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Kapitel 2: Jäger und Gejagte

Beschreibung: Evan und Leuven haben die Burg Haren verlassen. Auf ihrer beschwerlichen Reise zur Hauptstadt Rabensberg wird Leuven erst wirklich bewusst, in welch gefährliche Welt er sich gewagt hat. Doch auch, wenn er gehofft hatte, sich weiterhin in der Sicherheit, die Evan ihm bot, wähnen zu können, hat dieser andere Pläne. Ihre Wege trennen sich, denn der Halbdämon bereitet sich auf ein Treffen mit einem alten Bekannten vor.

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Teil 1

Der Karren polterte über den schmalen Weg und wirbelte Staub auf, während die Stute schnaubend das schwere Gefährt hinter sich herzog.

In eine Decke gehüllt, versuchte Leuven der klirrenden Kälte zu entkommen, die an diesem frostigen Morgen in den Vorlanden von Rabensberg herrschte.

Seine Finger spürte er kaum noch. Sie waren vom frostigen Wind des Morgens taub geworden, fühlten sich wie Fremdkörper an.

Der Nebel waberte um den Karren herum und erschwerte die Sicht.

Ein Schauder lief dem jungen Mann über den Rücken. Er fürchtete, dass jeden Moment eine wilde Bestie vor dem Wagen erscheinen und ihn angreifen könnte.

Beunruhigt warf der junge Mann immer wieder Blicke an den Wegesrand. Unzählige Pfähle ragten aus dem feuchten Boden hinaus.

Auf ihnen thronten grausige Köpfe, aufgespießt und starr. Ihre leblosen Augen, aus denen der Tod starrte, schienen Leuven förmlich hinterherzuschauen.

Die Haut war verwittert und von Maden zerfressen, und die Zähne grinsten in makabren Lächeln.

Der Nebel umkreiste sie, wie eine unruhige Seele, die nach ihrem Körper schmachtete.

Der junge Mann zuckte zusammen, als eine Krähe krächzend auf einem der Schädel landete und ihren Schnabel in dessen leere Augenhöhle bohrte, um einige Fetzen Fleisch herauszupicken.

Die Gesichter waren kaum noch zu erkennen, ob es sich einst um Menschen, Tiere oder gar Monster gehandelt hatte, konnte Leuven nur erahnen. Abgenagt, verwittert, ein stummes Zeugnis von Leid und Tod.

Mit einem mulmigen Gefühl wandte er seinen Blick ab und drehte sich zu Evan um, der auf seinem Karren hinter der Plane saß.

Inmitten von Kisten und Bündeln hatte er es sich bequem gemacht, anscheinend unbeeindruckt von den grässlichen Bildern am Wegesrand.

»Die Gegend um Harendorf war eindeutig ansprechender. Ich kann nicht glauben, dass es rund um die Hauptstadt so nach Tod und Verwesung riecht«, bemerkte der Kaufmann naserümpfend, als ihm ein übler, fauliger Geruch in die Nase stieg.

»Sie sollen als Mahnmale dienen«, gab Evan zurück und streckte seinen Kopf aus der Plane hervor.

»Mahnmale? Wenn sie vorhaben, ehrliche Kaufleute wie mich abzuschrecken, dann haben sie Erfolg. Allein würde ich nicht auf diesen Wegen wandern«, erwiderte Leuven. Gänsehaut machte sich auf seinem Rücken breit, und er schüttelte sich vor Ekel.

»Nun ja, diese Wege werden in der Regel von den Reisenden gemieden. Vielmehr sollen sie Dämonen und zwielichtige Gestalten fernhalten. Glaub mir, die Hauptstraße ist äußerst sicher.«

Leuven seufzte und verdrehte seine Augen. »Die wollte ich ja auch nehmen, aber weil du so paranoid bist, musste ich einen Umweg fahren.«

»Die Hauptstraße wird von Soldaten patrouilliert. Sie durchsuchen jeden einzelnen Wagen. Sobald wir an der Kreuzung sind, kannst du auf die Hauptstraße abbiegen, aber ich muss einen anderen Weg in die Stadt hineinnehmen.«

Der Kaufmann stieß ein hämisches Lachen aus. »Du hast es auch irgendwie in die Burg von Dancker geschafft. Jetzt aber machst du dir Sorgen?«

»Die Burg eines Fürsten niederen Standes ist auch etwas anderes als die Hauptstadt von Brünnen. Nicht einmal eine Fliege schafft es durch die Tore ohne Ausweispapiere. Ich hoffe doch, dass du deine dabeihast.«

Leuven nickte selbstbewusst. »Aber natürlich habe ich sie dabei. Es wäre auch verrückt, wenn nicht. Aber ich schätze, du hast keine?«

Evan kroch hinter der Plane hervor, kletterte auf den Kutschbock und nahm neben den Kaufmann Platz. »Ich besitze sie noch, aber sie werden mir wohl kaum hilfreich sein.«

»O, der Halbdämon hat Ausweispapiere. Da bin ich aber schon ein wenig überrascht.«

Ein böser Blick traf den jungen Mann.

»Ich war mal ein Mensch, das habe ich dir doch erzählt«, schnaubte Evan. »Aber du hast doch gesehen, welche Schwierigkeiten wir hatten, in die Burg von Lord Dancker zu kommen. Außerdem sieht man mir wohl meine dreiundfünfzig Jahre nicht an.«

Leuven riss so abrupt an den Zügeln, dass die Stute laut wieherte und wild mit den Hufen scharrte. »Dreiundfünfzig?« fragte er erstaunt.

Der Wagen schaukelte heftig, und aus dem Inneren drang das Klirren von umfallenden Kisten.

»Pass doch auf!«, schimpfte der Halbdämon, der sich an der Bank des Bocks festhalten musste, um nicht hinunterzufallen. »Ja, du hast schon richtig gehört. Ich altere nun einmal… anders.«

Die Stute beruhigte sich wieder und nahm einen gleichmäßigen Schritt an.

Leuven lachte auf. »Hätte ich das gewusst. Hier, vielleicht solltest du meine Decke nehmen. Ich will ja nicht, dass sich der alte Mann erkältet.«

»Wenn du nicht aufhörst, kriegst du ein paar aufs Maul«, entgegnete Evan ihm bellend. »Schau gefälligst auf die Straße oder willst du uns umbringen?«

»Tja, an dir nagt doch schon der Zahn der Zeit.« Der Kaufmann brach in gellendes Gelächter aus.

Ein lautes Klatschen ertönte in der finsteren Umgebung.

Der Schmerz zog durch Leuvens gesamten Unterkiefer.

Evan schlug nicht kraftvoll zu, doch für den jungen Mann war es Warnung genug.

Der Halbdämon war offenkundig nicht für Späße aufgelegt.

Zitternd öffnete Leuven den Mund. Eine leise Entschuldigung rang sich über seine Lippen.

Der Halbdämon saß mit verschränkten Armen und finsterem Blick neben ihm. Schließlich seufzte er. »Schon gut. Verzeih mir. Ich habe aber auch nicht hart zugeschlagen.«

»Fühlte sich auch nicht so an.« Eine Träne des Schmerzes rann über Leuvens Wange. »Ich spüre es kaum.«

»Weißt du, ich bin nicht glücklich über den Umstand. Es gab eine Zeit, da war alles viel einfacher, aber es sind fast nur noch flüchtige Bilder, die durch meinen Kopf wandern.« Evan blickte verträumt in den dichten Nebel, dann zog er ein kleines Stück Pergament aus seiner Gürteltasche.

»Es geht dich zwar nichts an, aber ich denke, dir kann ich es ruhig zeigen. Hier stehen alle Namen drauf, die ich im Laufe der Zeit zusammentragen konnte.«

»Namen?« Leuven warf einen flüchtigen Blick auf das Pergament, ehe er seinen Blick wieder auf die Straße richtete. »Was für Namen denn?«

»Namen von verschiedenen Personen. Einige konnte ich bereits durchstreichen, andere kommen frisch hinzu. Die Liste scheint endlos, aber sie ist es, die mich am Leben hält. Ich werde nicht aufgeben und erst aufhören, wenn ein jeder Name auf dieser Liste durchgestrichen ist und kein neuer hinzukommt.«

»Die Liste hält dich also am Leben? Sind es denn besondere Personen?«

Evan wandte seinen Blick ab. »Mindestens einer von ihnen ist dafür verantwortlich, dass ich mein Leben als Halbdämon fristen muss.«

»Hmm«, Leuven schaute bedrückt zu seinem Begleiter hinüber. »Und wie sieht es mit Familie aus?«

»Es gibt nur mich und die Liste.«

»Darf ich fragen, was geschehen ist, was haben diese Personen mit dir gemacht?«

Einen Moment der Stille später, als Leuven schon fast die Hoffnung auf eine Antwort aufgegeben hatte, begann Evan mit leiser Stimme zu sprechen: »Falls du dich erinnerst, habe ich dir bereits erzählt, dass mir mein Herz herausgerissen wurde. Diese Personen könnten dafür verantwortlich sein. Seit fast zwanzig Jahren bin ich schon auf der Suche.«

»Seit zwanzig Jahren und du bist immer noch auf der Suche?«, wiederholte der junge Kaufmann, obwohl er es sofort bereute.

»Leider stellte sich die Suche als schwerer heraus, als ich anfangs angenommen hatte. Ich konnte schon einige Namen streichen, aber nur wenige waren hilfreich.«

Kurz war Leuven wie erstarrt. Er konnte sich die Qualen, die Evan durchmachen musste, nicht vorstellen.

»Hast du denn mittlerweile genauere Informationen?«, entfuhr es ihm, als er nach Luft schnappte.

»Mehr oder weniger.« Evan blickte mit Wut in den Augen auf seine Liste.

Leuven erinnerte sich an die langgezogene Narbe auf Evans Brust. Also schien seine Geschichte wahr zu sein, und er hatte ihn nicht zum Narren halten wollen.

»Bist du deshalb auf dem Weg nach Rabensberg?«, fragte er erstaunt.

»Das ist richtig.«

Beide schwiegen sich kurz an.

Plötzlich schrie der Halbdämon auf. »Stop! – Halte sofort an!«

Irritiert blickte der junge Kaufmann in den tiefen Nebel hinein. Als er erkannte, was sich vor ihnen verbarg, zog er mit aller Kraft an den Zügeln.

Laut protestierend hob die Stute ihre muskulösen Beine in die Luft und stieß wiehernd Dampf aus ihren Nüstern.

Ruckartig blieb der Wagen stehen.

»Bei den Göttern, wir haben eindeutig den falschen Weg gewählt«, merkte Leuven an und vergrub sich in seiner Decke.

Leuven erkannte fünf leblose Körper, die den Weg vor ihnen säumten.

Ihre Gesichter verzerrt und die Gliedmaßen von ihren Körpern gestreckt. Vereinzelt fehlte gar ein Arm oder ein Bein.

Der Nebel umhüllte die Leichen wie ein trauriger Schleier.

Leuven konnte bei zweien nicht einmal das Geschlecht bestimmen, so entstellt waren ihre Körper durch die gnadenlose Gewalt, die ihnen zu Teil geworden war.

Ihr Blut, ein düsterer Wegweiser.

Evan sprang energisch vom Karren und inspizierte die leblosen Körper.

Beunruhigt fragte Leuven vom Kutschbock aus: »Waren es Karraks?«

Die schreckliche Begegnung mit diesen abscheulichen Kreaturen hatte ihm genug grausige Träume bereitet.

»Nein«, antwortete Evan, seine Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Besorgnis. »Die Spuren passen nicht zu Karraks. Es muss etwas Größeres gewesen sein.«

Leuvens Körper spannte sich an und Gänsehaut überzog seinen gesamten Körper.

Als Evan sich erhob, durch den Nebel in die Ferne blickte und kurz darauf im milchigen Schleier verschwand, brachte dies den jungen Kaufmann endgültig aus der Fassung. »Evan? – Evan, was zum Teufel tust du da, wo bist du?«

Es war still, ehe sich, nach einer Weile, eine schwarze Silhouette im Nebel abbildete und Evan wieder vor dem Karren erschien.

»Es müssen Flüchtlinge gewesen sein, auf dem Weg in die Hauptstadt. Dort vorne ist eine völlig zerstörte Kutsche, aber es befindet sich nichts Wertvolles darin. Etwas halbverdautes Essen, ein paar zerlumpte Kleidungsstücke«, erklärte Evan, während er auf die Leichen hinabschaute und sie inspizierte. »Wer sollte sonst so verrückt sein, diesen Weg zu nehmen? Vielleicht Flüchtlinge aus dem Osten.«

»Wer sollte sonst so verrückt sein und diesen Weg nehmen? – Wir, Evan, wir!«, protestierte Leuven und rutschte aufgeregt in die Mitte der Sitzbank.

Evan zuckte mit den Achseln und schaute seinen Begleiter trocken an. »Ja, schon gut, außer uns natürlich.« Er stieg wieder auf den Kutschbock und drängte Leuven auf seine Seite zurück. »Los jetzt, wir sollten weiterfahren.«

»Bist du verrückt?«, polterte Leuven. »Keinen Meter werde ich weiterfahren.«

»Leuven, ich weiß nicht, was in diesem Nebel ist, also setz gefälligst den Wagen in Bewegung, ansonsten schmeiß ich dich herunter und übernehme selbst die Zügel. Ist es das, was du willst?« Evans Worte waren bedrohlich und seine Augen vermittelten Entschlossenheit.

»Schon gut, schon gut. Du solltest an deinen Aggressionen arbeiten, aber wirklich«, stammelte der junge Mann und zog an den Zügeln. Der Wagen setzte sich, mit einem Ruck, wieder in Bewegung.

Ein beängstigendes Geräusch durchschnitt die Luft, als der Wagen über die Leichen fuhr. Leuven versuchte, sie geschickt zu umfahren, doch der Nebel erschwerte seine Sicht.

»Absolut abscheulich«, entfuhr es ihm, als er das brechende Geräusch eines Schädels wahrnahm, der unter der Last eines der Wagenräder zerquetscht wurde. »Hoffentlich finden ihr nun Frieden, wo auch immer eure Reise euch nun hinführt.«

»Für die ist es leider zu spät, aber ich möchte gerne aus diesem Nebel heraus, also spurte dich.« Leuven schüttelte den Kopf über Evans scheinbare Gefühllosigkeit.

Es dauerte eine Weile, bis der Nebel sich lichtete und die Sonne am Horizont in roten und orangefarbenen Tönen aufging.

Ein großer Baum gab sich zu erkennen, an dessen schwarzen, toten Ästen die Leichen verschiedener Kreaturen baumelten.

»Dafür werden wohl kaum die Soldaten des Königs verantwortlich sein. Das sieht nach dem Werk der Jägergilde aus«, sagte Evan mit leiser Stimme. Er zog die Stirn kraus. Es war unschwer zu erkennen, dass er besorgt war.

»Du meinst die Dämonenjäger? – Hier in Rabensberg?«, fragte Leuven überrascht und mit einem Hauch von Neugier.

»Seit sie sich von der Kirche losgesagt haben, operieren sie unabhängig und über die Grenzen hinaus.«

»Das ist mir durchaus bewusst, aber ich habe noch nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Vielleicht treffe ich ja auf einen von ihnen.«

»Man sollte ihnen besser aus dem Weg gehen«, gab Evan zurück.

»Wieso denn das? – Ich habe allerhand abenteuerlicher Geschichten über sie gehört, es wäre sicher spannend, einen von ihnen persönlich zu treffen.«

Der Halbdämon schaute ihn durchdringend an. »Nicht alles, was man so über sie hört, entspricht der Wahrheit.« Er zog seinen Reisesack hervor. »Im Übrigen trennen sich hier unsere Wege.«

Leuven ließ enttäuscht die Schultern hängen.

»Und was wirst du tun?«, fragte er mit trauriger Stimme.

Leuvens zu fester Griff in die Zügel ließ die Stute abrupt stoppen. Ein lautes Klirren und Krachen ertönte aus dem Inneren des Wagens, als die Kisten durch die plötzliche Bewegung wild durcheinandergewirbelt wurden.

»Ich werde einen alten Bekannten aufsuchen, aber ich muss einen anderen Weg in die Stadt finden.« Evan nickte zum Abschied und sprang vom Wagen hinab.

Er verzog dabei keine Miene. Sein Gesicht strahlte Eiseskälte aus.

Hätte er gekonnt, hätte sich Leuven vielleicht vor Evan verbeugt, doch er nickte einfach zurück. »Es war mir eine Ehre, dich kennengelernt zu haben. Gehab’ dich wohl, auf dass wir uns irgendwann wiedersehen.«

Ohne einen Blick zurück auf den weiterfahrenden Wagen zu werfen, schritt Evan davon.

Er spürte, dass die Augen des Kaufmanns noch auf ihm ruhten, als sie sich langsam voneinander entfernten.

Einfältiger Leuven, dachte Evan, hatte er etwa geglaubt, dass wir auf ewig zusammenreisen würden?

»Aber eines muss ich wohl zugeben, ich hätte nicht gedacht, dass er all das auf sich nimmt«, flüsterte er sich selbst zu.

Schnell verdrängte er seine Gedanken.

Als er von einer Anhöhe hinab in das Tal blickte, waren seine Augen auf die hohen Türme und die Mauer gerichtet, die Rabensberg umgaben und die er in der Ferne bereits erspähen konnte.

Der aufsteigende Rauch der vielen Schornsteine vermischte sich mit dem Nebel, der noch über der Hauptstadt schwebte.

Seit dem Ende des großen Krieges gegen das Cardíz Imperium thronte Rabensberg als neue Hauptstadt des Reiches, nachdem die Hafenstadt Thaburg in der finalen Schlacht gegen die imperialen Eindringlinge dem Erdboden gleichgemacht worden war.

Aber zu der Zeit hatte selbst Evan noch nicht gelebt, weshalb auch er nur aus Geschichten über die heldenhaften Soldaten hörte, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um die letzte Bastion zu verteidigen.

Auch wenn die Hauptstadt fiel, so sammelten die letzten Streitkräfte Mut und Willen und konnten einen Großteil ihrer Heimat zurückerobern und den Feind vertreiben.

Rabensberg war zwar fernab von der Küste gelegen, dennoch war sie schnell zum Mittelpunkt des Handels im Königreich geworden und war ebenfalls vor Angriffen von der See geschützt.

Ein ums andere Mal war Evan bereits in Rabensberg, doch wieder und wieder musste er sich einen neuen Weg hinein suchen.

Jedes Mal, wenn er aufs Neue in die Stadt gelangen wollte, war der Weg, den er zuvor nahm, entweder von den Wachen versperrt worden oder zugemauert.

Er wusste nie, welchen Weg er hineinnehmen konnte und suchte jedes Mal nach einem neuen Schlupfloch.

Es war bereits Mittag und die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt, als er die Stadtmauer über ein kleines Waldstück erreichte.

Der Gestank von Fäkalien drang durch seine Nase und brachte seine Augen zum tränen.

Vor ihm befand sich der Ausgang der Kanalisation, ein fast zwei Meter hohes und breites Tor aus rostigem Eisen. Morast sickerte durch die dicken Streben.

Der Baumeister hatte offenbar bewusst darauf verzichtet, das Abwasser in einen Fluss oder Bach abzuleiten. Stattdessen ergoss sich die stinkende Brühe ungehindert vor die Mauern der Stadt, wo sie einen übelriechenden See aus Fäkalien bildete.

Evan kannte diesen Weg in die Stadt hinein, doch beim letzten Mal hatte sich noch niemand die Mühe gemacht, ein Eisengitter anzubringen.

Offenbar drangen bereits mehrere zwielichtige Gestalten durch die Kanalisation in die Stadt, was dazu führte, dass nun auch dieser Weg versperrt war.

Evan watete naserümpfend durch den Schlick.

Sich so Eintritt in die Stadt zu verschaffen gefiel ihm nicht, aber ihm blieb auch nichts anderes übrig. Er spürte den Ekel an seinem gesamten Körper.

Evan rüttelte an dem Eisengitter. Eine der Stangen brach dabei aus der Mauer.

Wie lange war ich nicht mehr hier?, überlegte der Halbdämon, als er die rostige Stange in seiner Hand hielt.

Ja, er hatte mehr Kraft in den Händen als ein gewöhnlicher Mensch, aber mit nur wenig Anstrengung hatte er bereits die zweite Eisenstange aus seiner Verankerung gelöst.

Evan wollte gar nicht wissen, was außer Fäkalien durch den Abfluss abgeleitet wurde, dass das Gitter so sehr zersetzte.

Sein Gesicht verzog sich, als er den Gestank aus dem Inneren wahrnahm.

Der Halbdämon bestieg die Kanalisation und wagte sich tief hinein. Je weiter er Schritt, desto kräftiger wurde der unangenehme Geruch.

Neben der braunen Suppe, die zwischen seinen Stiefeln nach draußen floss, klebten an den Wänden auch andere, unappetitlich anzuschauende Dinge.

Er konnte nicht genau erkennen, was die klebrige, grüne Masse war, die er neben seinem Kopf entdeckte, aber er wollte es auch nicht wirklich erfahren.

Durch den Morast schwammen einige Ratten, die den Halbdämon ächzend anschrien und durch ihre glühenden Augen finster anstarrten.

Evan hasste Ratten. Er hatte kein Problem damit gegen Dämonen oder gefräßige Monster zu kämpfen, aber wenn er eine Ratte erblickte, löste das einen Schauer bei ihm aus.

Das lag wohl an einem Zwischenfall, der schon einige Jahre zurücklag.

Damals war er in einer kleinen Küstenstadt unterwegs. Leider kam er zur falschen Zeit, denn in diesem Jahr brach die Pest dort aus und Schwärme von Ratten überfielen die Stadt.

In einem beinahe aussichtslosen Kampf ums Überleben begruben diese bösartigen Nager ihn unter sich.

Evan hatte schon vor Augen, wie sie ihn bei lebendigem Leibe auseinanderreißen würden.

Er schüttelte sich. Kein weiterer Gedanke sollte an jene Situation verschwendet werden.

Evan versuchte die Nager zu ignorieren und so schnell wie möglich ans Ende der Kanalisation zu gelangen.

Je tiefer er in den stinkenden Tunnel eintauchte, desto enger fühlte er sich an. Die Wände schienen immer dichter zu kommen. Ein beklemmendes Gefühl überkam den Halbdämon.

Nach einer Weile entdeckte er ein Loch in der Mauer, durch das Sonnenstrahlen hineinfielen.

Das Loch war nur eine Handbreit, und somit viel zu klein, um hindurch zu gelangen.

Kurz überlegte Evan, ob er die marode Wand zum Einsturz bringen könnte, aber den Gedanken hatte er schnell wieder aufgegeben.

Evan wollte so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen, da wäre dies die schlechteste Wahl, die er treffen konnte.

Ein Ausweg sollte ihm aber nur kurz darauf offenbart werden.

Eine Gittertür, die hinauf auf die Straße zu führen schien, stand einen Spalt offen. So als hätte jemand für ihn einen Weg hinaus geebnet.

Lange musste er nicht überlegen.

Um dem Gestank und den Ratten zu entkommen zögerte er nicht und ging durch die Tür hindurch.

Evan gelangte so in das Armenviertel von Rabensberg.

Die Straße war ein einziger matschiger Pfad, durchzogen von tiefen Furchen und Pfützen, die das trübe Wasser widerspiegelten.

Hier und da drängten sich schmutzige Kinder in zerlumpten Kleidern durch die engen Gassen, auf der Suche nach irgendetwas Essbarem.

Die Bewohner des Viertels, gekleidet in zerfetzte und von der Zeit gezeichneten Gewändern, wanderten mit müden Schritten durch die morastigen Wege.

Ihre Gesichter spiegelten ihre Erschöpfung wider.

Manche hielten sich hustend an den Wänden der maroden Häuser fest, während andere mit düsterem Blick in die Ferne starrten, als ob sie nach Hoffnung in der trostlosen Umgebung suchten.

Die alten Fachwerkhäuser wirkten wie stumme Zeugen vergangener Tage, als das Viertel vielleicht noch einen Hauch von Würde trug.

Jetzt aber schienen sie unter der Last der Jahre zu knarren und zu ächzen.

Die Fenster, nur noch rudimentäre Überreste ihrer einstigen Pracht, waren mit schmutzigen Lappen notdürftig verhängt, um den morgendlichen Herbstwind draußen zu halten.

In dieser düsteren Kulisse vermischten sich die Geräusche des Stadtlebens mit dem tristen Gemurmel der Bewohner, die versuchten, sich in dieser rauen Realität zurechtzufinden.

Es war kaum vorstellbar, dass es solch ein Viertel in der Hauptstadt des glorreichen Königreichs Brünnen gab. Doch so sah die Realität aus.

Am besten sollte sich niemand hierher verirren.

Tatsächlich war dies auch das einzige Viertel, das Evan von der Stadt bisher zu Gesicht bekommen hatte.

Hier stellte niemand Fragen danach, wer er war und woher er kam.

Solange er keinen klimpernden Geldbeutel oder offenkundig wertvolle Gegenstände bei sich trug, würdigte niemand ihn auch nur eines Blickes.

Die Bewohner dieses Stadtteils hatten ihre eigenen Probleme.

Ab und an konnte Evan einen einsamen Soldaten der Stadtwache durch die schmutzigen Gassen streifen sehen.

Die Rüstungen der Wachen stachen inmitten des tristen Bildes hervor. Sie galten als Hüter für Recht und Ordnung.

Doch die traurige Wahrheit war, dass die Wachleute mehr wie schattenhafte Beobachter wirkten.

Ihre Augen glitten gleichgültig über die elenden Straßen und die gezeichneten Gesichter der Armen. Doch von Mitgefühl keine Spur.

Sie machten einen großen Bogen um die Kranken, als wäre die bloße Berührung mit ihrem Leid ansteckend.

Evan konnte sehen, wie sie absichtlich die Blicke abwandten, ihre Nasen rümpften und so taten, als existiere das Elend um sie herum nicht.

In ihrer Gier nach Münzen ließen sich die Stadtwachen von den zwielichtigen Gestalten des Viertels bestechen.

Sie schauten weg, wenn die Diebe ihre Beute unter den, sonst so wachsamen, Augen der Wachen stahlen, und ignorierten das verzweifelte Flehen derer, die ihre Hilfe benötigten.

Bestechungsgelder wechselten die Besitzer, und im Gegenzug drückten die Soldaten ein Auge zu, wenn etwas Verbotenes geschah.

Sie waren nicht die Helden, in strahlender Rüstung, die das Armenviertel vor Unrecht und Gefahr schützten; stattdessen dienten sie eher als stumme Zeugen der Unterdrückung und des Elends.

Wenn ein unbeteiligter Passant den Weg eines Stadtwächters kreuzte, erwartete ihn oft ein rücksichtsloses Aufeinandertreffen.

Die Wachen stießen die unglücklichen Seelen zur Seite, als seien sie nichts weiter als lästige Hindernisse auf ihrem Weg zu wichtigeren Dingen.

Evan huschte durch eine enge Gasse, an deren Ende einige Menschen versammelt auf dem Boden saßen. Sie diskutierten. Über was, das konnte der Halbdämon nicht verstehen.

Am ganzen Leib waren sie von Schmutz bedeckt und ihre Kleidung war mottenzerfressen und löste sich im Nichts auf.

Es gab keinen anderen Ort in Brünnen, der so sehr nach Armut schrie und vor allem stank, wie das Armenviertel von Rabensberg, das eigentlich den Namen Lunde trug und einst als Umschlagplatz für den Handel errichtet wurde.

Nachdem dieser aber verlegt wurde, nisteten sich die Ärmeren dort ein und es dauerte nicht lange, ehe auch die zwielichtigen Gestalten des Landes sich dort niederließen.

Jeder, der etwas Kriminelles plante oder vor der Justiz flüchtete, war hier bestens aufgehoben, sofern er gefälschte Ausweispapiere besaß, genug Münzen auf Tasche hatte oder wie Evan einen anderen Weg hineinfand.

Er war fest davon überzeugt, dass die Obrigkeiten von diesen Ungerechtigkeiten wussten, doch ihre Gleichgültigkeit sprach Bände. Vielleicht hegte man sogar eine stille Zufriedenheit darüber, die Ärmsten der Gesellschaft hinter den Mauern zu isolieren und sie so von den anderen Vierteln abzuschotten zu können.

Als Evan in eine andere Gasse abbiegen wollte, stellte sich ihm eine, ihm unbekannte, Dame entgegen.

Sie stank nach Schweiß und Ruß. Die Haare waren fettig und eine graublonde Strähne klebte an ihrer verschwitzten Stirn.

Sie war nur leicht bekleidet, mit einem zerschlissenen Rock und enggeschnürtem Korsett. Ihr Dekolté bot tiefe Einblicke.

»Na, hübscher, suchst du nach einem Abenteuer?«, säuselte sie und enthüllte dabei ihre schwarz verfärbten Zähne, als sei dies ihr verführerischstes Lächeln.

Evan zog eine Augenbraue hoch und erwiderte kalt: »Danke, aber heute nicht.«

Seine Ablehnung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Blick vor angewidertem Unbehagen zurückwich.

Die Dirne spuckte ihre Worte wie giftige Pfeile aus: »Dann verpiss dich!«, zischte sie. »Du Hundesohn, hau ab, bevor ich persönlich dafür sorge, dass dir alle Knochen gebrochen werden.«

Unbeeindruckt von ihren Drohungen drängte sich Evan an ihr vorbei, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.

Entschlossen setzte er seinen Weg durch die Gasse fort, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.

Die freche Stimme der Frau verfolgte ihn jedoch weiterhin wie ein aufdringliches Echo, als sie sich einem anderen Mann anbot. »Na aber sicher, hübsche Maid.« * hicks *

Ein Ausdruck des Ekels legte sich auf Evans Gesicht, und er schüttelte sich gründlich, als wolle er die Worte von sich loswerden.

Als das Ende der Gasse erreicht war, erblickte er gegenüber einer mit Pfützen gesäumten, gepflasterten Straße eine Taverne. Auf dem Holzschild, über der maroden Eingangstür, stand »Zum Henkersmann« geschrieben und die Abbildung einer Axt war deutlich in das Holz gebrannt.

Er blickte nach links und dann nach rechts. Er wusste, dass sich niemand um sein Dasein scherte, aber er wollte sicher gehen, dass nicht auch die Dämonenjäger im Armenviertel unterwegs waren.

Bis auf ein paar Bettler und zwielichtige Gestalten, denen er selbst sich nicht zugehörig fühlte, war die Straße menschenleer. Weder Wachen noch Dämonenjäger waren zu sehen.

Evan zog seine Kapuze tief in sein Gesicht und überquerte raschen Schrittes die Straße.

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Kapitel 2
Jäger und Gejagte

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Teil 1

Der Karren polterte über den schmalen Weg und wirbelte Staub auf, während die Stute schnaubend das schwere Gefährt hinter sich herzog.

In eine Decke gehüllt, versuchte Leuven der klirrenden Kälte zu entkommen, die an diesem frostigen Morgen in den Vorlanden von Rabensberg herrschte.

Seine Finger spürte er kaum noch. Sie waren vom frostigen Wind des Morgens taub geworden, fühlten sich wie Fremdkörper an.

Der Nebel waberte um den Karren herum und erschwerte die Sicht.

Ein Schauder lief dem jungen Mann über den Rücken. Er fürchtete, dass jeden Moment eine wilde Bestie vor dem Wagen erscheinen und ihn angreifen könnte.

Beunruhigt warf der junge Mann immer wieder Blicke an den Wegesrand. Unzählige Pfähle ragten aus dem feuchten Boden hinaus.

Auf ihnen thronten grausige Köpfe, aufgespießt und starr. Ihre leblosen Augen, aus denen der Tod starrte, schienen Leuven förmlich hinterherzuschauen.

Die Haut war verwittert und von Maden zerfressen, und die Zähne grinsten in makabren Lächeln.

Der Nebel umkreiste sie, wie eine unruhige Seele, die nach ihrem Körper schmachtete.

Der junge Mann zuckte zusammen, als eine Krähe krächzend auf einem der Schädel landete und ihren Schnabel in dessen leere Augenhöhle bohrte, um einige Fetzen Fleisch herauszupicken.

Die Gesichter waren kaum noch zu erkennen, ob es sich einst um Menschen, Tiere oder gar Monster gehandelt hatte, konnte Leuven nur erahnen. Abgenagt, verwittert, ein stummes Zeugnis von Leid und Tod.

Mit einem mulmigen Gefühl wandte er seinen Blick ab und drehte sich zu Evan um, der auf seinem Karren hinter der Plane saß.

Inmitten von Kisten und Bündeln hatte er es sich bequem gemacht, anscheinend unbeeindruckt von den grässlichen Bildern am Wegesrand.

»Die Gegend um Harendorf war eindeutig ansprechender. Ich kann nicht glauben, dass es rund um die Hauptstadt so nach Tod und Verwesung riecht«, bemerkte der Kaufmann naserümpfend, als ihm ein übler, fauliger Geruch in die Nase stieg.

»Sie sollen als Mahnmale dienen«, gab Evan zurück und streckte seinen Kopf aus der Plane hervor.

»Mahnmale? Wenn sie vorhaben, ehrliche Kaufleute wie mich abzuschrecken, dann haben sie Erfolg. Allein würde ich nicht auf diesen Wegen wandern«, erwiderte Leuven. Gänsehaut machte sich auf seinem Rücken breit, und er schüttelte sich vor Ekel.

»Nun ja, diese Wege werden in der Regel von den Reisenden gemieden. Vielmehr sollen sie Dämonen und zwielichtige Gestalten fernhalten. Glaub mir, die Hauptstraße ist äußerst sicher.«

Leuven seufzte und verdrehte seine Augen. »Die wollte ich ja auch nehmen, aber weil du so paranoid bist, musste ich einen Umweg fahren.«

»Die Hauptstraße wird von Soldaten patrouilliert. Sie durchsuchen jeden einzelnen Wagen. Sobald wir an der Kreuzung sind, kannst du auf die Hauptstraße abbiegen, aber ich muss einen anderen Weg in die Stadt hineinnehmen.«

Der Kaufmann stieß ein hämisches Lachen aus. »Du hast es auch irgendwie in die Burg von Dancker geschafft. Jetzt aber machst du dir Sorgen?«

»Die Burg eines Fürsten niederen Standes ist auch etwas anderes als die Hauptstadt von Brünnen. Nicht einmal eine Fliege schafft es durch die Tore ohne Ausweispapiere. Ich hoffe doch, dass du deine dabeihast.«

Leuven nickte selbstbewusst. »Aber natürlich habe ich sie dabei. Es wäre auch verrückt, wenn nicht. Aber ich schätze, du hast keine?«

Evan kroch hinter der Plane hervor, kletterte auf den Kutschbock und nahm neben den Kaufmann Platz. »Ich besitze sie noch, aber sie werden mir wohl kaum hilfreich sein.«

»O, der Halbdämon hat Ausweispapiere. Da bin ich aber schon ein wenig überrascht.«

Ein böser Blick traf den jungen Mann.

»Ich war mal ein Mensch, das habe ich dir doch erzählt«, schnaubte Evan. »Aber du hast doch gesehen, welche Schwierigkeiten wir hatten, in die Burg von Lord Dancker zu kommen. Außerdem sieht man mir wohl meine dreiundfünfzig Jahre nicht an.«

Leuven riss so abrupt an den Zügeln, dass die Stute laut wieherte und wild mit den Hufen scharrte. »Dreiundfünfzig?« fragte er erstaunt.

Der Wagen schaukelte heftig, und aus dem Inneren drang das Klirren von umfallenden Kisten.

»Pass doch auf!«, schimpfte der Halbdämon, der sich an der Bank des Bocks festhalten musste, um nicht hinunterzufallen. »Ja, du hast schon richtig gehört. Ich altere nun einmal… anders.«

Die Stute beruhigte sich wieder und nahm einen gleichmäßigen Schritt an.

Leuven lachte auf. »Hätte ich das gewusst. Hier, vielleicht solltest du meine Decke nehmen. Ich will ja nicht, dass sich der alte Mann erkältet.«

»Wenn du nicht aufhörst, kriegst du ein paar aufs Maul«, entgegnete Evan ihm bellend. »Schau gefälligst auf die Straße oder willst du uns umbringen?«

»Tja, an dir nagt doch schon der Zahn der Zeit.« Der Kaufmann brach in gellendes Gelächter aus.

Ein lautes Klatschen ertönte in der finsteren Umgebung.

Der Schmerz zog durch Leuvens gesamten Unterkiefer.

Evan schlug nicht kraftvoll zu, doch für den jungen Mann war es Warnung genug.

Der Halbdämon war offenkundig nicht für Späße aufgelegt.

Zitternd öffnete Leuven den Mund. Eine leise Entschuldigung rang sich über seine Lippen.

Der Halbdämon saß mit verschränkten Armen und finsterem Blick neben ihm. Schließlich seufzte er. »Schon gut. Verzeih mir. Ich habe aber auch nicht hart zugeschlagen.«

»Fühlte sich auch nicht so an.« Eine Träne des Schmerzes rann über Leuvens Wange. »Ich spüre es kaum.«

»Weißt du, ich bin nicht glücklich über den Umstand. Es gab eine Zeit, da war alles viel einfacher, aber es sind fast nur noch flüchtige Bilder, die durch meinen Kopf wandern.« Evan blickte verträumt in den dichten Nebel, dann zog er ein kleines Stück Pergament aus seiner Gürteltasche.

»Es geht dich zwar nichts an, aber ich denke, dir kann ich es ruhig zeigen. Hier stehen alle Namen drauf, die ich im Laufe der Zeit zusammentragen konnte.«

»Namen?« Leuven warf einen flüchtigen Blick auf das Pergament, ehe er seinen Blick wieder auf die Straße richtete. »Was für Namen denn?«

»Namen von verschiedenen Personen. Einige konnte ich bereits durchstreichen, andere kommen frisch hinzu. Die Liste scheint endlos, aber sie ist es, die mich am Leben hält. Ich werde nicht aufgeben und erst aufhören, wenn ein jeder Name auf dieser Liste durchgestrichen ist und kein neuer hinzukommt.«

»Die Liste hält dich also am Leben? Sind es denn besondere Personen?«

Evan wandte seinen Blick ab. »Mindestens einer von ihnen ist dafür verantwortlich, dass ich mein Leben als Halbdämon fristen muss.«

»Hmm«, Leuven schaute bedrückt zu seinem Begleiter hinüber. »Und wie sieht es mit Familie aus?«

»Es gibt nur mich und die Liste.«

»Darf ich fragen, was geschehen ist, was haben diese Personen mit dir gemacht?«

Einen Moment der Stille später, als Leuven schon fast die Hoffnung auf eine Antwort aufgegeben hatte, begann Evan mit leiser Stimme zu sprechen: »Falls du dich erinnerst, habe ich dir bereits erzählt, dass mir mein Herz herausgerissen wurde. Diese Personen könnten dafür verantwortlich sein. Seit fast zwanzig Jahren bin ich schon auf der Suche.«

»Seit zwanzig Jahren und du bist immer noch auf der Suche?«, wiederholte der junge Kaufmann, obwohl er es sofort bereute.

»Leider stellte sich die Suche als schwerer heraus, als ich anfangs angenommen hatte. Ich konnte schon einige Namen streichen, aber nur wenige waren hilfreich.«

Kurz war Leuven wie erstarrt. Er konnte sich die Qualen, die Evan durchmachen musste, nicht vorstellen.

»Hast du denn mittlerweile genauere Informationen?«, entfuhr es ihm, als er nach Luft schnappte.

»Mehr oder weniger.« Evan blickte mit Wut in den Augen auf seine Liste.

Leuven erinnerte sich an die langgezogene Narbe auf Evans Brust. Also schien seine Geschichte wahr zu sein, und er hatte ihn nicht zum Narren halten wollen.

»Bist du deshalb auf dem Weg nach Rabensberg?«, fragte er erstaunt.

»Das ist richtig.«

Beide schwiegen sich kurz an.

Plötzlich schrie der Halbdämon auf. »Stop! – Halte sofort an!«

Irritiert blickte der junge Kaufmann in den tiefen Nebel hinein. Als er erkannte, was sich vor ihnen verbarg, zog er mit aller Kraft an den Zügeln.

Laut protestierend hob die Stute ihre muskulösen Beine in die Luft und stieß wiehernd Dampf aus ihren Nüstern.

Ruckartig blieb der Wagen stehen.

»Bei den Göttern, wir haben eindeutig den falschen Weg gewählt«, merkte Leuven an und vergrub sich in seiner Decke.

Leuven erkannte fünf leblose Körper, die den Weg vor ihnen säumten.

Ihre Gesichter verzerrt und die Gliedmaßen von ihren Körpern gestreckt. Vereinzelt fehlte gar ein Arm oder ein Bein.

Der Nebel umhüllte die Leichen wie ein trauriger Schleier.

Leuven konnte bei zweien nicht einmal das Geschlecht bestimmen, so entstellt waren ihre Körper durch die gnadenlose Gewalt, die ihnen zu Teil geworden war.

Ihr Blut, ein düsterer Wegweiser.

Evan sprang energisch vom Karren und inspizierte die leblosen Körper.

Beunruhigt fragte Leuven vom Kutschbock aus: »Waren es Karraks?«

Die schreckliche Begegnung mit diesen abscheulichen Kreaturen hatte ihm genug grausige Träume bereitet.

»Nein«, antwortete Evan, seine Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Besorgnis. »Die Spuren passen nicht zu Karraks. Es muss etwas Größeres gewesen sein.«

Leuvens Körper spannte sich an und Gänsehaut überzog seinen gesamten Körper.

Als Evan sich erhob, durch den Nebel in die Ferne blickte und kurz darauf im milchigen Schleier verschwand, brachte dies den jungen Kaufmann endgültig aus der Fassung. »Evan? – Evan, was zum Teufel tust du da, wo bist du?«

Es war still, ehe sich, nach einer Weile, eine schwarze Silhouette im Nebel abbildete und Evan wieder vor dem Karren erschien.

»Es müssen Flüchtlinge gewesen sein, auf dem Weg in die Hauptstadt. Dort vorne ist eine völlig zerstörte Kutsche, aber es befindet sich nichts Wertvolles darin. Etwas halbverdautes Essen, ein paar zerlumpte Kleidungsstücke«, erklärte Evan, während er auf die Leichen hinabschaute und sie inspizierte. »Wer sollte sonst so verrückt sein, diesen Weg zu nehmen? Vielleicht Flüchtlinge aus dem Osten.«

»Wer sollte sonst so verrückt sein und diesen Weg nehmen? – Wir, Evan, wir!«, protestierte Leuven und rutschte aufgeregt in die Mitte der Sitzbank.

Evan zuckte mit den Achseln und schaute seinen Begleiter trocken an. »Ja, schon gut, außer uns natürlich.« Er stieg wieder auf den Kutschbock und drängte Leuven auf seine Seite zurück. »Los jetzt, wir sollten weiterfahren.«

»Bist du verrückt?«, polterte Leuven. »Keinen Meter werde ich weiterfahren.«

»Leuven, ich weiß nicht, was in diesem Nebel ist, also setz gefälligst den Wagen in Bewegung, ansonsten schmeiß ich dich herunter und übernehme selbst die Zügel. Ist es das, was du willst?« Evans Worte waren bedrohlich und seine Augen vermittelten Entschlossenheit.

»Schon gut, schon gut. Du solltest an deinen Aggressionen arbeiten, aber wirklich«, stammelte der junge Mann und zog an den Zügeln. Der Wagen setzte sich, mit einem Ruck, wieder in Bewegung.

Ein beängstigendes Geräusch durchschnitt die Luft, als der Wagen über die Leichen fuhr. Leuven versuchte, sie geschickt zu umfahren, doch der Nebel erschwerte seine Sicht.

»Absolut abscheulich«, entfuhr es ihm, als er das brechende Geräusch eines Schädels wahrnahm, der unter der Last eines der Wagenräder zerquetscht wurde. »Hoffentlich finden ihr nun Frieden, wo auch immer eure Reise euch nun hinführt.«

»Für die ist es leider zu spät, aber ich möchte gerne aus diesem Nebel heraus, also spurte dich.« Leuven schüttelte den Kopf über Evans scheinbare Gefühllosigkeit.

Es dauerte eine Weile, bis der Nebel sich lichtete und die Sonne am Horizont in roten und orangefarbenen Tönen aufging.

Ein großer Baum gab sich zu erkennen, an dessen schwarzen, toten Ästen die Leichen verschiedener Kreaturen baumelten.

»Dafür werden wohl kaum die Soldaten des Königs verantwortlich sein. Das sieht nach dem Werk der Jägergilde aus«, sagte Evan mit leiser Stimme. Er zog die Stirn kraus. Es war unschwer zu erkennen, dass er besorgt war.

»Du meinst die Dämonenjäger? – Hier in Rabensberg?«, fragte Leuven überrascht und mit einem Hauch von Neugier.

»Seit sie sich von der Kirche losgesagt haben, operieren sie unabhängig und über die Grenzen hinaus.«

»Das ist mir durchaus bewusst, aber ich habe noch nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Vielleicht treffe ich ja auf einen von ihnen.«

»Man sollte ihnen besser aus dem Weg gehen«, gab Evan zurück.

»Wieso denn das? – Ich habe allerhand abenteuerlicher Geschichten über sie gehört, es wäre sicher spannend, einen von ihnen persönlich zu treffen.«

Der Halbdämon schaute ihn durchdringend an. »Nicht alles, was man so über sie hört, entspricht der Wahrheit.« Er zog seinen Reisesack hervor. »Im Übrigen trennen sich hier unsere Wege.«

Leuven ließ enttäuscht die Schultern hängen.

»Und was wirst du tun?«, fragte er mit trauriger Stimme.

Leuvens zu fester Griff in die Zügel ließ die Stute abrupt stoppen. Ein lautes Klirren und Krachen ertönte aus dem Inneren des Wagens, als die Kisten durch die plötzliche Bewegung wild durcheinandergewirbelt wurden.

»Ich werde einen alten Bekannten aufsuchen, aber ich muss einen anderen Weg in die Stadt finden.« Evan nickte zum Abschied und sprang vom Wagen hinab.

Er verzog dabei keine Miene. Sein Gesicht strahlte Eiseskälte aus.

Hätte er gekonnt, hätte sich Leuven vielleicht vor Evan verbeugt, doch er nickte einfach zurück. »Es war mir eine Ehre, dich kennengelernt zu haben. Gehab’ dich wohl, auf dass wir uns irgendwann wiedersehen.«

Ohne einen Blick zurück auf den weiterfahrenden Wagen zu werfen, schritt Evan davon.

Er spürte, dass die Augen des Kaufmanns noch auf ihm ruhten, als sie sich langsam voneinander entfernten.

Einfältiger Leuven, dachte Evan, hatte er etwa geglaubt, dass wir auf ewig zusammenreisen würden?

»Aber eines muss ich wohl zugeben, ich hätte nicht gedacht, dass er all das auf sich nimmt«, flüsterte er sich selbst zu.

Schnell verdrängte er seine Gedanken.

Als er von einer Anhöhe hinab in das Tal blickte, waren seine Augen auf die hohen Türme und die Mauer gerichtet, die Rabensberg umgaben und die er in der Ferne bereits erspähen konnte.

Der aufsteigende Rauch der vielen Schornsteine vermischte sich mit dem Nebel, der noch über der Hauptstadt schwebte.

Seit dem Ende des großen Krieges gegen das Cardíz Imperium thronte Rabensberg als neue Hauptstadt des Reiches, nachdem die Hafenstadt Thaburg in der finalen Schlacht gegen die imperialen Eindringlinge dem Erdboden gleichgemacht worden war.

Aber zu der Zeit hatte selbst Evan noch nicht gelebt, weshalb auch er nur aus Geschichten über die heldenhaften Soldaten hörte, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um die letzte Bastion zu verteidigen.

Auch wenn die Hauptstadt fiel, so sammelten die letzten Streitkräfte Mut und Willen und konnten einen Großteil ihrer Heimat zurückerobern und den Feind vertreiben.

Rabensberg war zwar fernab von der Küste gelegen, dennoch war sie schnell zum Mittelpunkt des Handels im Königreich geworden und war ebenfalls vor Angriffen von der See geschützt.

Ein ums andere Mal war Evan bereits in Rabensberg, doch wieder und wieder musste er sich einen neuen Weg hinein suchen.

Jedes Mal, wenn er aufs Neue in die Stadt gelangen wollte, war der Weg, den er zuvor nahm, entweder von den Wachen versperrt worden oder zugemauert.

Er wusste nie, welchen Weg er hineinnehmen konnte und suchte jedes Mal nach einem neuen Schlupfloch.

Es war bereits Mittag und die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt, als er die Stadtmauer über ein kleines Waldstück erreichte.

Der Gestank von Fäkalien drang durch seine Nase und brachte seine Augen zum tränen.

Vor ihm befand sich der Ausgang der Kanalisation, ein fast zwei Meter hohes und breites Tor aus rostigem Eisen. Morast sickerte durch die dicken Streben.

Der Baumeister hatte offenbar bewusst darauf verzichtet, das Abwasser in einen Fluss oder Bach abzuleiten. Stattdessen ergoss sich die stinkende Brühe ungehindert vor die Mauern der Stadt, wo sie einen übelriechenden See aus Fäkalien bildete.

Evan kannte diesen Weg in die Stadt hinein, doch beim letzten Mal hatte sich noch niemand die Mühe gemacht, ein Eisengitter anzubringen.

Offenbar drangen bereits mehrere zwielichtige Gestalten durch die Kanalisation in die Stadt, was dazu führte, dass nun auch dieser Weg versperrt war.

Evan watete naserümpfend durch den Schlick.

Sich so Eintritt in die Stadt zu verschaffen gefiel ihm nicht, aber ihm blieb auch nichts anderes übrig. Er spürte den Ekel an seinem gesamten Körper.

Evan rüttelte an dem Eisengitter. Eine der Stangen brach dabei aus der Mauer.

Wie lange war ich nicht mehr hier?, überlegte der Halbdämon, als er die rostige Stange in seiner Hand hielt.

Ja, er hatte mehr Kraft in den Händen als ein gewöhnlicher Mensch, aber mit nur wenig Anstrengung hatte er bereits die zweite Eisenstange aus seiner Verankerung gelöst.

Evan wollte gar nicht wissen, was außer Fäkalien durch den Abfluss abgeleitet wurde, dass das Gitter so sehr zersetzte.

Sein Gesicht verzog sich, als er den Gestank aus dem Inneren wahrnahm.

Der Halbdämon bestieg die Kanalisation und wagte sich tief hinein. Je weiter er Schritt, desto kräftiger wurde der unangenehme Geruch.

Neben der braunen Suppe, die zwischen seinen Stiefeln nach draußen floss, klebten an den Wänden auch andere, unappetitlich anzuschauende Dinge.

Er konnte nicht genau erkennen, was die klebrige, grüne Masse war, die er neben seinem Kopf entdeckte, aber er wollte es auch nicht wirklich erfahren.

Durch den Morast schwammen einige Ratten, die den Halbdämon ächzend anschrien und durch ihre glühenden Augen finster anstarrten.

Evan hasste Ratten. Er hatte kein Problem damit gegen Dämonen oder gefräßige Monster zu kämpfen, aber wenn er eine Ratte erblickte, löste das einen Schauer bei ihm aus.

Das lag wohl an einem Zwischenfall, der schon einige Jahre zurücklag.

Damals war er in einer kleinen Küstenstadt unterwegs. Leider kam er zur falschen Zeit, denn in diesem Jahr brach die Pest dort aus und Schwärme von Ratten überfielen die Stadt.

In einem beinahe aussichtslosen Kampf ums Überleben begruben diese bösartigen Nager ihn unter sich.

Evan hatte schon vor Augen, wie sie ihn bei lebendigem Leibe auseinanderreißen würden.

Er schüttelte sich. Kein weiterer Gedanke sollte an jene Situation verschwendet werden.

Evan versuchte die Nager zu ignorieren und so schnell wie möglich ans Ende der Kanalisation zu gelangen.

Je tiefer er in den stinkenden Tunnel eintauchte, desto enger fühlte er sich an. Die Wände schienen immer dichter zu kommen. Ein beklemmendes Gefühl überkam den Halbdämon.

Nach einer Weile entdeckte er ein Loch in der Mauer, durch das Sonnenstrahlen hineinfielen.

Das Loch war nur eine Handbreit, und somit viel zu klein, um hindurch zu gelangen.

Kurz überlegte Evan, ob er die marode Wand zum Einsturz bringen könnte, aber den Gedanken hatte er schnell wieder aufgegeben.

Evan wollte so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen, da wäre dies die schlechteste Wahl, die er treffen konnte.

Ein Ausweg sollte ihm aber nur kurz darauf offenbart werden.

Eine Gittertür, die hinauf auf die Straße zu führen schien, stand einen Spalt offen. So als hätte jemand für ihn einen Weg hinaus geebnet.

Lange musste er nicht überlegen.

Um dem Gestank und den Ratten zu entkommen zögerte er nicht und ging durch die Tür hindurch.

Evan gelangte so in das Armenviertel von Rabensberg.

Die Straße war ein einziger matschiger Pfad, durchzogen von tiefen Furchen und Pfützen, die das trübe Wasser widerspiegelten.

Hier und da drängten sich schmutzige Kinder in zerlumpten Kleidern durch die engen Gassen, auf der Suche nach irgendetwas Essbarem.

Die Bewohner des Viertels, gekleidet in zerfetzte und von der Zeit gezeichneten Gewändern, wanderten mit müden Schritten durch die morastigen Wege.

Ihre Gesichter spiegelten ihre Erschöpfung wider.

Manche hielten sich hustend an den Wänden der maroden Häuser fest, während andere mit düsterem Blick in die Ferne starrten, als ob sie nach Hoffnung in der trostlosen Umgebung suchten.

Die alten Fachwerkhäuser wirkten wie stumme Zeugen vergangener Tage, als das Viertel vielleicht noch einen Hauch von Würde trug.

Jetzt aber schienen sie unter der Last der Jahre zu knarren und zu ächzen.

Die Fenster, nur noch rudimentäre Überreste ihrer einstigen Pracht, waren mit schmutzigen Lappen notdürftig verhängt, um den morgendlichen Herbstwind draußen zu halten.

In dieser düsteren Kulisse vermischten sich die Geräusche des Stadtlebens mit dem tristen Gemurmel der Bewohner, die versuchten, sich in dieser rauen Realität zurechtzufinden.

Es war kaum vorstellbar, dass es solch ein Viertel in der Hauptstadt des glorreichen Königreichs Brünnen gab. Doch so sah die Realität aus.

Am besten sollte sich niemand hierher verirren.

Tatsächlich war dies auch das einzige Viertel, das Evan von der Stadt bisher zu Gesicht bekommen hatte.

Hier stellte niemand Fragen danach, wer er war und woher er kam.

Solange er keinen klimpernden Geldbeutel oder offenkundig wertvolle Gegenstände bei sich trug, würdigte niemand ihn auch nur eines Blickes.

Die Bewohner dieses Stadtteils hatten ihre eigenen Probleme.

Ab und an konnte Evan einen einsamen Soldaten der Stadtwache durch die schmutzigen Gassen streifen sehen.

Die Rüstungen der Wachen stachen inmitten des tristen Bildes hervor. Sie galten als Hüter für Recht und Ordnung.

Doch die traurige Wahrheit war, dass die Wachleute mehr wie schattenhafte Beobachter wirkten.

Ihre Augen glitten gleichgültig über die elenden Straßen und die gezeichneten Gesichter der Armen. Doch von Mitgefühl keine Spur.

Sie machten einen großen Bogen um die Kranken, als wäre die bloße Berührung mit ihrem Leid ansteckend.

Evan konnte sehen, wie sie absichtlich die Blicke abwandten, ihre Nasen rümpften und so taten, als existiere das Elend um sie herum nicht.

In ihrer Gier nach Münzen ließen sich die Stadtwachen von den zwielichtigen Gestalten des Viertels bestechen.

Sie schauten weg, wenn die Diebe ihre Beute unter den, sonst so wachsamen, Augen der Wachen stahlen, und ignorierten das verzweifelte Flehen derer, die ihre Hilfe benötigten.

Bestechungsgelder wechselten die Besitzer, und im Gegenzug drückten die Soldaten ein Auge zu, wenn etwas Verbotenes geschah.

Sie waren nicht die Helden, in strahlender Rüstung, die das Armenviertel vor Unrecht und Gefahr schützten; stattdessen dienten sie eher als stumme Zeugen der Unterdrückung und des Elends.

Wenn ein unbeteiligter Passant den Weg eines Stadtwächters kreuzte, erwartete ihn oft ein rücksichtsloses Aufeinandertreffen.

Die Wachen stießen die unglücklichen Seelen zur Seite, als seien sie nichts weiter als lästige Hindernisse auf ihrem Weg zu wichtigeren Dingen.

Evan huschte durch eine enge Gasse, an deren Ende einige Menschen versammelt auf dem Boden saßen. Sie diskutierten. Über was, das konnte der Halbdämon nicht verstehen.

Am ganzen Leib waren sie von Schmutz bedeckt und ihre Kleidung war mottenzerfressen und löste sich im Nichts auf.

Es gab keinen anderen Ort in Brünnen, der so sehr nach Armut schrie und vor allem stank, wie das Armenviertel von Rabensberg, das eigentlich den Namen Lunde trug und einst als Umschlagplatz für den Handel errichtet wurde.

Nachdem dieser aber verlegt wurde, nisteten sich die Ärmeren dort ein und es dauerte nicht lange, ehe auch die zwielichtigen Gestalten des Landes sich dort niederließen.

Jeder, der etwas Kriminelles plante oder vor der Justiz flüchtete, war hier bestens aufgehoben, sofern er gefälschte Ausweispapiere besaß, genug Münzen auf Tasche hatte oder wie Evan einen anderen Weg hineinfand.

Er war fest davon überzeugt, dass die Obrigkeiten von diesen Ungerechtigkeiten wussten, doch ihre Gleichgültigkeit sprach Bände. Vielleicht hegte man sogar eine stille Zufriedenheit darüber, die Ärmsten der Gesellschaft hinter den Mauern zu isolieren und sie so von den anderen Vierteln abzuschotten zu können.

Als Evan in eine andere Gasse abbiegen wollte, stellte sich ihm eine, ihm unbekannte, Dame entgegen.

Sie stank nach Schweiß und Ruß. Die Haare waren fettig und eine graublonde Strähne klebte an ihrer verschwitzten Stirn.

Sie war nur leicht bekleidet, mit einem zerschlissenen Rock und enggeschnürtem Korsett. Ihr Dekolté bot tiefe Einblicke.

»Na, hübscher, suchst du nach einem Abenteuer?«, säuselte sie und enthüllte dabei ihre schwarz verfärbten Zähne, als sei dies ihr verführerischstes Lächeln.

Evan zog eine Augenbraue hoch und erwiderte kalt: »Danke, aber heute nicht.«

Seine Ablehnung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Blick vor angewidertem Unbehagen zurückwich.

Die Dirne spuckte ihre Worte wie giftige Pfeile aus: »Dann verpiss dich!«, zischte sie. »Du Hundesohn, hau ab, bevor ich persönlich dafür sorge, dass dir alle Knochen gebrochen werden.«

Unbeeindruckt von ihren Drohungen drängte sich Evan an ihr vorbei, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.

Entschlossen setzte er seinen Weg durch die Gasse fort, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.

Die freche Stimme der Frau verfolgte ihn jedoch weiterhin wie ein aufdringliches Echo, als sie sich einem anderen Mann anbot. »Na aber sicher, hübsche Maid.« * hicks *

Ein Ausdruck des Ekels legte sich auf Evans Gesicht, und er schüttelte sich gründlich, als wolle er die Worte von sich loswerden.

Als das Ende der Gasse erreicht war, erblickte er gegenüber einer mit Pfützen gesäumten, gepflasterten Straße eine Taverne. Auf dem Holzschild, über der maroden Eingangstür, stand »Zum Henkersmann« geschrieben und die Abbildung einer Axt war deutlich in das Holz gebrannt.

Er blickte nach links und dann nach rechts. Er wusste, dass sich niemand um sein Dasein scherte, aber er wollte sicher gehen, dass nicht auch die Dämonenjäger im Armenviertel unterwegs waren.

Bis auf ein paar Bettler und zwielichtige Gestalten, denen er selbst sich nicht zugehörig fühlte, war die Straße menschenleer. Weder Wachen noch Dämonenjäger waren zu sehen.

Evan zog seine Kapuze tief in sein Gesicht und überquerte raschen Schrittes die Straße.

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