, wandte Leuven ein. »Mit denen wäre ich schon allein klargekommen. Ich hätte sie höflich darum gebeten mir die Lizenz auszustellen, dann wäre das schon gut gelaufen.«

»Leuven, es gibt keine Lizenz, hast du nicht zugehört? – Es gibt auch keine Standgebühren«, entgegnete der Halbdämon.

»Achso? – Und weshalb hast du ihnen soeben Münzen gegeben?«

Der Halbdämon musste sich zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. »Du hast ja wirklich keine Ahnung. Wir sind hier in Rabensberg und nicht in irgendeinem kleinen, idyllischen Dörfchen. Hier musst du dich an ganz andere Gesetze halten, ungeschriebene Gesetze.«

»Wenn sie aber ungeschrieben sind, wie soll ich sie dann kennen?«

Evan schnaufte laut auf. »In Ordnung, du hast von dieser Welt wohl wirklich keine Ahnung. Wenn du in der Hauptstadt nicht überfallen, getötet oder verhaftet werden möchtest, dann tue genau das, was die Stadtwache von dir will.«

»Überfallen, getötet, verhaftet? – Bei den Göttern, dies ist die Hauptstadt von Brünnen und doch nicht irgendeine Banditenhöhle«, warf der junge Kaufmann ein.

»Es ist aber so. Du willst Geschäfte machen, sie wollen Geschäfte machen, so läuft das eben.«

»Das sind Stadtwachen, welche Geschäfte machen die denn?«, fragte Leuven, dann viel es ihm wie Schuppen von den Augen und er holte tief Luft. »Bei den Göttern, das waren gar keine Standgebühren, du hast die Wachen bestochen!«

»Nicht so laut!«, mahnte Evan. »Aber natürlich habe ich sie bestochen. Du gibst ihnen was sie wollen, dafür lassen sie dich in Ruhe. Du hast ja wirklich keine Ahnung.«

»Evan, auf das Bestechen von königlichen Wachen steht eine hohe Strafe. Der Kerker, öffentliches Auspeitschen.«

»Nur, wenn die Wachen die Münzen nicht annehmen. So haben sie sich selbst schuldig gemacht.«

»Achso?«, Leuven machte große Augen. »Da wo ich herkomme, sieht es aber ganz anders aus.«

»In deiner Traumwelt vielleicht. Es sieht überall so aus. Da brauchst du dir keine Illusionen machen.«

Leuven senkte den Kopf. Es nahm ihn wirklich mit, dass so die Realität aussah. Eine Realität die ihm zuvor nicht bewusst war.

»Nun gut. Du weißt, was zu tun ist. Ich rate dir, bleibe nicht allzu lang in der Hauptstadt«, sagte Evan. »Hast du eine Unterkunft für die Nacht?«

»Nun ja«, stammelte Leuven. »Der Gastwirt gab sich mit zwei silbernen Kelchen als Anzahlung zufrieden. Meiner Meinung nach viel zu viel. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich hatte gehofft genug zu verkaufen, um auch den Rest aufzutreiben, aber die einzigen, die sich für mich interessierten waren die Wachen.«

Evan rollte mit den Augen, schnalzte mit der Zunge und griff in seine Gürteltasche. Er holte ein kleines Säckchen hervor. Jenes Säckchen mit den Münzen, die er von Vaclav Riszko erhalten hatte.

Er warf es Leuven lässig entgegen. Dieser strauchelte in seiner Ungeschicktheit und das Säckchen landete klimpernd auf dem Boden.

Der Halbdämon seufzte laut auf. »Bist du überhaupt Überlebensfähig?«

Leuven bückte sich angestrengt und hob das Säckchen vom Boden auf. »Natürlich bin ich das. Ich bin gut einen Monat ohne dich ausgekommen.«

»Du wurdest fast von Karraks gefressen. Das nennst du gut ausgekommen?«

»Eine unglückliche Begegnung. Ohne die Karraks wäre ich weitergezogen, ohne Probleme.«

»Du hattest nichts zu essen, nichts zu trinken, kaum Geld in der Tasche.«

»Es wären bessere Tage gekommen«, antwortete der junge Mann genervt. »Sag mal, woher hast du überhaupt die ganzen Kronen? – Auf unserer Fahrt mussten wir uns von dem ernähren, was wir gefangen haben und nun schleppst du die ganzen Münzen mit dir herum.«

»Wir haben uns von dem ernährt, was ich gefangen habe, nicht wir. Im übrigen geht es dich nichts an, sei dankbar, dass ich es dir gebe.«

»Ich bin dir auch dankbar, äußerst dankbar. Ich werde es dir auch bestimmt zurückzahlen.«

»Schon gut. Außerdem war es das letzte Mal, dass wir uns sehen. Steck es ein und lass es gut sein«, gab Evan mürrisch zurück.

»Würdest du mich nicht ständig verfolgen, dann wäre das sicherlich unser letztes Treffen«, sagte Leuven amüsiert.

Die Antwort des Halbdämons folgte prompt und mit Nachdruck: »Ich verfolge dich nicht!«

»Ruhig, ruhig. Nicht so laut, hast du doch selbst gesagt.« Leuven konnte die dicke Ader auf Evans Stirn erkennen, die begann wild aufzupochen. »Was hast du vor?«

»Ich treffe mich später mit jemandem, aber auch das geht dich nichts an.«

»Jemanden, den du kennst, einen Freund vielleicht?«, fragte Leuven und wirkte dabei fast eifersüchtig.

»Ja, nein, ach, das geht dich nichts an. Machs gut, sei vorsichtig oder auch nicht, mir soll es egal sein, solange sich unsere Wege nicht wieder kreuzen«, gab Evan genervt zurück.

»Wenn du willst kannst du dich erst einmal in meinem Zimmer ausruhen. Mir ist die Lust darauf vergangen es auf dem Marktplatz weiter zu versuchen und du siehst so aus, als könntest du ein wenig Ruhe bitter nötig haben.«

Evan überlegte. Nur ungern wollte er das Angebot annehmen, allerdings brauchte er unbedingt einen Ort, wo er untertauchen konnte.

In der Nacht würde er für weniger Aufsehen sorgen.

Zwischen den ganzen Betrunkenen und Herumtreibern, die zu später Stunde in den Straßen unterwegs waren, konnte er gut untertauchen, außerdem wäre die Straßenwache damit beschäftigt, jene im Auge zu behalten. Da würde sich kaum einer für ihn interessieren.

Widerwillig akzeptierte der Halbdämon. »In Ordnung. Ein paar Stunden Ruhe würden mir sicher gut tun.«

Freudig klatschte Leuven in die Hände. »Sehr gut! – Ich hole das Pferd und den Karren und dann können wir uns direkt auf den Weg machen.«

Evan bereute seine Entscheidung umgehend. Mit einem mürrischen Knurren begleitete er den jungen Kaufmann zum Wagen.

Breit grinsend strich Leuven der Stute über die schwarze Mähne, als sie den Wagen erreichten. »Schau mal, wer wieder mit uns auf Reisen geht.«

Die Stute hingegen hatte für diese Nachricht nur ein müdes Schnauben übrig.

»Nur ein paar Stunden«, sagte Evan bestimmt. »Danach trennen sich unsere Wege endgültig.«

»Ja ja«, erwiderte Leuven, zupfte die Plane des Wagens zurecht und stieg auf den Kutschbock. »Wie beim letzten Mal.«

»Nicht wie beim letzten Mal«, entgegnete der Halbdämon und machte ein böses Gesicht. »Endgültig und unwiderruflich.«

Er schwang sich neben Leuven auf den Kutschbock und verstaute seinen Reisesack hinter der Plane. »Bilde dir bloß nichts ein.«

Lächelnd, ja schon fast lachend griff der junge Kaufmann nach den Zügeln und trieb die Stute an.

Überrascht erhob sie ihren Kopf, schüttelte sich und setzte sich ruckartig in Bewegung.

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Jäger und Gejagte

Beschreibung: Evan und Leuven haben die Burg Haren verlassen. Auf ihrer beschwerlichen Reise zur Hauptstadt Rabensberg wird Leuven erst wirklich bewusst, in welch gefährliche Welt er sich gewagt hat. Doch auch, wenn er gehofft hatte, sich weiterhin in der Sicherheit, die Evan ihm bot, wähnen zu können, hat dieser andere Pläne. Ihre Wege trennen sich, denn der Halbdämon bereitet sich auf ein Treffen mit einem alten Bekannten vor.

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Teil 3

Jenseits der schmutzigen und übel riechenden Gassen des Armenviertels erhob sich auf der gegenüberliegenden Seite von Rabensberg das prächtige Schloss.

Es diente nicht nur als Residenz von König Regrat, sondern galt auch als ein Monument der Ewigkeit.

Gleichzeitig symbolisierte es den immensen Reichtum des Königreichs Brünnen sowie die tief verankerte Klassenschichtung.

Niemand, der nicht auf Geheiß des Königs eingeladen war, konnte an den Wachen vorbeikommen, und selbst wenn, dann nur in Ketten, um sein jämmerliches Schicksal im Kerker des Schlosses zu finden.

Vier majestätische Türme aus hellem Stein, gekrönt von spitzen Ziegeldächern, erhoben sich stolz gen Himmel und warfen ihre Schatten in den prächtigen Vorgarten. Dieser beherbergte eine Fülle verschiedenster Pflanzenarten, darunter Rittersporn und Zypresse.

Ein kleiner Teich, überquert von einer eleganten Holzbrücke, schmückte den Innenhof, umgeben von einem Blütenmeer aus Lavendel – der persönlichen Lieblingsblume der Königsmutter.

Doch das wahre Juwel des Schlosses offenbarte sich im imposanten Haupthaus mit seinen hohen, dunklen Fenstern und dem kunstvoll verzierten Eingangstor, das vier Meter in die Höhe ragte.

Im vierten und höchsten Stockwerk befand sich das Arbeitszimmer des Königs, das einen direkten Blick auf den Stadtkern von Rabensberg gewährte.

Hector Heidenreich, der Hauptmann der Stadtwache verharrte vor der prunkvollen Tür zum Arbeitszimmer.

Er richtete seine Uniform, die im gleichen Grünton erstrahlte wie die Flagge von Brünnen. Ein massiver Brustpanzer, dazu Arm- und Beinschienen, komplettierten seine Ausrüstung. Dieselbe, die auch von den übrigen Stadtwachen getragen wurde.

Als Hauptmann genoss er zwar einen höheren Rang, doch das schien ihn wenig zu interessieren und so trug er weder seine Abzeichen, noch eine pompöse Rüstung.

Er legte großen Wert darauf, dieselbe Uniform und Rüstung wie seine Untergebenen zu tragen.

Es schuf eine Verbundenheit, die über den reinen Dienstrang hinausging und eine Vertrauensbasis zwischen ihm und seinen Stadtwachen aufbaute. So hoffte er zumindest.

Heidenreich war ein breitschultriger Mann mit gepflegten weißen Haaren, gekürztem, ebenso weißem Bart und maskulinen Wangenknochen.

Trotz seines Alters von Anfang vierzig, war er bei den jungen Damen in der Stadt sehr beliebt.

Seine kraftvolle Aura und sein selbstbewusstes Auftreten beeindruckte fast jede Frau, von der Dirne bis zur Anstandsdame.

Heidenreich atmete tief durch.

Trotz seiner äußeren Härte spiegelten sich Unsicherheit und ein Hauch von Nervosität in seinen Augen wider.

Das ungewohnte Gefühl, gleich persönlich mit dem König zu sprechen, löste eine innerliche Anspannung aus, die er jedoch gekonnt hinter einer Fassade aus Selbstbewusstsein und Stärke verbarg.

Sein Blick verriet die Entschlossenheit, die dieser ungewöhnliche Schritt erforderte, während seine Körperhaltung Standhaftigkeit ausstrahlte.

Eine Audienz beim König war auch für jemanden seiner Stellung eine Seltenheit.

Tatsächlich begleitete er bisher nur zwei Bankette und drei öffentliche Reden, bei denen er dem Monarchen nie näher als fünf Meter kam und jetzt wurde er höchstpersönlich vom König bestellt.

Seit zwei Jahren regierte König Regrat über Brünnen, nachdem dessen Vater verstorben war und er als erstgeborener Sohn den Thron bestieg.

Die Jugend und Unerfahrenheit des Monarchen spiegelten sich in seinem aufbrausenden Temperament und fragwürdigen Entscheidungen wider.

So ging in der ganzen Stadt das Gerücht um, der König habe eine Dienstmagd aus der Stadt verband, weil diese Suppe verschüttet hatte.

Beweise für diese Geschichte konnte niemand liefern, aber nur die wenigsten zweifelten die Glaubwürdigkeit an.

Im Gegensatz zu dessen Vater, war König Regrat nicht sonderlich beliebt unter seinen Untertanen.

Heidenreichs Herz klopfte in seiner Brust, als zwei Wachen die Flügeltür zu dem Arbeitszimmer öffneten und ihm vielsagend zunickten. Er ließ sich keinerlei Aufgeregtheit anmerken.

Es war wichtig, keine Schwäche zu zeigen, auch nicht vor dem König. Aber Respekt und Anstand waren die Worte, die er immer wieder in seinem Kopf wiederholte.

Mit aufrechtem Rücken und im gleichmäßigen Takt betrat Heidenreich das Arbeitszimmer.

Sein Blick fiel auf unzählige Bücherregale, kunstvolle Skulpturen und Gemälde, die die Wände zierten.

Hinter einem massiven Schreibtisch aus Eichenholz erstreckte sich ein großes Fenster, das einen bezaubernden Ausblick auf den Garten und über die Dächer der Hauptstadt bot.

Der König hatte die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, ließ seinen Blick hinaus schweifen und bewunderte die lebhaften Farben der Blumen im Vorhof des Schlosses.

Der Hauptmann erwartete den König in einem reich besticktem Mantel oder irgendeinem bunten Fummel, wie er sie auf offiziellen Banketten oder Reden trug, aber er präsentierte sich an diesem Tag, zu diesem vertraulichem Gespräch in einem beigen Hemd mit Rüschen an Kragen und Ärmeln und einer engen, schwarzen Hose.

Er wirkte auf ihn eher wie ein Degenschwingender Abenteurer als der Regent eines der mächtigsten Reiche des Kontinents.

Der König trug kurze, schwarze Haare und einen gepflegten Spitzbart, der in Verbindung mit seinem düsteren Blick ihm eine fast diabolische Erscheinung verliehen.

»Heidenreich. Richtig?«, erklang König Regrats leise, kratzige Stimme.

»Ich danke Euch für diese Einladung«, erwiderte der Hauptmann mit seiner harten, kernigen Stimme.

»Setzt Euch«, sagte Regrat und drehte sich zu Heidenreich um. »Ihr fragt Euch sicher, weshalb ich Euch rief.«

Der Hauptmann spürte, dass der König tief in Gedanken versunken war. Die runzlige Stirn und die übermüdeten Augen deuteten auf etwas äußerst Wichtiges hin.

Dennoch entschied sich Heidenreich, vor dem Schreibtisch stehen zu bleiben. »Ich danke Euch, Euer Gnaden. Aber ich bleibe lieber stehen.«

»Herr Heidenreich«, räusperte sich der König. Seine Worte schienen schwere Lasten zu sein, die mühsam ihren Weg durch sein inneres Gedankenlabyrinth suchten. „Ich ließ Euch rufen, weil mein Vater sehr große Stücke auf Euch hielt.«

Ein Hauch von Sturheit umgab Heidenreichs Antwort. „Euer Vater war ein großer Mann, Euer Gnaden. Es war mir eine Ehre, ihm zu dienen, genauso wie es mir eine Ehre ist, Euch zu dienen.“

Der Monarch winkte ab. „Lassen wir dieses Geplänkel.“

Zu Heidenreichs Verwunderung wirkte der König ungewöhnlich nervös – ein Bruch mit seiner sonst so souveränen Erscheinung in der Öffentlichkeit.

Etwas stimmte nicht. Nie hätte Heidenreich erwartet, dass der Herrscher des Königreichs sich derart vor ihm zeigen würde.

»Wie kann ich Euch dienen?«, erkundigte sich Heidenreich, unsicher, wie er mit der Art des Königs umgehen sollte.

Doch rasch änderte sich die Aura des Monarchen. Plötzlich wirkte er gefasst, seine Autorität wiederhergestellt.

»Mein Vater hat viel Lob über Euch ausgesprochen«, fuhr der König fort, das Kinn erhoben, als hätte er gerade erkannt, dass er sein Bild als Herrscher wahren müsse. „Ihr müsst eine Aufgabe für mich erledigen.«

»Mein Schwert gehört Euch, mein König«, erwiderte Heidenreich.

Regrat wandte sich wieder dem Fenster zu, und Heidenreich konnte seine bebenden Lippen in der Spiegelung erkennen.

»Mich haben beunruhigende Nachrichten erreicht“, sprach der König, ohne sich umzudrehen. „Ihr kennt sicher die Burg Haren?«

»Natürlich, Euer Gnaden. Die Familie Dancker führt sie seit Generationen als Lehen.«

»Nicht mehr«, erwiderte der König ruhig, aber bestimmt.

Verwirrung überzog Heidenreichs Gesicht. Die Familie Dancker war seit Jahrhunderten ein treuer Vasall des Königs. Was konnte dazu geführt haben, dass sie dieses Anrecht verloren hatte?

Regrat fuhr fort. „Berichten zufolge hat ein Dämon die Burg Haren befallen. Nicht nur Bedienstete, sondern auch Lord Johann Dancker und seine Gattin fielen diesem zum Opfer.«

Ein Hauch von Empörung durchzog Heidenreichs Stimme. „Ein Dämon? Wie ist das möglich?«

Schnell beruhigte er sich, räusperte sich.

»So wurde es mir berichtet. Augenzeugen gibt es ebenfalls.«

Der König drehte sich zu dem Hauptmann um. »Ein Dämon namens Evan Dhorne soll die Burg mit einem schrecklichen Fluch belegt haben.«

Regrat zeigte auf einen Brief auf seinem Schreibtisch. »Der Kammerdiener des Lords hat mir diesen Brief zukommen lassen. Lest ihn.«

Heidenreich lehnte sich vorsichtig vor, nahm den Brief an sich und las ihn aufmerksam durch.

»Euer Gnaden«, sagte er schließlich mit aufgebrachter Stimme. »Kann das wirklich wahr sein?«

»Es wäre ein großes Vergehen, den König zu belügen«, erwiderte Regrat.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es einem Dämon gelingen sollte, in die Hauptstadt zu gelangen. Meine Männer haben ihre Augen und Ohren überall.« Der Hauptmann faltete den Brief zusammen und legte ihn auf den Tisch. „Wenn es jedoch Euer Befehl ist, mich dieser Sache anzunehmen, werde ich selbstverständlich Eurem Befehl nachkommen.«

Der König biss sich auf die Lippe und stemmte die Hände auf seinen Schreibtisch. »Tut alles, was nötig ist!«

Zeigte der König nun sein wahres Gesicht? Seine Stimme bebte. »Ich werde nicht zulassen, dass solch eine Bestie in meiner Stadt, in meinem Königreich frei herumlaufen kann!«

»Selbstverständlich, Eure Majestät«, entgegnete Heidenreich. „Soll ich die Dämonenjägergilde kontaktieren?«

»Nein!« brüllte der König. Dann beruhigte er sich und senkte seine Stimme. „Nein. Diese Sache muss äußerst diskret behandelt werden. Es ist mir egal, was diese Bande von Rumtreibern vor den Stadttoren treibt, aber ich werde nicht zulassen, dass sie Verunsicherung in der Bevölkerung stiften.«

»Ich verstehe. Ich werde meine Männer vorbereiten.«

»Denkt daran, es ist von äußerster Wichtigkeit, dass Ihr diskret vorgeht.«

»Selbstverständlich, Eure Majestät.«

»Da ist noch etwas.“ König Regrat erhob sich. „Berichten zufolge wurden in den Umlanden Eldári gesichtet.«

»Eldári, mein Herr?“ Heidenreich war verdutzt. „Ich wüsste nicht, warum sich Eldári in diesen Landen aufhalten sollten.«

Der Monarch legte die Stirn kraus. „Ich halte es ebenfalls für unwahrscheinlich. Aber geht bitte auch diesen Gerüchten nach und zerstreut sie.«

Er tippte nervös mit den Fingern auf der Schreibtischplatte, erzeugte dabei ein rhythmisches Geräusch. »Welch unglückselige Zeiten wir doch haben. Ein Dämon sucht die Hauptstadt heim, die Eldári zeigen sich, der Lord von Dannenbrück plagt mich wegen des Verschwindens seines Kindes, und das Cardíz Imperium…«

Der König zog die Mundwinkel herunter und schüttelte den Kopf. „Als Herrscher muss man manchmal unbequeme Entscheidungen treffen, und die Bedrohung aus dem Osten macht es mir nicht einfacher. Mein Vater regierte in Friedenszeiten. Ich muss eine deutlich härtere Hand führen. Zeigen wir dem Cardíz Imperium auch nur den Hauch einer Schwäche, und sie werden es ausnutzen.«

»Mein König, auf Euren Schultern ruht das Schicksal eines ganzen Königreichs. Das ist die schwerste Aufgabe, die man sich vorstellen kann. Solange wir jedoch auf die Friedensverträge vertrauen können, die Euer Großvater ausgehandelt hat…«

»Schwachsinn!« Der König spuckte die Worte aus. »Ich werde mich sicher nicht auf ein Stück Papier verlassen, das vor sich dahinrottet. Ich spüre, dass sich im Osten etwas zusammenbraut.«

»Euer Gnaden, seid versichert, dass das Heer…«

Der König unterbrach ihn. »Herr Heidenreich, erledigt diese Aufgabe zu meiner Zufriedenheit, und ich könnte mir vorstellen, dass Euch ein hoher Posten im Heer erwartet.«

Heidenreich verbarg seine Überraschung geschickt.

»Ich dankte Euch, Euer Gnaden«, erwiderte er ohne eine Miene zu verziehen.

»Nun geht, bereitete Euch vor. Ich wollte dieses Gesindel nicht in meiner Stadt haben.« Der König machte eine vielsagende Handbewegung und starrte wieder aus dem Fenster hinaus.

Der Hauptmann verneigte sich ehrfürchtig und verließ das Zimmer.

______________

In der Zwischenzeit fand Evan einen Ausweg aus dem Armenviertel.

Über das Dach eines heruntergekommenen Wohnhauses gelangte er geschickt über die Mauer, die das Armenviertel vom Rest der Stadt trennte, in das Handelsviertel.

Das Glück war auf seiner Seite, denn er wurde von niemandem bei seinem waghalsigen Manöver entdeckt.

Nach einem kühnen Sprung landete er auf dem Dach eines Lagerhauses, wobei einige Dachziegel mit lautem Getöse auf die Straße hinunterfielen.

Glücklicherweise war zu dieser Zeit niemand anwesend, und niemand wurde verletzt. Die Arbeiter schenkten dem Vorfall wenig Beachtung – in diesem Viertel herrschte ohnehin ständiger Lärm.

Zwischen zwei Gebäuden setzte Evan schließlich auf der Straße auf.

Er zog seine Kapuze tief ins Gesicht und wandte sich den verschlungenen Gassen zu.

Hin und wieder begegnete er Passanten, doch deren Aufmerksamkeit galt nicht dem Halbdämon. Sie waren zu sehr in ihre Arbeit vertieft.

Einige Männer trugen schwere Lasten von einem zum anderen Ort und andere bedienten hölzerne Kräne, um Frachten durch Dachöffnungen zu hieven.

Die Wachen in der Nähe schenkten dem hektischen Treiben kaum Beachtung.

Gelangweilt lehnten sie an der Steinmauer und führten belanglose Gespräche.

Evan lauschte kaum den Fragmenten ihrer Unterhaltungen und schritt zielstrebig in Richtung des Marktviertels, stets darauf bedacht, dass seine Kapuze sein Gesicht verbarg.

Die eng aneinandergereihten Fachwerkhäuser ragten wie Geschichten vergangener Zeiten empor.

Ihre kunstvoll verwobenen Holzbalken und durchbrochenen Wände verliehen der Szenerie eine malerische Silhouette.

In den schmalen Gassen wirkte jede Ecke wie ein Kapitel aus einem längst vergessenen Märchen, während die sonnenverwöhnten Fassaden die Geschichte der Stadt in jedem Detail zu erzählen schienen.

Über den lebhaften Straßen der Stadt spannten sich Wäscheleinen von Haus zu Haus.

Einige Passanten murrten missmutig, als sie von ein paar Tropfen der feuchten Wäsche überrascht wurden.

Das Marktviertel bildete einen markanten Kontrast zum Armenviertel.

Hier war alles bunt, es duftete nach frischem Brot, Gebäck wenngleich gelegentlich auch der Geruch von frischem Fisch in Evans Nase drang.

Der Duft von Fäkalien und Erbrochenem war nur in einigen engen Gassen in der Nähe der gut besuchten Tavernen zu vernehmen.

Evan versuchte so unauffällig wie möglich durch die belebten Straßen zu wandern. Dies gelang ihm jedoch nur teilweise.

Einige irritierte Blicke trafen ihn. Er passte nicht in das Bild der farbenfrohen Gewänder, die die Bürger an diesem sonnigen Herbsttag trugen.

In einer kleinen Seitenstraße, zwischen einer Buchhandlung und einer kleinen Bäckerei, ließ er sich inmitten zweier Fässer sinken.

Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, blickte er zum Himmel empor.

»Verdammt, was habe ich mir dabei nur gedacht?«, murmelte er, während der Wunsch, sich selbst eine Ohrfeige zu verpassen, in ihm aufstieg.

Ein Schatten aus Zweifeln umhüllte ihn.

Geheimniskrämerei seitens des Auftraggebers konnte nur ein schlechtes Omen sein. Dieses Wissen hatte er, und dennoch überlagerte sein Drang nach Informationen über Rowan seinen gesunden Menschenverstand. Sofern er nach all den Jahrzehnten, als Halbdämon, überhaupt noch von gesundem Menschenverstand sprechen konnte.

Nach einer kurzen Atempause setzte er sich wieder in Bewegung. Gewiss, dass niemand ihn auf den Straßen verfolgte, setzte er seinen Weg fort.

Die Zeit nutzte er, um die zahlreichen Stände auf dem Marktplatz aus der Ferne zu erkunden.

Eine junge Dame präsentierte freudig ihre Lederwaren – Gürtel, Schuhe, Taschen, alles fein drapiert, vor sich auf einem langen Tisch.

Vor ihrem Stand herrschte geschäftiges Treiben.

Menschen hatten sich versammelt, probierten die Accessoires an, die die Frau anbot.

Ein angenehmer Duft von Leder stieg Evan in die Nase, als er die Szenerie beobachtete.

Er mochte diesen Duft einfach, auch wenn andere ihn vielleicht als unangenehm empfanden.

Er schritt weiter.

Am nächsten Stand stellte ein großer, braungebrannter Mann seine Backkünste vor.

Der Ledergeruch wurde von Zimt, frischgebackenem Brot und Gebäck abgelöst.

Einige Kunden standen staunend vor einem Tisch mit kunstvoll verzierten Torten, den der Bäcker unter einer Plane aufgestellt hatte, damit seine mühevoll gestalteten Kunstwerke nicht der Sonne erlagen.

Einen Stand weiter versuchte eine Weberin ihre Ware an den Mann zu bringen.

Unweit von ihr saß eine ältere Dame, auf einem kleinen Hocker, die Hände auf ihren Schoß gelegt.

Sie lächelte jeden der vorbeilaufenden Menschen herzlich an, doch für ihre Tonfigürchen, die sie ausstellte, interessierte sich kaum jemand, dabei sahen diese wirklich hochwertig aus.

Der Halbdämon erkannte eine Löwenfigur, einen Adler und sogar einen Hirsch.

Das musste wirklich harte Arbeit gewesen sein, vor allem im hohen Alter.

Evan tat sie schon beinahe leid.

Er stellte sich vor wie sie am Morgen ihre müden Knochen aus dem Bett erhob, ihre mühevoll gestalteten Figürchen in eine Kiste packte und mit ihnen zum Markt schlenderte.

Vermutlich bemerkte sie auch niemand oder bot ihr Hilfe an, so dass sie den ganzen Weg allein gehen musste.

Auch hatte sie keinen Stand aufgebaut, vermutlich fehlte ihr dazu die Kraft. Sie hatte all ihre Figürchen auf Kisten aufgereiht.

Aber der Halbdämon war beeindruckt von ihrer Willenskraft.

Trotz aller Widrigkeiten schien sie ihr Lächeln nicht verloren zu haben.

Evan ging weiter, kam an einem Jäger vorbei, der sowohl frisches Fleisch als auch Felle anbot und sich nebenbei mit seinem Nachbarn stritt, dessen geräucherter Fisch wohl einen unangenehmen Geruch in seine Richtung verströmte.

Auch wenn alle um ihn herum sich unterhielten und einige auch freudig lachten und schwatzten, so drang das Fluchen eines jungen Mannes plötzlich in seine Ohren.

»Das ist doch Unsinn. Ich habe noch nie eine Verkaufslizenz benötigt!«

Evan horchte auf, als er die ihm allzu vertraute Stimme vernahm.

Sein Blick fiel schließlich auf Leuvens Wagen, der von zwei Stadtwachen umringt war.

Die Plane war geöffnet, so als wäre der Kaufmann gerade dabei gewesen, einen Stand aufzubauen.

Dieser schien sich abermals in Schwierigkeiten gebracht zu haben, und das war das Letzte, was Evan gebrauchen konnte.

Mit einem genervten Seufzen näherte er sich dem Wagen.

Sein kühler Blick ruhte kurz auf Leuven, der zwischen den Wachen eingekesselt war.

Als er näher kam, konnte er Fetzen des Gesprächs aufschnappen.

»Ohne Genehmigung könnt Ihr nichts verkaufen«, sagte eine der Wachen bestimmt, während die andere sich dem Wagen näherte und den Inhalt begutachtete.

»Ich habe noch nie davon gehört, dass es einer Lizenz bedurfte, wenn ich etwas verkaufen wollte«, protestierte Leuven vehement.

Eine der Stadtwachen schaute ihn amüsiert an. »Wo kämen wir denn hin, wenn jeder einfach seinen Ramsch in Rabensberg verkaufen dürfte? – Ihr benötigt eine Lizenz und müsst selbstverständlich die Standgebühren an die Stadt entrichten.«

Die zweite Wache öffnete eine Kiste, die sich auf Leuvens Wagen befand. »Oje, oje, was haben wir denn hier?«

»Hast du etwas gefunden?«, fragte sein Kollege interessiert und blickte hinüber.

»Das sieht mir ganz nach Hehlerware aus«, gab der andere zurück und konnte sein Grinsen kaum verbergen. »Das sieht nicht gut aus für Euch.«

»Das ist ungeheuerlich!« Leuven plusterte sich auf. »Das ist keine Hehlerware. Das sind echte Erbstücke!«

»Das sollen wir Euch glauben? – Ich denke es wäre das Beste, wenn wir die Ware konfiszieren«, meinte der andere Wachmann und auch er konnte sein Grinsen kaum verbergen.

Neben ihm erschien eine große Person.

Evan, den Kopf gesenkt und das Gesicht unter der Kapuze verborgen, hielt vier glänzende Münzen zwischen Mittel- und Zeigefinger.

»Das sollte für die Standgebühren reichen, oder?«, sagte er mit rauer Stimme.

Erst schauten die Wachmänner ihn irritiert an, dann begannen sie zu lachen. »Pah! – Vier Kronen reichen vielleicht für die Standgebühr, aber ohne Lizenz müssen wir die Ware konfiszieren.«

Evan machte keine Bewegung. Genau das schien die Wachen zu beunruhigen.

»Wir wissen doch alle, dass solch eine Lizenz nicht existiert. Nehmt es oder lasst es«, sagte Evan ruhig.

Kurz schauten sich die Stadtwachen misstrauisch an, dann nahm sich einer der beiden knurrend die Münzen mit einer schnellen Handbewegung, nickte seinem Kollegen zu und beide zogen wortlos von Dannen.

Als ihre Schritte sich entfernt hatten, erhob Evan seinen Kopf.

»Puh, das ging ja noch einmal glücklich aus«, prustete Leuven erfreut. »Danke, aber sag mal, verfolgst du mich?«

Eine Antwort erfolgte sogleich, aber nicht mit Worten. Evan packte den jungen Mann am Arm und zog ihn in eine enge Gasse. Begleitet vom verwunderten Schnauben der Stute.

»Aua, das tut weh!«, meckerte Leuven, als der Halbdämon ihn rabiat in die Gasse drängte und er beinahe das Gleichgewicht verlor. »Was soll denn das?«

»Was das soll?«, fragte Evan erzürnt. »Ich habe dir mal wieder den Arsch gerettet!«

»Unsinn«, wandte Leuven ein. »Mit denen wäre ich schon allein klargekommen. Ich hätte sie höflich darum gebeten mir die Lizenz auszustellen, dann wäre das schon gut gelaufen.«

»Leuven, es gibt keine Lizenz, hast du nicht zugehört? – Es gibt auch keine Standgebühren«, entgegnete der Halbdämon.

»Achso? – Und weshalb hast du ihnen soeben Münzen gegeben?«

Der Halbdämon musste sich zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. »Du hast ja wirklich keine Ahnung. Wir sind hier in Rabensberg und nicht in irgendeinem kleinen, idyllischen Dörfchen. Hier musst du dich an ganz andere Gesetze halten, ungeschriebene Gesetze.«

»Wenn sie aber ungeschrieben sind, wie soll ich sie dann kennen?«

Evan schnaufte laut auf. »In Ordnung, du hast von dieser Welt wohl wirklich keine Ahnung. Wenn du in der Hauptstadt nicht überfallen, getötet oder verhaftet werden möchtest, dann tue genau das, was die Stadtwache von dir will.«

»Überfallen, getötet, verhaftet? – Bei den Göttern, dies ist die Hauptstadt von Brünnen und doch nicht irgendeine Banditenhöhle«, warf der junge Kaufmann ein.

»Es ist aber so. Du willst Geschäfte machen, sie wollen Geschäfte machen, so läuft das eben.«

»Das sind Stadtwachen, welche Geschäfte machen die denn?«, fragte Leuven, dann viel es ihm wie Schuppen von den Augen und er holte tief Luft. »Bei den Göttern, das waren gar keine Standgebühren, du hast die Wachen bestochen!«

»Nicht so laut!«, mahnte Evan. »Aber natürlich habe ich sie bestochen. Du gibst ihnen was sie wollen, dafür lassen sie dich in Ruhe. Du hast ja wirklich keine Ahnung.«

»Evan, auf das Bestechen von königlichen Wachen steht eine hohe Strafe. Der Kerker, öffentliches Auspeitschen.«

»Nur, wenn die Wachen die Münzen nicht annehmen. So haben sie sich selbst schuldig gemacht.«

»Achso?«, Leuven machte große Augen. »Da wo ich herkomme, sieht es aber ganz anders aus.«

»In deiner Traumwelt vielleicht. Es sieht überall so aus. Da brauchst du dir keine Illusionen machen.«

Leuven senkte den Kopf. Es nahm ihn wirklich mit, dass so die Realität aussah. Eine Realität die ihm zuvor nicht bewusst war.

»Nun gut. Du weißt, was zu tun ist. Ich rate dir, bleibe nicht allzu lang in der Hauptstadt«, sagte Evan. »Hast du eine Unterkunft für die Nacht?«

»Nun ja«, stammelte Leuven. »Der Gastwirt gab sich mit zwei silbernen Kelchen als Anzahlung zufrieden. Meiner Meinung nach viel zu viel. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich hatte gehofft genug zu verkaufen, um auch den Rest aufzutreiben, aber die einzigen, die sich für mich interessierten waren die Wachen.«

Evan rollte mit den Augen, schnalzte mit der Zunge und griff in seine Gürteltasche. Er holte ein kleines Säckchen hervor. Jenes Säckchen mit den Münzen, die er von Vaclav Riszko erhalten hatte.

Er warf es Leuven lässig entgegen. Dieser strauchelte in seiner Ungeschicktheit und das Säckchen landete klimpernd auf dem Boden.

Der Halbdämon seufzte laut auf. »Bist du überhaupt Überlebensfähig?«

Leuven bückte sich angestrengt und hob das Säckchen vom Boden auf. »Natürlich bin ich das. Ich bin gut einen Monat ohne dich ausgekommen.«

»Du wurdest fast von Karraks gefressen. Das nennst du gut ausgekommen?«

»Eine unglückliche Begegnung. Ohne die Karraks wäre ich weitergezogen, ohne Probleme.«

»Du hattest nichts zu essen, nichts zu trinken, kaum Geld in der Tasche.«

»Es wären bessere Tage gekommen«, antwortete der junge Mann genervt. »Sag mal, woher hast du überhaupt die ganzen Kronen? – Auf unserer Fahrt mussten wir uns von dem ernähren, was wir gefangen haben und nun schleppst du die ganzen Münzen mit dir herum.«

»Wir haben uns von dem ernährt, was ich gefangen habe, nicht wir. Im übrigen geht es dich nichts an, sei dankbar, dass ich es dir gebe.«

»Ich bin dir auch dankbar, äußerst dankbar. Ich werde es dir auch bestimmt zurückzahlen.«

»Schon gut. Außerdem war es das letzte Mal, dass wir uns sehen. Steck es ein und lass es gut sein«, gab Evan mürrisch zurück.

»Würdest du mich nicht ständig verfolgen, dann wäre das sicherlich unser letztes Treffen«, sagte Leuven amüsiert.

Die Antwort des Halbdämons folgte prompt und mit Nachdruck: »Ich verfolge dich nicht!«

»Ruhig, ruhig. Nicht so laut, hast du doch selbst gesagt.« Leuven konnte die dicke Ader auf Evans Stirn erkennen, die begann wild aufzupochen. »Was hast du vor?«

»Ich treffe mich später mit jemandem, aber auch das geht dich nichts an.«

»Jemanden, den du kennst, einen Freund vielleicht?«, fragte Leuven und wirkte dabei fast eifersüchtig.

»Ja, nein, ach, das geht dich nichts an. Machs gut, sei vorsichtig oder auch nicht, mir soll es egal sein, solange sich unsere Wege nicht wieder kreuzen«, gab Evan genervt zurück.

»Wenn du willst kannst du dich erst einmal in meinem Zimmer ausruhen. Mir ist die Lust darauf vergangen es auf dem Marktplatz weiter zu versuchen und du siehst so aus, als könntest du ein wenig Ruhe bitter nötig haben.«

Evan überlegte. Nur ungern wollte er das Angebot annehmen, allerdings brauchte er unbedingt einen Ort, wo er untertauchen konnte.

In der Nacht würde er für weniger Aufsehen sorgen.

Zwischen den ganzen Betrunkenen und Herumtreibern, die zu später Stunde in den Straßen unterwegs waren, konnte er gut untertauchen, außerdem wäre die Straßenwache damit beschäftigt, jene im Auge zu behalten. Da würde sich kaum einer für ihn interessieren.

Widerwillig akzeptierte der Halbdämon. »In Ordnung. Ein paar Stunden Ruhe würden mir sicher gut tun.«

Freudig klatschte Leuven in die Hände. »Sehr gut! – Ich hole das Pferd und den Karren und dann können wir uns direkt auf den Weg machen.«

Evan bereute seine Entscheidung umgehend. Mit einem mürrischen Knurren begleitete er den jungen Kaufmann zum Wagen.

Breit grinsend strich Leuven der Stute über die schwarze Mähne, als sie den Wagen erreichten. »Schau mal, wer wieder mit uns auf Reisen geht.«

Die Stute hingegen hatte für diese Nachricht nur ein müdes Schnauben übrig.

»Nur ein paar Stunden«, sagte Evan bestimmt. »Danach trennen sich unsere Wege endgültig.«

»Ja ja«, erwiderte Leuven, zupfte die Plane des Wagens zurecht und stieg auf den Kutschbock. »Wie beim letzten Mal.«

»Nicht wie beim letzten Mal«, entgegnete der Halbdämon und machte ein böses Gesicht. »Endgültig und unwiderruflich.«

Er schwang sich neben Leuven auf den Kutschbock und verstaute seinen Reisesack hinter der Plane. »Bilde dir bloß nichts ein.«

Lächelnd, ja schon fast lachend griff der junge Kaufmann nach den Zügeln und trieb die Stute an.

Überrascht erhob sie ihren Kopf, schüttelte sich und setzte sich ruckartig in Bewegung.

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