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Kapitel 1: Rote Augen

Beschreibung: Der reisende Händler Leuven hält mit seinem Planwagen am Wegesrand, um sich auszuruhen, als er merkwürdige Geräusche aus dem Wald hört. Vielleicht wäre es für ihn besser gewesen, zu Hause zu bleiben, anstatt in die dunkle und brutale Welt hinauszugehen. Doch ein Fremder eilt ihm zu Hilfe. Dieser Fremde scheint jedoch kein normaler Mensch zu sein.

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Teil 2

Ein kräftiger Ruck weckte Leuven am nächsten Morgen.

Durch einen kleinen Schlitz in der Plane schien die Sonne in sein Gesicht und blendete ihn.

Der Wagen wankte von rechts nach links, vor und zurück.

Aufgeregt reckte der junge Kaufmann seinen Kopf aus dem Wagen hinaus. Ein Ast peitschte ihm dabei kräftig gegen die Wange und hinterließ einen sich rötende Stelle.

»Verdammt«, stöhnte er laut auf.

Leuven blickte sich um. Sein Karren befand sich nicht mehr am Wegesrand. Ruckartig blieb dieser stehen.

Erschrocken musste er feststellen, dass ihn irgendjemand oder irgendetwas in den Wald gezogen hatte.

»Nein, nein, nein«, schimpfte er, zog sich geschwind die Stiefel an, die nach Schweiß und Erde stanken und kletterte aus dem Wagen hinaus.

Er bewegte aufgeregt seinen Kopf umher. »Was zum Teufel ist passiert?«

»Deine Stute ist nicht wiedergekommen.« Evans Stimme erklang vor dem Wagen.

Als er hervorkam, wischte er sich mit seinem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Puh, der Wagen ist schwerer, als ich geahnt hatte.«

»Du warst das?«, prustete Leuven, »Du hast meinen Wagen in den Wald gezogen?«

Evan blickte ihn erstaunt an. »Natürlich. Ich sagte doch, dass Deine Stute nicht wiedergekommen ist. Hörst Du mir denn nicht zu?«

»Aber, aber, das ist doch unmöglich!«

»Halbdämon. Schon vergessen? – Du hörst mir ja wirklich nicht zu.«

Er schritt an dem Kaufmann vorbei. »Kommst Du mit oder hast du es dir anders überlegt?«

»Du willst doch nicht wirklich zu der Burg von Dancker, oder? – Mir wird aber wohl keine andere Wahl bleiben. Aber höre auf meine Worte. Nie und nimmer lassen die uns in die Burg!«, protestierte Leuven.

»Ach ja. Deinen Wagen bekommst du allein bestimmt nicht mehr heraus. Nun gut, dann bleibt wohl nur die Wahl, zur Burg zu gehen oder zu verhungern.« Evan verhöhnte den jungen Mann.

Ein lautes Magenknurren übertönte die Waldidylle, mit seinen Vogelgesängen und den im Wind knisternden Blättern.

Leuven wurde rot im Gesicht. Er fühlte sich ertappt. Aber wahrlich, seit Tagen hatte er nichts außer trockenes Brot zu sich genommen und die Reste davon waren in der Nacht zuvor in Flammen aufgegangen.

»Ich hoffe, dass Du weißt, was Du tust«, stöhnte er.

»Das weiß man vorher nie, aber ich finde es gerne heraus«, gab Evan zurück, schob einen Ast zur Seite und verließ den Wald in die Richtung der Straße.

»Na wunderbar. Jetzt folge ich auch noch einem Halbdämon. Vater hatte Recht. Ich bin für solch ein Leben einfach nicht geschaffen.« Widerwillig folgte Leuven Evan durch das Geäst.

Trostlos erstreckte sich die schmale, sandige Landstraße vor ihnen, durchsetzt von zahlreichen Schlaglöchern.

»Wir sollten die Burg gegen Mittag erreichen«, sagte Evan.

»Na toll, jetzt muss ich auch noch stundenlang irgendwo im Nirgendwo, mit einem Halbdämon und leerem Magen spazieren«, gab Leuven müde zurück. »Mir tun alle Knochen weh.«

Evan drehte sich zu ihm herum. »Du bist noch nicht lange auf Reisen, nicht wahr?«

Leuven erhob abwehrend die Hände und verzog das Gesicht. »Nun ja, nein, nicht wirklich. Ich bin vor etwa einem Monat abgereist.«

»Vor einem Monat? – Hätte nicht gedacht, dass es schon so lange ist. Du hast es bisher überlebt, das ist eine Überraschung.«

»Bitte? – In mir steckt mehr, als Du vielleicht denkst!«

Evan drehte sich wieder zu ihm herum. »Nun, dann sollte der Weg ja kein Hindernis für Dich darstellen.«

Leuven schluckte. »Das hoffe ich.«

Für den jungen Kaufmann fühlte sich der Weg wie die Ewigkeit an. Jammernd und keuchend schlenderte er die letzten Kilometer die letzte Anhöhe hinauf. Eigentlich tat er es bereits den gesamten Weg über, aber Evan konnte ihn die meiste Zeit erfolgreich ausblenden. Erst zum Ende des Weges wurde ihm das Gejammere des Kaufmanns zur Last.

Nach einigen Stunden erkannten sie einen Turm zwischen den Baumwipfeln.

»Da ist es«, sagte Evan.

Er machte keinen Anschein, auch nur irgendwie von dem Weg geschafft zu sein. Anders als Leuven, der schwer atmend die Hände auf den Knien abstützte.

»Na endlich«, keuchte er. »Das wurde aber auch Zeit. Ich dachte schon, ich sterbe.«

»Du hast es geschafft. Sei stolz auf Dich.«

»O das bin ich, das bin ich. War ja auch ein Klacks, nicht wahr? – Ein Katzensprung, ich freue mich schon auf den Rückweg, nachdem die Wachen uns zum Teufel geschickt haben. Du nicht auch?«

Der Halbdämon antwortete nicht, aber ein leichtes Grinsen, wie ein kurzer Blitz, der durch den Nachthimmel zuckt, zog durch sein Gesicht.

Der Turm und das anliegende Gebäude aus Ziegelsteinen wurde von einer massiven Steinmauer umgeben. Evan schätzte sie auf acht bis zehn Meter Höhe.

Zwei Männer in einfachen Eisenrüstungen bewachten das Eingangstor, das aus dicken, rostigen Eisenstangen bestand.

Leuven war seine Unsicherheit deutlich anzumerken, während Evan gelassen auf die beiden Wachen zutrat.

Die bösen Blicke verhießen nichts Gutes. Während sich Leuven innerlich schon auf den Rückweg vorbereitete, ließ Evan keine Anspannung aufkommen.

»Halt! – Kein Einlass!«, sagte einer von den Wachen mit kräftiger Stimme. Ein alter, aber stämmiger Mann, mit ergrautem Schnurrbart und kahlem Kopf.

Evan musterte ihn. Seine Fingernägel waren abgebrochen, das Gesicht verrußt. Die Augenlider hingen wie zwei nasse Säcke hinunter.

»Wir möchten zu Fürst Dancker«, sprach der Halbdämon bestimmt.

Die zwei Wachen schauten sich belustigt an. »Hah, er will zum Fürsten!«

Evan verschränkte die Arme vor der Brust und nickte.

Der alte Wachmann kam einen Schritt näher und lugte unter dessen Kapuze. »Was isn mit Euch nicht richtig?«

»Ich habe die letzten Tage nicht viel geschlafen.« Evan blieb die Ruhe selbst.

»Schlecht geschlafen? – Seid Ihr krank oder sowas? – Bringt Ihr uns die Pest ins Haus?«

»Weder noch. Ich habe Gerüchte gehört.«

Evan versuchte erst gar nicht, seine dämonisch anmutenden Augen zu verbergen. Im Gegenteil, er hoffte, er könne sich dadurch Respekt von den Wachen erschleichen.

»Pahahaha!«, der Wachmann wankte lachend zurück. »Gerüchte hat er gehört!«

Evan nickte.

»Was denn für Gerüchte?«, fragte der zweite Wachmann amüsiert. Ein langer, dürrer und junger Mann, mit fettigen, blonden Locken.

»Man sagt sich, dass sich etwas in Eurer Burg herumtreibt«, gab Evan ruhig zurück.

Leuven lief der Angstschweiß über die Stirn. »Evan, vielleicht sollten wir…«, sagte er nervös mit leiser Stimme.

»Verpisst Euch!«, spuckte der alte Wachmann. »Schert Euch zum Teufel und wagt es nicht, Euch jemals wieder der Burg zu nähern!«

Sein Kopf lief rot an. Die Adern an seinem Hals pochten bedrohlich auf.

Evan aber beeindruckte dies nicht, auch wenn er sehr wohl die angespannte Atmosphäre wahrnahm. »Wir sind hier, um zu helfen.«

»Einen Scheiß seid ihr!«, der Wachmann zog blitzschnell sein Schwert aus der Scheide und hielt die Klinge bedrohlich vor Evans Augen. »Ich sage es nicht noch einmal, verpisst Euch Missgeburt!«

Hinter ihm ertönte plötzlich eine hohe und zugleich sanfte Stimme. »Haltet ein!«

Der Wachmann drehte sich erschrocken zum Tor herum. Hinter den Gittern erspähte er eine junge Frau, in einem dunkelgrünen, samtenen Mantel.

»Das sind die Kammerjäger, die der Fürst bestellt hat«, sagte die junge Frau.

»Kammerjäger?«, fragte der Alte irritiert und blickte zu seinem Kollegen, der mit den Schultern zuckte und dabei die fettigen Locken schüttelte.

»Ja, die Kammerjäger«, wiederholte die Frau. »Der Fürst hat sie vor drei Tagen herbestellt.«

»Kammerjäger«, stammelte der Wachmann und schaute dann wieder zu Evan. »Ihr seht nicht aus wie ein Kammerjäger.«

Dieser legte den Kopf auf die Seite. »Wie sieht denn ein Kammerjäger aus?«

Der Wachmann schaute an ihm vorbei und musterte Leuven. »Zumindest nicht so!«

Der Halbdämon stellte sich in sein Blickfeld. »Wie viele Kammerjäger habt Ihr denn bereits getroffen?«

Der Alte schnalzte mit der Zunge, senkte das Schwert und schaute zur jungen Frau hinter dem Gittertor. »Seid Ihr Euch sicher?«

»Das bin ich«, antwortete sie und streckte sich demonstrativ.

»Nun gut, aber ich warne euch. Bringt Ihr uns Unheil, so werden eure Köpfe noch vor der Abenddämmerung rollen«, knurrte der Wachmann und ging einen Schritt zur Seite.

Leuven rutschte das Herz in die Hose. Was habe ich mir nur eingebrockt?, dachte er sich. Seine Knie zitterten, und sein Kopf schmerzte. Das war eindeutig zu viel für ihn. Erst die Karraks und jetzt legten sie sich auch noch mit den Wachen eines Adeligen, wenn auch niederen Titels, an.

Evan nickte und blickte vielsagend zu Leuven.

»Öffnet das Tor!«, rief der alte Wachmann. Das Tor öffnete sich mit einem lauten, metallischen Geräusch.

Der Halbdämon betrat den Burghof, dicht gefolgt von dem jungen Kaufmann.

Vor der Burg befanden sich die für eine kleine Burg typischen Gebäude. Eine Baracke für die Wachen, eine Scheune, ein Pferdestall, eine Hühnerhecke und ein kleiner Unterstand unter dem der Schmied seiner Arbeit nachging.

Die Burg selbst war schon sehr alt. Leuven kannte die Geschichten rund um die Burg Haren.

Sie war ein Lehen, das vom König Brünnens vergeben wurde. Zwar befand sie sich seit Generationen im Besitz der Familie Dancker, aber nur solange, sie dem Herrscher auch treu ergeben waren.

Der König hatte das Recht, die Burg jederzeit einem anderen Vasallen des Königreiches Brünnen zu übergeben.

Es gab das aus Ziegelsteinen erbaute Haupthaus und jenen Turm, den sie aus der Ferne bereits erspäht hatten.

Evan blickte zu der jungen Frau. »Wir danken Euch. Aber ich hoffe Euch ist bewusst, dass wir nicht die sind, für die Ihr uns haltet.«

»Evan«, stammelte Leuven entsetzt. »Was tust Du denn da?«

Kann er nicht einmal den Mund halten? Führte er in Gedanken fort, es scheint als wolle er unbedingt in Schwierigkeiten geraten.

Die junge Frau lachte und warf mit einem Kopfschwung ihre schwarzen Locken zur Seite. »O doch, auf Euch habe ich gewartet.«

»Ihr habt auf mich gewartet? – Eher unwahrscheinlich. Woher solltet ihr davon wissen?«

»Evan… Lass das bitte.« Leuven explodierte innerlich, nach außen hin ähnelte er aber eher einem Häufchen Elend.

»Nun«, sagte sie und schaute den Halbdämon mit ihren tiefen, blauen Augen an. »Ich habe es gesehen.«

»Gesehen?«

»Ja. Ich habe es gesehen. Schon vor einigen Tagen habe ich von Euch geträumt. Ich muss aber gestehen, dass ich Eure Begleitung nicht in meinen Träumen gesehen habe«, gab sie amüsiert zurück.

Evan blieb stehen. »Ihr seid eine Seherin.«

Sie lächelte und nickte. »Marie de Boer. Es freut mich, Euch endlich kennenzulernen. Ich wusste nicht, ob es sich wirklich ereignen würde, aber umso erfreuter bin ich.«

»Evan.« Gab dieser trocken zurück.

»Und Euer Freund?«, fragte Marie und blickte auf den unsicheren wirkenden jungen Mann, der sich hinter dem Halbdämon hielt.

»Ich… bin Leuven.«

»Hmm, Euch habe ich in meiner Vision wirklich nicht gesehen. Aber was ich sehe, ist stets im Wandel. Die Zeit bleibt nicht stehen, sie verändert sich ständig«, sagte sie.

Evan schaute sie ernst an. »Was macht eine Seherin auf einer Burg?«

Sie lächelte wieder. »Der Fürst hat mich bestellt. Ich nehme an, dass Ihr hier seid, weil Ihr die Gerüchte über einen Geist gehört habt. Sie sind wahr. Der Fürst hat mich rufen lassen, um ihm bei dieser Plage zu helfen.«

»Und dann? – Hättet Ihr ihn davon überzeugt weiterzuziehen, Euch mit ihm angefreundet, zusammen Lieder gesungen?«, fragte Evan misstrauisch.

Leuven stellte sich zwischen ihnen. Er verspürte den Drang etwas sagen. »Sei doch nicht so unhöflich!«, polterte er. »Sie hat uns geholfen, dann kannst Du ihr wenigstens zuhören.«

Marie erhob ihre Hand. »Ist schon gut. Ich bin es gewohnt, dass man mich und meinen Beruf nicht ernst nimmt. Aber ich bin mir sicher, dass ich Euch von meinen Fähigkeiten überzeugen kann. Genau wie ich es beim Fürsten getan habe.«

»Mhh. Das habt Ihr mit Sicherheit in Euren Träumen gesehen«, sagte Evan.

»Nennt es Intuition.«

Schmunzelnd streckte sie ihren Arm aus. »Kommt, ich werde euch Fürst Dancker vorstellen. Aber seid vorsichtig, die Stufen sind rutschig.«

Über eine schmale Steintreppe und eine hölzerne Tür betraten sie die kleine Burg. In der Tat war die Steintreppe vom morgendlichen Tauwetter rutschig geworden.

Beinahe rutschte Leuven aus. Er sah sein Gesicht bereits im Pferdedung liegen, als er sich vor Schreck an der Burgmauer festhielt.

Vor ihnen erstreckte sich ein enger Flur. Die Einrichtung war eher spärlich. Auf dem Boden befand sich weder ein Läufer, noch ein Teppich. An den Wänden hingen landschaftliche Ölgemälde. Nichts Besonderes in Evans Augen. Selbst Leuven wirkte nicht beeindruckt von der Innenausstattung.

Der Gang führte in den Speisesaal. Ein massiver Holztisch mit Platz für bis zu zehn Personen erstreckte sich vor Ihnen. Leuven konnte sich vorstellen, dass hier schon desöfteren Gelage gefeiert wurden.

Gegenüber von Ihnen befand sich der Kamin und darüber hing ein Bild eines jungen Ritters, mit goldenem Haar, in strahlender Rüstung. Stolz und ehrfürchtig saß er auf einem weißen Ross.

»Wartet hier«, sagte Marie und verschwand durch eine Tür neben dem Kamin, die offenbar in den Turm führte.

Evan nickte und inspizierte den großen Raum. Kahle Wände, ein paar Gemälde, nichts, das den Anmut eines Fürsten widerspiegelte, bis auf das Gemälde des jungen Ritters.

Sein Blick fiel schließlich auf etwas anderes, etwas Kleines, schwarzes.

Auf dem Kaminsims entdeckte er eine kleine Schatulle, vielleicht fünfzehn Zentimeter in Länge, Breite und Höhe. Sie war verziert mit einem Halbrelief, das verschiedene, stilisierte Tiere und andere, schwer erkennbare Kreaturen zeigte. Der Halbdämon erkannte einen Hirsch und einen Wolf, die anderen Abbildungen waren selbst ihm fremd.

»Du hast aber Manieren«, schnaubte Leuven.

Evan schaute ihn verdutzt an und trat vom Kamin weg. »Ich vertraue keiner Seherin, die behauptet, mich in ihren Träumen gesehen zu haben.«

»Aber ohne sie hätten wir das Tor niemals passiert!«

»Es gibt immer mehr als nur einen Weg. Wir hätten es auch ohne sie geschafft.«

»Hätten wir nicht und das weißt Du auch! – Du tust so schlau, aber den Beweis bist Du noch schuldig. Genau wie mit meiner Stute«, Leuvens Stimme wurde lächerlich hoch, »O, die kommt schon wieder, warte bis morgen, dann ist sie wieder da, oho! – Na, wo ist sie denn?«

»Sei still«, schnaubte Evan.

»Nein, Du verbietest mir nicht den Mund. Zügel Dich bitte, sobald der Fürst eintritt.«

Evan seufzte und verdrehte die Augen. »Nun gut, ich halte mich ein wenig zurück.«

»Ein wenig?«

»Ja, ich werde mich dem Fürsten gegenüber respektvoll verhalten.«

»Und Marie?«

»Was soll mit ihr sein?«

Leuven schaute ihn eindringlich mit großen Augen an.

»Na gut, ich werde mich auch ihr gegenüber respektvoll verhalten«, versprach der Halbdämon widerwillig.

Leere Phrasen oder doch die Wahrheit? – Leuven vermochte nicht es einzuschätzen, aber er hoffte, dass sie nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geraten würden.

Es öffnete sich die große Tür neben dem Kamin. Marie betrat den Speisesaal. Hinter ihr erschien ein stämmiger Mann mit zerzaustem, mittellangem grauem Haar und einem Bart, der zum Teil geflochten war. Er trug ein Gewand, das für den niederen Adel typisch war. Ein dunkelgrünes Hemd mit goldfarbenen Verzierungen und eine schwarze, weite Stoffhose.

Die braunen Stiefel waren frisch poliert.

Der Mann sah müde aus. Als hätte er tagelang nicht schlafen können.

Leuven blickte ihn an und schaute dann auf das Bild über dem Kamin. Er war sich sicher. Das Bild zeigte den Fürsten, wenn auch in seinen jungen Tagen.

Evan blickte selbstsicher zu Leuven.

»Ich warne Dich«, zischte dieser leise.

»Hrach!«, stieß der Fürst aus, als würde sich ein fetter Schleimklumpen in seinem Hals befinden. »Ihr seid also der, von dem die Seherin gesprochen hat.«

»Scheint so«, gab Evan kalt zurück und kassierte dafür einen leichten Stoß von Leuvens Ellenbogen.

»Scheint so, mein Herr«, verbesserte sich der Halbdämon und warf dem Kaufmann einen finsteren Blick zu.

»Nun gut, hat Madame de Boer Euch schon über die Vorfälle aufgeklärt?«, fragte der Fürst und ließ sich auf einen hölzernen Stuhl fallen, der am Esstisch stand. Die Beine des Stuhles knackten bei der Belastung.

»Noch nicht, Herr«, sprach Marie und faltete ihre Finger vor ihrer Hüfte zusammen. »Ich wollte es Euch nicht vorwegnehmen.«

»Aha. Nun denn, was wollt Ihr wissen?« Sein müder Blick wanderte zu Evan.

»Alles. Fangt von vorne an, erzählt uns den Mittelteil und dann das Ende«, gab Evan stur zurück.

»Herrje, Du hast es versprochen«, flüsterte Leuven sauer. Die ungehobelte Art des Halbdämons ging ihm sichtlich auf die Nerven. Vor einem Bauern könnte er sich verhalten, wie er wollte, aber vor einem Fürsten, egal welchen Ranges, da fordere die Gesellschaft und die Etikette Respekt.

»Mein Herr, verzeiht. Mein Kollege ist etwas ungehobelt. Meiner Theorie zufolge ist er als Kind auf den Kopf gefallen«, sagte er schließlich und hoffte, der Fürst würde Evans Verhalten entschuldigen.

Der Fürst verzog sein Gesicht und musterte zuerst den Halbdämon und dann den Kaufmann, in seiner edlen, aber völlig verdreckten Kleidung.

Er blickte kurz zu der Seherin. »Und Ihr seid sicher, dass dies der ist, den Ihr in Eurer Vision gesehen habt?«

Sie nickte. »Ja, mein Herr. Das ist er.«

»Ich hatte ihn mir anders vorgestellt, was ist eigentlich mit Euren Augen, seid Ihr krank, bringt Ihr die Pest an den Hof?«, fragte er schließlich Evan mit bellender Stimme.

»Meine Augen? – Was soll mit ihnen sein, mein Herr?«, gab dieser zurück und spielte Unwissenheit vor.

»Na, Eure Augen sehen seltsam aus, als hättet Ihr Euch etwas eingefangen.«

Evan schüttelte den Kopf. »Nein, mein Herr, ich bringe Euch keine Krankheiten an den Hof.«

»Aber was ist es dann? – Das ist doch nicht normal. Madame de Boer, das ist doch nicht normal, oder?«

Die Seherin wollte etwas sagen, ihre Lippen bewegten sich aufgeregt, doch kein Ton kam aus ihrem Mund.

»Ach, Ihr meint die Farbe meiner Augen«, sagte Evan schließlich.

»Ja, aber natürlich meine ich die Farbe Eurer Augen!«

»Ich stamme aus dem Süden.« Die Stimme des Halbdämons ließ keine Emotion erahnen.

Fürst Dancker blickte ihn misstrauisch an. »Im Süden sind rote Augen üblich?«

»Üblich nicht, auch dort sind sie selten. Aber ob braun, blau, grün oder rot, es sind nur Farben. Wenn ich mich recht erinnere, kannte ich mal eine Dirne, die hatte grau-gelbe Augen. Das hatte ich zuvor auch noch nicht gesehen.«

»Schon gut, schon gut«, schnaufte der Fürst, »Es soll mich auch nicht weiter interessieren.«

»O, wusstet Ihr«, jetzt war auch Leuven hellwach, »die Farbe Blau gibt es eigentlich gar nicht. Die Druiden vom Hirtenbaum sollen dieses Gerücht in die Welt gesetzt haben, um zu schauen, ob die Menschen ihnen diesen Schwindel abkaufen. In Wahrheit ist die Farbe Blau einfach nur ein Grünton. Interessant, nicht wahr?«

Strafende Blicke trafen ihn von allen Seiten.

Peinlich berührt machte er einen Schritt zurück.

»Und das Plappermaul? – Von dem habt Ihr mir nicht erzählt«, sagte der Fürst und schaute Marie mit durchdringenden Blicken an.

»Mein Herr, dies ist Leuven. Er ist die Begleitung des Herrn Dhorne. Ihn habe ich leider nicht in meiner Vision gesehen.«

»Du hast ihn nicht gesehen? – Nun denn, gefährlich sieht es nicht aus.«

»Mein Herr«, sagte Evan, »wir sind gekommen, um Euer Problem zu lösen. Je eher wir damit beginnen, desto eher kann ich Euch davon befreien. Sagt mir was Ihr wisst, dann seid Ihr uns alsbald wieder los.«

»Schon gut. Ich werde Euch sagen, was geschehen ist. Es fing vor einigen Wochen an. Es war in der Nacht. Ein grausiger Schrei hallte durch die ganze Burg. Ein jeder wachte davon auf. Wie sich herausstellte, kam dieser von meiner Dienstmagd Yvette. Sie war ganz aufgelöst, meinte sie hätte nen Geist gesehen.«

»Das ist alles?«, fragte Evan irritiert.

»Natürlich nicht«, sagte Fürst Dancker und gähnte dabei. »Wir fanden sie im Keller, in der Speisekammer. Sie meinte, sie wollte noch eben die Vorräte für den Winter überprüfen, damit sie die Bestellungen für die nächsten Wochen machen konnte. Auf einmal stand ein Mädchen hinter ihr.«

»Ein Mädchen?«

»Ja, herrje, ein Mädchen! – Aber nicht einfach nur so ein Balg, sondern Yvette behauptete ihm hätten beide Augen gefehlt. Nur zwei blutende Höhlen hatte die, meinte zumindest meine Dienstmagd. Aber geglaubt haben wir ihr nicht, zumindest zu diesem Zeitpunkt.«

»Ein Hirngespinst, wie mir scheint«, merkte Evan an.

»Ja, genau das dachten wir ja auch! – Aber seitdem kam es des Öfteren vor. Nicht nur der Yvette. Mehrere meiner Bediensteten behaupten, etwas Unheimliches gesehen zu haben. Mal in der Speisekammer, mal im Pferdestall, selbst die Pferde wiehern abscheulich bei Nacht. Außerdem plagen uns diese Träume.«

»Sprecht weiter.«

»Grässliche Träume. Ein jeder von uns hat schon von diesem Mädchen ohne Augen geträumt.«

Evan schaute zu Marie. »Habt Ihr sie auch gesehen?«

Die Seherin nickte bedrückt.

»Hört zu«, sprach der Fürst. »Diese Träume, sie fühlen sich so echt an. Eines Nachts bin ich aufgewacht, da saß das Mädchen plötzlich auf mir, schnürte mir die Luft ab, drückte meine Arme ins Bett. Aber dann, als wäre nichts gewesen, da wachte ich ein weiteres Mal auf und lag im Bett neben meiner Gattin, die seelenruhig schlief. Ich wusste erst gar nicht, ob es ein Traum oder real war.«

»Manchmal können sich starke Träume in unseren Gedanken manifestieren«, sagte Evan. »Noch weist nichts auf einen Geist hin.«

Fürst Dancker blickte zu Marie, die ihm mit einem traurigen Nicken antworte.

»Dann seht Euch das an«, sprach er zu Evan und zeigte ihm Brandmale die sich an seinen Handgelenken befanden. Rote Abdrücke wie die von kleinen Fingern.

Der Halbdämon schnalzte mit der Zunge. »Das ändert natürlich alles.«

Marie stemmte ihre Hände auf den Holztisch. »Es ist keine Einbildung. Ein jeder hier in der Burg hat das Mädchen schon einmal gesehen. Sie träumen von ihr, sie spüren sie. Auch ich kann ihre Anwesenheit spüren.«

»Hat jeder denselben Traum?«, fragte Evan. Langsam nahm er die Sache ernst.

»Nicht das ich wüsste«, antwortete Marie. »In der Regel verbindet sie sich mit etwas Persönlichem. Ich habe zum Beispiel von meiner Mutter geträumt, wie sie an der Feuerstelle steht und Suppe kocht. Plötzlich war sie fort, und das Mädchen sprang unter dem Tisch hervor. Mit ihren leeren Augen und spitzen Zähnen.«

»Bevor sie mir diese Narben zufügte, träumte ich ebenfalls von etwas anderem«, warf der Fürst ein. »Ich ritt mit meinem weißen Ross in die Schlacht. Links und rechts von mir bekämpften sich die Männer, es war ziemlich wirr. Inmitten des Geplänkels stand sie dort. Keiner schien sie zu beachten. Nur ich konnte sie sehen. Da sprang sie mich an. Dann erwachte ich, und sie drückte mich tief in das Bett. Ja, so war das.«

»Hmm. Sie kann also in Träume springen, sich aber ebenso in der realen Welt manifestieren«, sagte Evan nachdenklich.

»Also war es doch kein Traum?«, fragte der Fürst. Es schien so, als würde er sich bestätigt fühlen, auch wenn dies ein schwacher Trost sein sollte.

»Habt Ihr eine Ahnung, was für ein Geist das sein könnte?« Marie schob eine Braue hoch.

»Hmm, eine Succubus hat solche Fähigkeiten. In der Regel sucht sie sich aber nur Männer, denen sie den Verstand rauben kann, in diesem Fall bleiben aber Männer und Frauen gleichermaßen nicht verschont. Vielleicht ein Paar aus Succubus und Incubus, das ist aber eher unwahrscheinlich.«

»Ein Succu-Was?«, spuckte der Fürst mit weit aufgerissenen Augen.

»Succubus. Das sind Dämonen, die meist in der Gestalt einer hübschen Frau auftauchen und im Schlaf Männer verführen. Sie dringen tief in die Gedanken ein und zerstören den Geist«, erklärte Evan ruhig.

»Aber weshalb tun sie das?«

»Nun«, Evan machte eine kurze Pause. »Sie machen dies zur Fortpflanzung.«

»Wie kann man sich denn so fortpflanzen?«, fragte Dancker und zog die Stirn kraus.

»Nun ja…«

Marie ergriff das Wort und schaute peinlich berührt, als sie sprach. »Sie stehlen den Männern ihren Samen.«

»Sie tun was bitte?« Entsetzt sprang der Fürst von seinem Stuhl auf, der krachend auf den kahlen Boden donnerte.

»Sie stehlen den Männern ihren Samen«, wiederholte sie. »Damit können Sie ihre Spezies am Leben halten.«

Marie räusperte sich und schaute zu Evan hinüber. Ihr Blick wirkte boshaft, als wenn er sie dazu gezwungen hätte, das Wort zu ergreifen.

»Aber die Erscheinung war ein kleines Mädchen, bei jedem von uns!«, protestierte Dancker und gestikulierte dabei wild mit den Armen.

»Deshalb bezweifle ich, dass es ein Succubus ist«, sagte Evan. »Was es auch ist, es ist erstens an diesen Ort gebunden und zweitens muss etwas sein Erscheinen ausgelöst haben.«

»Ihr denkt, dass es einen Vorfall gegeben hat, der den Geist herbeirief?«, fragte Marie gebannt.

»Ein Vorfall, ein Ritual, da kommt einiges infrage.«

»Nun gut«, sprach der Fürst, als er seinen Stuhl wieder aufstellte. »Sorgt dafür, dass dieses Ding aus meiner Burg verschwindet. Madame de Boer, besprecht Euch mit den Herren. Wenn Ihr etwas benötigt, könnt Ihr Vermeer um Hilfe bitten.«

Ermahnend erhob Dancker seinen Zeigefinger.

»Und ihr«, er drehte sich zu Evan und Leuven umher, »fühlt Euch wie zu Hause. Aber bitte nicht zu sehr. Ihr könnt ein Zimmer haben und wie mir dünkt, wären frische Kleider nicht schlecht. Vermeer!«

Nach einem kurzen Moment öffnete sich die Tür neben dem Kamin. Ein schlanker Mann mittleren Alters, in gepflegtem, aber nicht übermäßig edlem Gewand betrat den Speisesaal. »Ja wohl, mein Herr?«

»Vermeer, kleidet die beiden Herren neu ein und wascht deren Kleider. Ein Bad soll ebenso Recht sein.«

»Aber natürlich, mein Herr, es ist bereits alles vorbereitet«, antwortete Vermeer mit ruhiger, aber respektvoller Stimme.

Er wandte sich an Evan und Leuven. »Wenn die Herren erlauben. Ich werde Sie zu Ihrem Zimmer führen. Dort können Sie sich neu einkleiden. Ihre Rüstung und Ihr Gewand werden wir sorgfältig waschen. Ist Zitrone Ihnen Recht?«

»Ach, herrje, bitte nicht«, gab Evan zurück.

Leuven trat einen Schritt vor. »Hättet Ihr Lavendel da? – Ich finde, damit riecht die Wäsche besser.«

»Bitte nicht«, stöhnte der Halbdämon neben ihm wiederholend.

»Aber natürlich, mein Herr, wenn Ihr mir dann folgen wollt.« Vermeer hielt den Beiden die Tür offen.

Sie umkreisten den langen Holztisch.

Evan blieb neben Marie stehen.

»Wir sollten unser weiteres Vorgehen besprechen«, sagte er zu ihr.

»Ich kann Euch verraten, wo sich mein Zimmer befindet«, flüsterte Marie ihm blinzelnd zu.

Nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, wandte sie rasch ihren Kopf ab. Es sollte als Scherz gemeint sein, als flüchtige, lockere Bemerkung. Aber sie merkte selbst, wie unpassend und aufdringlich es war. In ihr stieg die Hoffnung, dass Evan es als eben jenes wahrnehmen würde, aber was, wenn nicht? Ihr Gesicht wurde rot vor Scham.

»Besser, wir treffen uns hier. In einer Stunde«, gab er kalt zurück und schritt weiter.

Die Seherin verzog ihre sanften, roséfarbenen Lippen. Er hatte es wohl doch als unpassend empfunden, oder war es ihm einfach egal? – Sie seufzte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken.

»Fürst Dancker«, sprach Leuven und verbeugte sich vor dem Herrn, »mein Freund und ich, wir danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft. Ich verspreche Ihnen, wir werden herausfinden, was in Ihrer Burg vor sich geht.«

Seine Worte waren vielleicht mehr dazu da, sein eigenes Selbstvertrauen zu stärken, oder vertraute er zu sehr auf Evans Fähigkeiten? Die Antwort blieb ihm verborgen, aber er hoffte inständig auf ein gutes Omen.

»Ja, verstehe«, erwiderte der Fürst gelassen, winkte nachsichtig mit der Hand und unterdrückte ein herzhaftes Gähnen. »Tut, was notwendig ist. Ich werde mich noch ein paar Stunden zur Ruhe begeben. Das Mittagessen verschieben wir auf den Nachmittag. Vermeer, bitte informiert den Koch.«

Dieser nickte und hielt den Gästen weiterhin mit einer Hand die Tür auf.

»Mein Herr, wenn es Ihnen beliebt?« Vermeer blickte den Halbdämon auffordernd an, seine Stimme war jedoch von einer fast übertriebenen Freundlichkeit durchzogen.

»Darf ich fragen, was es zum Mittagessen gibt?«, fragte Leuven mit funkelnden Augen. Das Wasser lief ihm schon förmlich im Mund zusammen. Er träumte von gebratenen Kartoffeln, Bohnen in Speck und Wachteleiern. Obwohl sein knurrender Magen immer wieder Protest einlegte, versuchte der junge Händler, dies mit gelegentlichen, eigenartigen Körperbewegungen zu kaschieren.

Evan packte ihn am Kragen und drückte ihn an Vermeer vorbei in den Flur zu den Gemächern.

»Hey, hey, nicht so grob!«, erwehrte sich der Kaufmann, als er beinahe auf dem kahlen Stein ausrutschte.

Der Kammerdiener schloss die dicke Holztür hinter sich, nachdem er sich vor dem Fürsten verneigt hatte.

Dancker wandte sich mit müdem Blick an die Seherin. »Und das sind wirklich die Beiden aus Ihren Träumen?«

Marie blickte entrüstet zurück. »Nur der Halbdämon. Von dem anderen habe ich in meinen Träumen nichts gesehen. Bei ihm bin ich mir unsicher. Aber Evan ist es, den ich gesehen habe.«

»Ihr sehr beunruhigt aus.«

»Keines Wegs mein Herr«, die Seherin streckte ihre Brust raus. »Dieser Leuven ist ein einfacher Kaufmann, er stellt keine Gefahr dar. Wahrscheinlich habe ich ihn aufgrund seiner Nichtigkeit nicht gesehen. Die Person, auf die es ankommt, ist Evan.«

»Behaltet ihn gut im Auge«, der Fürst räusperte sich. »Mir ist unwohl bei dem Gedanken, einen Halbdämon in meiner Burg frei rumlaufen zu lassen. Meine Gattin darf davon nichts erfahren. Ihr tragt die Verantwortung, haben wir uns verstanden?« Der Ton des Fürsten verschärfte sich.

Marie machte einen hochachtungsvollen Knicks. »Natürlich, mein Herr.«

»Hah«, lachte Dancker kurz auf. »Er kommt aus dem Süden. Hält er mich für einen Dummkopf?«

»Mein Herr, ich denke nicht, dass dies als Affront gemeint war. Ich schätze nur, dass er es leid ist, sich stets erklären zu müssen.«

»Ich halte nicht viel von seinesgleichen, aber solange er mir von Vorteil ist, soll er tun was nötig ist.«

»Ich verstehe. Ich sehe aber noch einiges an Menschlichkeit in ihm.«

»Ein Tropfen dämonischen Blutes reicht aus, um all seine Menschlichkeit zu verlieren. Meinetwegen kann auch Dung durch seine Adern fließen. Wenn er Euch eine Hilfe ist, so soll er seine Arbeit tun. Scheitert er, wird er sterben.«

»Und wenn er nicht scheitert?«

Der Fürst knurrte.

»Mein Herr?«

»Vielleicht lasse ich ihn dann am Leben. Aber Marie, Euch sollte klar sein, dass auch Ihr nicht scheitern solltet. «

Die Furcht war deutlich im Gesicht der Seherin zu erkennen. Gleichwohl setzte sie einen zuversichtlichen Blick auf. »Wir werden nicht scheitern.«

Der Fürst nickte und schritt an ihr vorbei. Leise drang seine Stimme in ihre Ohren. »Das rate ich Euch.«

Dancker verließ den Speisesaal durch die Tür neben dem Kamin. Mit einem knallen fiel die diese ins Schloss.

Die Seherin blieb noch eine Weile an dem großen Tisch stehen. Ihre Fingernägel krallten sich in die Tischplatte, dabei biss sie sich die Unterlippe wund.

Verdammt, dachte sie, ich habe ihn gesehen, ich bin mir sicher, aber er war anders, wenn meine Träume mich lügen strafen, dann bedeutet dies mein Tod.

Die Seherin streckte ihren Rücken und ließ ihre langen, schwarzen Locken in den Nacken fallen.

Sie seufzte. »Na gut, das kommt vor. Träume sind nur Deutungen. Sie können ineinander verschwimmen. Das wird es wohl sein. Das muss es sein.«

Sie war unsicher. Hin und wieder spielten auch ihr ihre Träume einen Streich, aber für gewöhnlich hing ihr Leben nicht davon ab. Das war der große Unterschied. Aber sie war gewieft. Einen Fluchtplan aus der Burg hatte sie schon seit Tagen vorbereitet. Die Dienstpläne der Kammerdiener kannte sie auswendig und wann die Wachablösungen in der Burg und am Tor waren, das wusste sie ebenfalls.

Für einen Moment verharrte die Seherin am Holztisch, um ihre Gedanken zu ordnen, dann verließ auch sie den Saal.

Das Gästezimmer war genauso schlicht möbliert wie der bisher erkundete Teil der Burg. Einzig die großen grünen Banner, die das Emblem eines majestätischen Hirsches trugen, schmückten die kahlen Wände und brachten eine Spur von Farbe in den Raum.

Die Banner wehten im gesamten Königreich. Seit Jahrhunderten war der Hirsch auf grünem Grund das Wappen des Königreichs Brünnen.

Zwei imposante Betten aus massivem Holz ergänzten sich harmonisch mit den Schränken und Kommoden aus demselben Holz. Evan vermutete Eiche, obwohl er sich mit Holzarten nicht gut auskannte.

Leuven war beeindruckt, als er sich auf eines der großen Betten sinken ließ. »Hach, ist das schön! – Wie ich es vermisst habe, in einem richtigen Bett zu schlafen.«

Für ihn war es purer Luxus, nach einem Monat seine Schlafrolle gegen ein Bett tauschen zu dürfen. Er schmiegte sich an das Kopfkissen.

Evan blickte ihn irritiert an. »Du konntest dir ein Bett leisten? – Hmm. Ich dachte du wärst ein einfacher Kaufmann.«

Leuven verzog das Gesicht. »Nun, von einfach habe ich nie etwas gesagt. Es mag dich überraschen, aber ja, ich hatte ein eigenes Bett. Für wen hälst du mich?«

»Du machst mir den Eindruck eines einfachen Kaufmanns.«

Dieser plusterte die Wangen auf. Der Drang etwas zu sagen, war stark, doch er gab keinen Kommentar ab, ließ die Luft aus seinem Mund weichen und streckte Arme und Beine auf der Matratze aus.

»Nun, die Herren«, sprach Vermeer, »frische Kleidung finden Sie im Schrank. Es sollte sich etwas Passendes finden. Wir haben eine gewisse Auswahl für unsere Gäste. Ihre Rüstung und Ihr Gewand werden von einer unserer Haushälterinnen abgeholt und in die Waschküche gebracht. Im Nebenraum finden die Herren zwei Waschzuber. Es wurde bereits warmes Wasser eingefüllt.«

»Ihr scheint mir gut auf Gäste vorbereitet zu sein«, meinte Evan und verschränkte die Arme.

»Madame de Boer hat uns von Ihrer Ankunft berichtet«, gab der Kammerdiener zurück.

»Sie scheint viel zu sehen, aber Euren Geist hat sie noch nicht gefunden.« Evan schnaubte mit der Nase. Beinahe als wäre er über den Umstand, des Versagens der Seherin amüsiert.

»Nun«, fügte der Diener an, »Sie hat von Eurer Ankunft berichtet und nun seid Ihr hier. Bisher hat sie keine Zweifel an ihren Fähigkeiten erkennen lassen.«

»Hmm.«

»Wenn die Herren nichts weiter wünschen, werde ich mich zurückziehen«, sprach Vermeer und machte auf dem Absatz kehrt, ehe Evan ihm eine Frage stellte, die ihn beinahe lähmte.

»Und wo habt Ihr das Mädchen gesehen?«

Ein kalter Schauer überkam Vermeer.

»Wie meint Ihr?« Vermeer versuchte seine Verunsicherung zu verbergen, doch seine zittrige Stimme verriet ihn.

»Der Fürst hat davon gesprochen das fast jeder in der Burg das Mädchen gesehen hat. Wo und wann habt Ihr es gesehen?«

Der Kammerdiener wandte sich wieder Evan zu und blickte angespannt unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. »Im Stall, mein Herr, vor etwa fünf Tagen.«

»Im Stall, wirklich?«, erklang Evans Stimme düster und drohend.

Auch Leuven war nun vollends auf die Geschichte fokussiert und richtete sich mit interessiertem Blick im Bett auf.

»Es war früh am Morgen, der Fürst wollte ausreiten, also bereitete ich seinen Sattel vor«, begann Vermeer. Seine Stimme bebte regelrecht vor Angst. Evan spürte die beklemmende Atmosphäre. »Dann fühlte ich plötzlich eine eiskalte Berührung an meinem Nacken. Die Stille wurde erdrückend. Ein Pferd wieherte auf, nur um im nächsten Moment erneut in Stille zu verfallen. Ich wagte einen Blick…«

»Was habt Ihr gesehen?«

Vermeer starrte ins Leere, seine Augen glasig, sein Gesicht leichenblass. »Da war dieses Mädchen, es riss einem Pferd ein Bein aus und verschlang es vor meinen Augen. Direkt vor meinen Augen. Als es bemerkte, dass ich es beobachtete, ließ es das Bein fallen und drehte sich langsam zu mir um. O mein Herr, es war entsetzlich. Ihre leeren Augenhöhlen – ich sehe sie noch immer vor mir. Sie begann zu lachen, ein Lachen, das immer lauter und wahnsinniger wurde. Meine Ohren schmerzten schon von ihrem Gelächter, und dann, ja dann öffnete sie ihren Mund, zeigte mir ihre scharfen Reißzähne…«

Evan legte seinen Kopf zur Seite. »Sie hat Euch also auch angegriffen?«

Vermeer blickte ihn entgeistert an und schob seinen Kragen zur Seite. Die tiefen Bisswunden waren noch deutlich zu erkennen.

Erstaunt inspizierte der Halbdämon diese. »Interessant.«

»Wenn Ihr mich dann entschuldigt?« Vermeer schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. »Wenn Ihr etwas braucht, ruft nach mir.«

Evan nickte dankend.

Als der Kammerdiener das Zimmer verlassen hatte, konnte Evan kaum ruhig stehen. Nachdenklich fasste er sich ans Kinn.

»Was ist los?«, wollte Leuven wissen.

»Das ist kein einfacher Geist«, gab der Halbdämon zurück, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er war in seinen Gedanken verloren, die vor seinem Gesicht kreisten.

»Also doch ein Succu… Suc… Succubas?«

»Succubus«, korrigierte Evan den Kaufmann. »Aber nein. Es war früh am Morgen. Succuben treten nachts in Erscheinung, wenn die Menschen schlafen, damit sie leichtes Spiel haben. Wir haben es mit etwas äußerst Gefährlicherem zu tun. Es greift Menschen an. Ich kann kein Muster erkennen, aber es muss eins geben.«

»Ist es gefährlicher als ein Dämon, der deinen Samen stiehlt?« Leuven konnte sein Lachen nur schwer unterdrücken.

»Halt den Mund«, fauchte Evan und sprach weiter in seine Gedanken vertieft, »nein, vielleicht ein Rachegeist. Dann muss es auf jeden Fall einen Auslöser dafür geben. Irgendetwas, dass mit dem kleinen Mädchen zu tun hat. Es könnte aber auch ein Wechselbalg sein, nur dann würde es keine Erscheinung sein und könnte nicht in Träume eindringen.«

»Du hast ein wirklich ein großes Wissen über all diese Dinge«, merkte Leuven erstaunt an.

»Nun ja, ich bin auch schon einigen Dämonen und Geistern begegnet.«

»Gibt es Geister wirklich? – Ich dachte, das wären nur irgendwelche Schauergeschichten.«

»Nun, da draußen gibt es so einiges, was augenscheinlich seinen Ursprung in Schauergeschichten hat.«

Leuven durchfuhr ein kalter Schauer. Die Bilder von dem Karrakangriff erschienen wieder vor seinem geistigen Auge. Die kräftigen Hauer, die spitzen Zähne, der bedrohliche Kamm aus Knochen auf ihren Rücken. Er schluckte nervös.

»Nun denn«, sagte Evan und schaute sich in dem Zimmer ein wenig genauer um. »Wir werden noch erfahren, um was es sich bei dieser Erscheinung handelt. Vertrau mir.«

»Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich es überhaupt erfahren will«, gab der Kaufmann zitternd zurück und erschrak, als eine Maus quiekend unter dem Bett hervorhuschte.

Er umschlang fest seine Beine und kauerte auf der Matratze. »Sie bräuchten wirklich einen Kammerjäger.«

»Stell Dich nicht so an«, fauchte der Halbdämon und wanderte zum kleinen Fenster. Ein großer Wald erstreckte sich vor seinen Augen. Er konnte nur erahnen, wie lang ihr Weg zur Burg war.

Leuven stand von seinem Bett auf und wankte zum Kleiderschrank. »Ein Bad wird uns sicher guttun. Aber wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben.«

Er durchwühlte den ganzen Schrank ehe er mit funkelnden Augen etwas herausholte. »Na, da haben wir doch was Passendes für Dich!«

Irritiert starrte ihn der Halbdämon an.

»Perfekt!« Leuven zog ein langes, lindgrünes Kleid, mit tiefem Ausschnitt und bestickten Ärmeln hervor. »Das steht Dir doch sicher gut.«

Evan schaute böse drein. »Das ist wohl eher Dein Geschmack.«

»Nah«, antwortete der Kaufmann, »weder Hüfte noch Busen fänden einen Platz darin.«

Der Kaufmann hängte das Kleid zurück in den Schrank und holte etwas Passenderes für die beiden heraus. »Ich denke, das sollte gehen.«

Der Halbdämon schaute verdutzt auf das golden bestickte, grüne Hemd und die schwarze Stoffhose mit der Lederschnürung.

»In meiner Rüstung fühle ich mich wohler«, gestand er.

Leuven ging nicht auf seine Worte ein. Stattdessen watschelte er zum Nebenraum. »Komm, bevor das Wasser kalt wird.«

»Du darfst zuerst«, gab Evan zurück und blickte abermals zum Fenster hinaus, in die weite Ferne. Er kniff die Augen zusammen, als würde er etwas mit ihnen fixieren wollen.

Die Hand, die seinen Arm umklammerte, riss ihn aus den Gedanken.

»Komm schon, das Wasser bleibt nicht ewig warm«, sagte Leuven und versuchte ihn vom Fenster fortzuziehen, ohne Erfolg. »Glaub mir, Du hast das Bad mindestens so nötig wie ich, also nun spurte Dich.«

Evan seufzte. »Nun gut, geh schon einmal vor. Ich werde noch die Rüstung ablegen, das dauert eine Weile.«

»Ich nehme an, das schaffst Du allein.«

»Ja.«

Der Kaufmann schob gleichgültig die Schultern nach oben und spitzte dabei unansehnlich die Lippen. »Ich werde mir das warme Wasser auf jeden Fall nicht entgehen lassen. Meine Beine und mein Rücken schmerzen, das wird ihnen sicher guttun. Aber komm gleich nach. Ich will Dir nicht zu nahetreten, aber Du stinkst bestialisch.«

Er stolzierte ins Nebenzimmer, seine Stimme hallte daraus wider. »Ich wollte es Dir nicht so deutlich sagen, aber anders scheint man Dich ja nicht bewegen zu können.«

Evan kniff die Augen zusammen. Wieso verdammt? – Wieso habe ich ihn nur mitgenommen? – Es wäre das Beste gewesen, ihn im Wald zurückzulassen.

Er kannte die Antwort und atmete tief durch.

»Ich sollte aufhören, anderen immer das Leben retten zu wollen«, sagte er zu sich selbst und löste mit einem kräftigen Zug den Riemen der ersten Armschiene.

»Hast Du etwas gesagt?«, hallte es aus dem Nebenraum.

»Ich habe gesagt…«, rief Evan und senkte dann die Stimme. »Ach, vergiss es.«

Er löst den Riemen der zweiten Armschiene und legte beide auf seinem Bett ab. Er ließ sich Zeit damit, seine Rüstung auszuziehen. In der Zwischenzeit begann Leuven einige Lieder zu trällern und wild im Wasser zu planschen. Der Halbdämon konnte sich wahrlich schönere Orte vorstellen, wo er zu diesem Zeitpunkt sein wollte.

Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüfte und folgte den schiefen Gesängen des jungen Kaufmanns in den Nebenraum.

Leuven blickte den Halbdämon mit großen Augen an, als er dessen schulterlanges, filziges Haar erspähte.

»Hah«, stieß er aus. »Deinen Haaren könntest du aber auch mal des öfteren frische Luft gönnen.«

Ein erboster Blick traf ihn. »Kümmere dich um deine eigenen Sachen. Ich bin seit Wochen unterwegs.«

»Tut mir leid. Mir ergeht es ja auch nicht anders. Aber die Körperpflege solltest du nicht vernachlässigen!« gab der junge Kaufmann zurück.

»Ich halte meinen Blick auf mein Ziel gerichtet. Ich habe keine Zeit mich mit Unzulänglichkeiten zu beschäftigen«, schnaubte Evan.

»Unzulänglichkeiten? – Du würdest den Menschen in deiner Umgebung einen großen Dienst erweisen, wenn du es nicht als Unzulänglichkeit bezeichnen würdest«, gab Leuven mit erhobenem Finger zurück. »Außerdem, welches Ziel verfolgst du?«

»Das geht dich gar nichts an.«

Der Halbdämon ließ das Handtuch zu Boden gleiten und stieg in den Waschzuber.

Er wollte es vor Leuven nicht zugeben, aber das warme Wasser fühlte sich wohlig an seiner Haut an. Er spürte die Erleichterung in seinem gesamten Körper. Beinahe rutschte ihm ein entspannter Seufzer heraus, aber er konnte ihn unterdrücken.

Diesen Sieg wollte er Leuven nicht gönnen.

Evan verweilte nicht lange im Waschzuber. Er rieb sich mit einer Bürste Arme, Beine und Rücken ab und wusch sich schnell Gesicht und Haare, dann stieg er aus der Wanne und legte sich sein Handtuch wieder um die Hüfte.

»Das ging ja schnell«, merkte Leuven an, der entspannt im Zuber daneben lag und es offensichtlich mit der Seife übertrieben hatte. Weiße Wölkchen aus Schaum schwappten über den Rand und verteilten sich wie Moos auf dem Steinboden.

»Ich habe mich gewaschen, oder etwa nicht?«, fauchte Evan.

Erst da fiel Leuven die unzähligen Narben an Evans Körper auf. Arme, Beine und auch Rücken waren übersät von kleineren und größeren Furchen. Manche waren bereits gut verheilt, andere schienen äußerst frisch zu sein.

Am auffälligsten aber war die lange Narbe, die über dessen gesamte Brust verlief.

Der junge Mann konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Er fragte sich, woher sie wohl stammen könnte. Einem riesigen Monster oder war es vielleicht eine Operationsnarbe?

Evan bemerkte die Blicke und wandte sich ab. Rasch verließ er das Zimmer, ohne ein Wort.

Auch Leuven verkniff sich die Frage, die er sich in diesem Moment stellte.

»Du solltest auch nicht zu lang verweilen, sonst schrumpfst Du noch!«, rief der Halbdämon dem Kaufmann zu und wollte damit von sich ablenken.

»Keine Sorge«, hallte es zurück. »Es ist genug Körpermasse vorhanden.«

Evan trocknete sich mit einem zweiten Handtuch seine wirren Haare und inspizierte die frische Kleidung auf seinem Bett.

Es traf nicht wirklich seinen Geschmack. Wenn er schon nicht seine Rüstung an seinem Leib spüren konnte, dann bevorzugte er einfache Kleidung. Je weniger er auffiel, desto besser. Aber in der Burg eines Fürsten spielte das wohl ohnehin keine Rolle, dachte er sich, bis er daran roch und das Gesicht verzog, als er den Zitronengeruch wahrnahm.

Er hasste den Geruch von Zitronen.

In dem Moment klopfte es an der Tür, und riss ihn aus den Gedanken.

Er öffnete sie sachte und blickte im Flur vor sich umher. Niemand war zusehen.

Er war schon im Begriff, die Tür wieder zu schließen, als eine hohe, wenn auch leise Stimme erklang. »Hier unten!«

Evan senkte seinen Blick. Vor ihm stand eine Zwergin, mit mittellangem Haar, und großen Glupschaugen. Sie lächelte ihn freundlich an.

»Ich wurde gebeten, Eure Kleider zu holen«, sagte sie mit hoher Stimme. »Aber verzeiht, offenbar störe ich Euch.«

Evan blickte an sich hinunter, er hatte schon fast vergessen, dass er nur in einem Handtuch bekleidet war. Er schämte sich aber nicht dafür und reckte entspannt den Rücken.

Die Zwergin war recht zierlich, trotz des aufgedunsenen Gesichts. Evan musterte sie. Sie trug einfache Kleidung, wie sie üblich war für Bedienstete am Hof.

»Verzeiht«, sagte er und öffnete die Tür komplett. »Kommt herein.«

Er wanderte zu seinem Bett und legte seine Rüstung zusammen. »Bitte vermeidet den Kontakt mit Lavendel oder Zitrone. Ich mag es, wenn meine Kleidung steril riecht.«

Als er einen Blick über seine Schulter warf, bemerkte er, dass die Zwergin sich keinen Zentimeter gerührt hatte.

»Tretet schon ein«, sagte er mit fordernder Stimme.

»O ähm, ich bleibe lieber hier stehen, aber Ihr könnt die Kleidung in den Sack tun«, gab sie zurück und streckte eben jenen leeren Sack vor sich aus.

»Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben.«

»Das habe ich auch nicht, mein Herr. Uns ist es aber nicht gestattet, die Herrschaften zu stören.«

»Ich erlaube es in diesem Fall aber.«

»Es tut mir leid, die Anweisung kommt vom Fürsten persönlich.«

Evan legte seinen Kopf auf die Seite, schnalzte mit der Zunge und drehte sich wieder herum, um die Rüstung zusammenzulegen.

»Wie heißt Ihr?«, fragte er, als er sich nach seiner Hose bückte, die auf den Boden gerutscht war.

»Petunia, mein Herr.«

»Petunia, so so.« Er steckte seine Kleidung und die Rüstungsteile in den Sack, dann hielt er kurz inne. »Petunia. Wann seid Ihr dem Mädchen begegnet.«

»Dem Mädchen, mein Herr?«, sie blinzelte aufgeregt mit den Glupschaugen.

»Ja, der geisterhaften Erscheinung, die ihr Unwesen in der Burg treibt.«

Die Zwergin ließ den Sack neben sich auf den Boden fallen und legte nachdenklich ihren Zeigefinger auf ihren Mund. Sie klopfte mehrmals auf ihre Lippen und starrte dabei verträumt an die Decke.

»Petunia?«, fragte Evan irritiert.

»Ah ja, das Mädchen. Nein«, gab sie dann zurück und nahm den Sack wieder in ihre Hände.

»Ihr habt sie nicht gesehen?«, die Verwunderung stand dem Halbdämon ins Gesicht geschrieben.

»Nein, ich habe nur die Geschichten der anderen gehört. Aber ich muss Euch sagen, ich bin auch erst seit einer Woche in der Burg angestellt.«

»Seit einer Woche?«

»Jawohl, mein Herr, seit einer Woche.«

Evan nickte dankend. »Das wäre dann alles, Ihr habt mir sehr geholfen.«

»Wobei denn?«, fragte Petunia und lächelte den Halbdämon mit breitem Mund an. Der Gesichtsausdruck war verstörend. Gewiss erzwungen, aber die Geste zeugte nicht von Feingefühl, geschweige denn von Ehrlichkeit.

»Gut, das wäre dann alles«, wiederholte Evan und verzog entgeistert das Gesicht.

»Ich danke Euch, mein Herr!«

Der Halbdämon schloss die Tür hinter sich und kratzte sich verwundert den Hinterkopf.

Auch Leuven hatte mittlerweile sein Bad beendet und kam mit einem Handtuch bekleidet aus dem Nebenzimmer. »Wer war das?«

»Die Hausdienerin«, gab Evan knapp zurück.

»Ah, sie hat also…«, der Kaufmann riss schlagartig die Augen weit auf. »Nein!«

»Was ist los?«

»Das hast Du doch mit Absicht getan!«

Evan öffnete den Mund, als wolle er zu seiner Verwunderung etwas sagen. Er brachte keinen Ton heraus, denn er wusste nicht einmal worum es ging.

»Na hier!« Leuven streckte ihm sein verschmutztes Wams entgegen. »Du hast ihr nur Deine Sachen mitgegeben!«

»Das war wirklich keine Absicht«, entgegnete Evan mit leiser Stimme, ohne in seinem Gesicht auch nur einen Funken von Reue aufblitzen zu lassen.

»Nur weil ich um ein wenig Lavendel in der frischen Wäsche gebeten habe?«

»Der Lavendel ist mir doch vollkommen egal«, gab Evan kopfschüttelnd zurück und legte die frische Kleidung auf seinem Bett ab.

»Tu doch nicht so scheinheilig!«

»Leuven?«, der Halbdämon streckte seinen Zeigefinger aus. »Es ist mir vollkommen egal. Egal, ob Deine Wäsche nach Lavendel riecht, egal ob sie sauber oder schmutzig ist und es ist mir egal, was Du von meiner Meinung hältst.«

Der Kaufmann plusterte sich auf.

»Lauf ihr doch hinterher«, sagte Evan gleichgültig und wanderte mit der frischen Kleidung in das Nebenzimmer. »Weit wird sie nicht gekommen sein.«

»Was, soll ich etwa nackt durch die Burg rennen, ist es das, was Du willst?«, prustete Leuven.

Evans Stimme klang schallend aus dem Nebenzimmer. »Herrje, zieh Dir vorher etwas an. So schnell ist sie nicht zu Fuß und außerdem, Du wirst ja wohl die Waschküche finden.«

Eine leidige Diskussion für den Halbdämon, derer er schnell überdrüssig wurde. Rasch zog er sich die frischen Kleider an und verließ das Schlafgemach.

Durch das gegenüberliegende Fenster hatte er einen guten Blick auf den Burghof.

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Kapitel 1
Rote Augen

Beschreibung: Der reisende Händler Leuven hält mit seinem Planwagen am Wegesrand, um sich auszuruhen, als er merkwürdige Geräusche aus dem Wald hört. Vielleicht wäre es für ihn besser gewesen, zu Hause zu bleiben, anstatt in die dunkle und brutale Welt hinauszugehen. Doch ein Fremder eilt ihm zu Hilfe. Dieser Fremde scheint jedoch kein normaler Mensch zu sein.

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Teil 2

Ein kräftiger Ruck weckte Leuven am nächsten Morgen.

Durch einen kleinen Schlitz in der Plane schien die Sonne in sein Gesicht und blendete ihn.

Der Wagen wankte von rechts nach links, vor und zurück.

Aufgeregt reckte der junge Kaufmann seinen Kopf aus dem Wagen hinaus. Ein Ast peitschte ihm dabei kräftig gegen die Wange und hinterließ einen sich rötende Stelle.

»Verdammt«, stöhnte er laut auf.

Leuven blickte sich um. Sein Karren befand sich nicht mehr am Wegesrand. Ruckartig blieb dieser stehen.

Erschrocken musste er feststellen, dass ihn irgendjemand oder irgendetwas in den Wald gezogen hatte.

»Nein, nein, nein«, schimpfte er, zog sich geschwind die Stiefel an, die nach Schweiß und Erde stanken und kletterte aus dem Wagen hinaus.

Er bewegte aufgeregt seinen Kopf umher. »Was zum Teufel ist passiert?«

»Deine Stute ist nicht wiedergekommen.« Evans Stimme erklang vor dem Wagen.

Als er hervorkam, wischte er sich mit seinem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Puh, der Wagen ist schwerer, als ich geahnt hatte.«

»Du warst das?«, prustete Leuven, »Du hast meinen Wagen in den Wald gezogen?«

Evan blickte ihn erstaunt an. »Natürlich. Ich sagte doch, dass Deine Stute nicht wiedergekommen ist. Hörst Du mir denn nicht zu?«

»Aber, aber, das ist doch unmöglich!«

»Halbdämon. Schon vergessen? – Du hörst mir ja wirklich nicht zu.«

Er schritt an dem Kaufmann vorbei. »Kommst Du mit oder hast du es dir anders überlegt?«

»Du willst doch nicht wirklich zu der Burg von Dancker, oder? – Mir wird aber wohl keine andere Wahl bleiben. Aber höre auf meine Worte. Nie und nimmer lassen die uns in die Burg!«, protestierte Leuven.

»Ach ja. Deinen Wagen bekommst du allein bestimmt nicht mehr heraus. Nun gut, dann bleibt wohl nur die Wahl, zur Burg zu gehen oder zu verhungern.« Evan verhöhnte den jungen Mann.

Ein lautes Magenknurren übertönte die Waldidylle, mit seinen Vogelgesängen und den im Wind knisternden Blättern.

Leuven wurde rot im Gesicht. Er fühlte sich ertappt. Aber wahrlich, seit Tagen hatte er nichts außer trockenes Brot zu sich genommen und die Reste davon waren in der Nacht zuvor in Flammen aufgegangen.

»Ich hoffe, dass Du weißt, was Du tust«, stöhnte er.

»Das weiß man vorher nie, aber ich finde es gerne heraus«, gab Evan zurück, schob einen Ast zur Seite und verließ den Wald in die Richtung der Straße.

»Na wunderbar. Jetzt folge ich auch noch einem Halbdämon. Vater hatte Recht. Ich bin für solch ein Leben einfach nicht geschaffen.« Widerwillig folgte Leuven Evan durch das Geäst.

Trostlos erstreckte sich die schmale, sandige Landstraße vor ihnen, durchsetzt von zahlreichen Schlaglöchern.

»Wir sollten die Burg gegen Mittag erreichen«, sagte Evan.

»Na toll, jetzt muss ich auch noch stundenlang irgendwo im Nirgendwo, mit einem Halbdämon und leerem Magen spazieren«, gab Leuven müde zurück. »Mir tun alle Knochen weh.«

Evan drehte sich zu ihm herum. »Du bist noch nicht lange auf Reisen, nicht wahr?«

Leuven erhob abwehrend die Hände und verzog das Gesicht. »Nun ja, nein, nicht wirklich. Ich bin vor etwa einem Monat abgereist.«

»Vor einem Monat? – Hätte nicht gedacht, dass es schon so lange ist. Du hast es bisher überlebt, das ist eine Überraschung.«

»Bitte? – In mir steckt mehr, als Du vielleicht denkst!«

Evan drehte sich wieder zu ihm herum. »Nun, dann sollte der Weg ja kein Hindernis für Dich darstellen.«

Leuven schluckte. »Das hoffe ich.«

Für den jungen Kaufmann fühlte sich der Weg wie die Ewigkeit an. Jammernd und keuchend schlenderte er die letzten Kilometer die letzte Anhöhe hinauf. Eigentlich tat er es bereits den gesamten Weg über, aber Evan konnte ihn die meiste Zeit erfolgreich ausblenden. Erst zum Ende des Weges wurde ihm das Gejammere des Kaufmanns zur Last.

Nach einigen Stunden erkannten sie einen Turm zwischen den Baumwipfeln.

»Da ist es«, sagte Evan.

Er machte keinen Anschein, auch nur irgendwie von dem Weg geschafft zu sein. Anders als Leuven, der schwer atmend die Hände auf den Knien abstützte.

»Na endlich«, keuchte er. »Das wurde aber auch Zeit. Ich dachte schon, ich sterbe.«

»Du hast es geschafft. Sei stolz auf Dich.«

»O das bin ich, das bin ich. War ja auch ein Klacks, nicht wahr? – Ein Katzensprung, ich freue mich schon auf den Rückweg, nachdem die Wachen uns zum Teufel geschickt haben. Du nicht auch?«

Der Halbdämon antwortete nicht, aber ein leichtes Grinsen, wie ein kurzer Blitz, der durch den Nachthimmel zuckt, zog durch sein Gesicht.

Der Turm und das anliegende Gebäude aus Ziegelsteinen wurde von einer massiven Steinmauer umgeben. Evan schätzte sie auf acht bis zehn Meter Höhe.

Zwei Männer in einfachen Eisenrüstungen bewachten das Eingangstor, das aus dicken, rostigen Eisenstangen bestand.

Leuven war seine Unsicherheit deutlich anzumerken, während Evan gelassen auf die beiden Wachen zutrat.

Die bösen Blicke verhießen nichts Gutes. Während sich Leuven innerlich schon auf den Rückweg vorbereitete, ließ Evan keine Anspannung aufkommen.

»Halt! – Kein Einlass!«, sagte einer von den Wachen mit kräftiger Stimme. Ein alter, aber stämmiger Mann, mit ergrautem Schnurrbart und kahlem Kopf.

Evan musterte ihn. Seine Fingernägel waren abgebrochen, das Gesicht verrußt. Die Augenlider hingen wie zwei nasse Säcke hinunter.

»Wir möchten zu Fürst Dancker«, sprach der Halbdämon bestimmt.

Die zwei Wachen schauten sich belustigt an. »Hah, er will zum Fürsten!«

Evan verschränkte die Arme vor der Brust und nickte.

Der alte Wachmann kam einen Schritt näher und lugte unter dessen Kapuze. »Was isn mit Euch nicht richtig?«

»Ich habe die letzten Tage nicht viel geschlafen.« Evan blieb die Ruhe selbst.

»Schlecht geschlafen? – Seid Ihr krank oder sowas? – Bringt Ihr uns die Pest ins Haus?«

»Weder noch. Ich habe Gerüchte gehört.«

Evan versuchte erst gar nicht, seine dämonisch anmutenden Augen zu verbergen. Im Gegenteil, er hoffte, er könne sich dadurch Respekt von den Wachen erschleichen.

»Pahahaha!«, der Wachmann wankte lachend zurück. »Gerüchte hat er gehört!«

Evan nickte.

»Was denn für Gerüchte?«, fragte der zweite Wachmann amüsiert. Ein langer, dürrer und junger Mann, mit fettigen, blonden Locken.

»Man sagt sich, dass sich etwas in Eurer Burg herumtreibt«, gab Evan ruhig zurück.

Leuven lief der Angstschweiß über die Stirn. »Evan, vielleicht sollten wir…«, sagte er nervös mit leiser Stimme.

»Verpisst Euch!«, spuckte der alte Wachmann. »Schert Euch zum Teufel und wagt es nicht, Euch jemals wieder der Burg zu nähern!«

Sein Kopf lief rot an. Die Adern an seinem Hals pochten bedrohlich auf.

Evan aber beeindruckte dies nicht, auch wenn er sehr wohl die angespannte Atmosphäre wahrnahm. »Wir sind hier, um zu helfen.«

»Einen Scheiß seid ihr!«, der Wachmann zog blitzschnell sein Schwert aus der Scheide und hielt die Klinge bedrohlich vor Evans Augen. »Ich sage es nicht noch einmal, verpisst Euch Missgeburt!«

Hinter ihm ertönte plötzlich eine hohe und zugleich sanfte Stimme. »Haltet ein!«

Der Wachmann drehte sich erschrocken zum Tor herum. Hinter den Gittern erspähte er eine junge Frau, in einem dunkelgrünen, samtenen Mantel.

»Das sind die Kammerjäger, die der Fürst bestellt hat«, sagte die junge Frau.

»Kammerjäger?«, fragte der Alte irritiert und blickte zu seinem Kollegen, der mit den Schultern zuckte und dabei die fettigen Locken schüttelte.

»Ja, die Kammerjäger«, wiederholte die Frau. »Der Fürst hat sie vor drei Tagen herbestellt.«

»Kammerjäger«, stammelte der Wachmann und schaute dann wieder zu Evan. »Ihr seht nicht aus wie ein Kammerjäger.«

Dieser legte den Kopf auf die Seite. »Wie sieht denn ein Kammerjäger aus?«

Der Wachmann schaute an ihm vorbei und musterte Leuven. »Zumindest nicht so!«

Der Halbdämon stellte sich in sein Blickfeld. »Wie viele Kammerjäger habt Ihr denn bereits getroffen?«

Der Alte schnalzte mit der Zunge, senkte das Schwert und schaute zur jungen Frau hinter dem Gittertor. »Seid Ihr Euch sicher?«

»Das bin ich«, antwortete sie und streckte sich demonstrativ.

»Nun gut, aber ich warne euch. Bringt Ihr uns Unheil, so werden eure Köpfe noch vor der Abenddämmerung rollen«, knurrte der Wachmann und ging einen Schritt zur Seite.

Leuven rutschte das Herz in die Hose. Was habe ich mir nur eingebrockt?, dachte er sich. Seine Knie zitterten, und sein Kopf schmerzte. Das war eindeutig zu viel für ihn. Erst die Karraks und jetzt legten sie sich auch noch mit den Wachen eines Adeligen, wenn auch niederen Titels, an.

Evan nickte und blickte vielsagend zu Leuven.

»Öffnet das Tor!«, rief der alte Wachmann. Das Tor öffnete sich mit einem lauten, metallischen Geräusch.

Der Halbdämon betrat den Burghof, dicht gefolgt von dem jungen Kaufmann.

Vor der Burg befanden sich die für eine kleine Burg typischen Gebäude. Eine Baracke für die Wachen, eine Scheune, ein Pferdestall, eine Hühnerhecke und ein kleiner Unterstand unter dem der Schmied seiner Arbeit nachging.

Die Burg selbst war schon sehr alt. Leuven kannte die Geschichten rund um die Burg Haren.

Sie war ein Lehen, das vom König Brünnens vergeben wurde. Zwar befand sie sich seit Generationen im Besitz der Familie Dancker, aber nur solange, sie dem Herrscher auch treu ergeben waren.

Der König hatte das Recht, die Burg jederzeit einem anderen Vasallen des Königreiches Brünnen zu übergeben.

Es gab das aus Ziegelsteinen erbaute Haupthaus und jenen Turm, den sie aus der Ferne bereits erspäht hatten.

Evan blickte zu der jungen Frau. »Wir danken Euch. Aber ich hoffe Euch ist bewusst, dass wir nicht die sind, für die Ihr uns haltet.«

»Evan«, stammelte Leuven entsetzt. »Was tust Du denn da?«

Kann er nicht einmal den Mund halten? Führte er in Gedanken fort, es scheint als wolle er unbedingt in Schwierigkeiten geraten.

Die junge Frau lachte und warf mit einem Kopfschwung ihre schwarzen Locken zur Seite. »O doch, auf Euch habe ich gewartet.«

»Ihr habt auf mich gewartet? – Eher unwahrscheinlich. Woher solltet ihr davon wissen?«

»Evan… Lass das bitte.« Leuven explodierte innerlich, nach außen hin ähnelte er aber eher einem Häufchen Elend.

»Nun«, sagte sie und schaute den Halbdämon mit ihren tiefen, blauen Augen an. »Ich habe es gesehen.«

»Gesehen?«

»Ja. Ich habe es gesehen. Schon vor einigen Tagen habe ich von Euch geträumt. Ich muss aber gestehen, dass ich Eure Begleitung nicht in meinen Träumen gesehen habe«, gab sie amüsiert zurück.

Evan blieb stehen. »Ihr seid eine Seherin.«

Sie lächelte und nickte. »Marie de Boer. Es freut mich, Euch endlich kennenzulernen. Ich wusste nicht, ob es sich wirklich ereignen würde, aber umso erfreuter bin ich.«

»Evan.« Gab dieser trocken zurück.

»Und Euer Freund?«, fragte Marie und blickte auf den unsicheren wirkenden jungen Mann, der sich hinter dem Halbdämon hielt.

»Ich… bin Leuven.«

»Hmm, Euch habe ich in meiner Vision wirklich nicht gesehen. Aber was ich sehe, ist stets im Wandel. Die Zeit bleibt nicht stehen, sie verändert sich ständig«, sagte sie.

Evan schaute sie ernst an. »Was macht eine Seherin auf einer Burg?«

Sie lächelte wieder. »Der Fürst hat mich bestellt. Ich nehme an, dass Ihr hier seid, weil Ihr die Gerüchte über einen Geist gehört habt. Sie sind wahr. Der Fürst hat mich rufen lassen, um ihm bei dieser Plage zu helfen.«

»Und dann? – Hättet Ihr ihn davon überzeugt weiterzuziehen, Euch mit ihm angefreundet, zusammen Lieder gesungen?«, fragte Evan misstrauisch.

Leuven stellte sich zwischen ihnen. Er verspürte den Drang etwas sagen. »Sei doch nicht so unhöflich!«, polterte er. »Sie hat uns geholfen, dann kannst Du ihr wenigstens zuhören.«

Marie erhob ihre Hand. »Ist schon gut. Ich bin es gewohnt, dass man mich und meinen Beruf nicht ernst nimmt. Aber ich bin mir sicher, dass ich Euch von meinen Fähigkeiten überzeugen kann. Genau wie ich es beim Fürsten getan habe.«

»Mhh. Das habt Ihr mit Sicherheit in Euren Träumen gesehen«, sagte Evan.

»Nennt es Intuition.«

Schmunzelnd streckte sie ihren Arm aus. »Kommt, ich werde euch Fürst Dancker vorstellen. Aber seid vorsichtig, die Stufen sind rutschig.«

Über eine schmale Steintreppe und eine hölzerne Tür betraten sie die kleine Burg. In der Tat war die Steintreppe vom morgendlichen Tauwetter rutschig geworden.

Beinahe rutschte Leuven aus. Er sah sein Gesicht bereits im Pferdedung liegen, als er sich vor Schreck an der Burgmauer festhielt.

Vor ihnen erstreckte sich ein enger Flur. Die Einrichtung war eher spärlich. Auf dem Boden befand sich weder ein Läufer, noch ein Teppich. An den Wänden hingen landschaftliche Ölgemälde. Nichts Besonderes in Evans Augen. Selbst Leuven wirkte nicht beeindruckt von der Innenausstattung.

Der Gang führte in den Speisesaal. Ein massiver Holztisch mit Platz für bis zu zehn Personen erstreckte sich vor Ihnen. Leuven konnte sich vorstellen, dass hier schon desöfteren Gelage gefeiert wurden.

Gegenüber von Ihnen befand sich der Kamin und darüber hing ein Bild eines jungen Ritters, mit goldenem Haar, in strahlender Rüstung. Stolz und ehrfürchtig saß er auf einem weißen Ross.

»Wartet hier«, sagte Marie und verschwand durch eine Tür neben dem Kamin, die offenbar in den Turm führte.

Evan nickte und inspizierte den großen Raum. Kahle Wände, ein paar Gemälde, nichts, das den Anmut eines Fürsten widerspiegelte, bis auf das Gemälde des jungen Ritters.

Sein Blick fiel schließlich auf etwas anderes, etwas Kleines, schwarzes.

Auf dem Kaminsims entdeckte er eine kleine Schatulle, vielleicht fünfzehn Zentimeter in Länge, Breite und Höhe. Sie war verziert mit einem Halbrelief, das verschiedene, stilisierte Tiere und andere, schwer erkennbare Kreaturen zeigte. Der Halbdämon erkannte einen Hirsch und einen Wolf, die anderen Abbildungen waren selbst ihm fremd.

»Du hast aber Manieren«, schnaubte Leuven.

Evan schaute ihn verdutzt an und trat vom Kamin weg. »Ich vertraue keiner Seherin, die behauptet, mich in ihren Träumen gesehen zu haben.«

»Aber ohne sie hätten wir das Tor niemals passiert!«

»Es gibt immer mehr als nur einen Weg. Wir hätten es auch ohne sie geschafft.«

»Hätten wir nicht und das weißt Du auch! – Du tust so schlau, aber den Beweis bist Du noch schuldig. Genau wie mit meiner Stute«, Leuvens Stimme wurde lächerlich hoch, »O, die kommt schon wieder, warte bis morgen, dann ist sie wieder da, oho! – Na, wo ist sie denn?«

»Sei still«, schnaubte Evan.

»Nein, Du verbietest mir nicht den Mund. Zügel Dich bitte, sobald der Fürst eintritt.«

Evan seufzte und verdrehte die Augen. »Nun gut, ich halte mich ein wenig zurück.«

»Ein wenig?«

»Ja, ich werde mich dem Fürsten gegenüber respektvoll verhalten.«

»Und Marie?«

»Was soll mit ihr sein?«

Leuven schaute ihn eindringlich mit großen Augen an.

»Na gut, ich werde mich auch ihr gegenüber respektvoll verhalten«, versprach der Halbdämon widerwillig.

Leere Phrasen oder doch die Wahrheit? – Leuven vermochte nicht es einzuschätzen, aber er hoffte, dass sie nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geraten würden.

Es öffnete sich die große Tür neben dem Kamin. Marie betrat den Speisesaal. Hinter ihr erschien ein stämmiger Mann mit zerzaustem, mittellangem grauem Haar und einem Bart, der zum Teil geflochten war. Er trug ein Gewand, das für den niederen Adel typisch war. Ein dunkelgrünes Hemd mit goldfarbenen Verzierungen und eine schwarze, weite Stoffhose.

Die braunen Stiefel waren frisch poliert.

Der Mann sah müde aus. Als hätte er tagelang nicht schlafen können.

Leuven blickte ihn an und schaute dann auf das Bild über dem Kamin. Er war sich sicher. Das Bild zeigte den Fürsten, wenn auch in seinen jungen Tagen.

Evan blickte selbstsicher zu Leuven.

»Ich warne Dich«, zischte dieser leise.

»Hrach!«, stieß der Fürst aus, als würde sich ein fetter Schleimklumpen in seinem Hals befinden. »Ihr seid also der, von dem die Seherin gesprochen hat.«

»Scheint so«, gab Evan kalt zurück und kassierte dafür einen leichten Stoß von Leuvens Ellenbogen.

»Scheint so, mein Herr«, verbesserte sich der Halbdämon und warf dem Kaufmann einen finsteren Blick zu.

»Nun gut, hat Madame de Boer Euch schon über die Vorfälle aufgeklärt?«, fragte der Fürst und ließ sich auf einen hölzernen Stuhl fallen, der am Esstisch stand. Die Beine des Stuhles knackten bei der Belastung.

»Noch nicht, Herr«, sprach Marie und faltete ihre Finger vor ihrer Hüfte zusammen. »Ich wollte es Euch nicht vorwegnehmen.«

»Aha. Nun denn, was wollt Ihr wissen?« Sein müder Blick wanderte zu Evan.

»Alles. Fangt von vorne an, erzählt uns den Mittelteil und dann das Ende«, gab Evan stur zurück.

»Herrje, Du hast es versprochen«, flüsterte Leuven sauer. Die ungehobelte Art des Halbdämons ging ihm sichtlich auf die Nerven. Vor einem Bauern könnte er sich verhalten, wie er wollte, aber vor einem Fürsten, egal welchen Ranges, da fordere die Gesellschaft und die Etikette Respekt.

»Mein Herr, verzeiht. Mein Kollege ist etwas ungehobelt. Meiner Theorie zufolge ist er als Kind auf den Kopf gefallen«, sagte er schließlich und hoffte, der Fürst würde Evans Verhalten entschuldigen.

Der Fürst verzog sein Gesicht und musterte zuerst den Halbdämon und dann den Kaufmann, in seiner edlen, aber völlig verdreckten Kleidung.

Er blickte kurz zu der Seherin. »Und Ihr seid sicher, dass dies der ist, den Ihr in Eurer Vision gesehen habt?«

Sie nickte. »Ja, mein Herr. Das ist er.«

»Ich hatte ihn mir anders vorgestellt, was ist eigentlich mit Euren Augen, seid Ihr krank, bringt Ihr die Pest an den Hof?«, fragte er schließlich Evan mit bellender Stimme.

»Meine Augen? – Was soll mit ihnen sein, mein Herr?«, gab dieser zurück und spielte Unwissenheit vor.

»Na, Eure Augen sehen seltsam aus, als hättet Ihr Euch etwas eingefangen.«

Evan schüttelte den Kopf. »Nein, mein Herr, ich bringe Euch keine Krankheiten an den Hof.«

»Aber was ist es dann? – Das ist doch nicht normal. Madame de Boer, das ist doch nicht normal, oder?«

Die Seherin wollte etwas sagen, ihre Lippen bewegten sich aufgeregt, doch kein Ton kam aus ihrem Mund.

»Ach, Ihr meint die Farbe meiner Augen«, sagte Evan schließlich.

»Ja, aber natürlich meine ich die Farbe Eurer Augen!«

»Ich stamme aus dem Süden.« Die Stimme des Halbdämons ließ keine Emotion erahnen.

Fürst Dancker blickte ihn misstrauisch an. »Im Süden sind rote Augen üblich?«

»Üblich nicht, auch dort sind sie selten. Aber ob braun, blau, grün oder rot, es sind nur Farben. Wenn ich mich recht erinnere, kannte ich mal eine Dirne, die hatte grau-gelbe Augen. Das hatte ich zuvor auch noch nicht gesehen.«

»Schon gut, schon gut«, schnaufte der Fürst, »Es soll mich auch nicht weiter interessieren.«

»O, wusstet Ihr«, jetzt war auch Leuven hellwach, »die Farbe Blau gibt es eigentlich gar nicht. Die Druiden vom Hirtenbaum sollen dieses Gerücht in die Welt gesetzt haben, um zu schauen, ob die Menschen ihnen diesen Schwindel abkaufen. In Wahrheit ist die Farbe Blau einfach nur ein Grünton. Interessant, nicht wahr?«

Strafende Blicke trafen ihn von allen Seiten.

Peinlich berührt machte er einen Schritt zurück.

»Und das Plappermaul? – Von dem habt Ihr mir nicht erzählt«, sagte der Fürst und schaute Marie mit durchdringenden Blicken an.

»Mein Herr, dies ist Leuven. Er ist die Begleitung des Herrn Dhorne. Ihn habe ich leider nicht in meiner Vision gesehen.«

»Du hast ihn nicht gesehen? – Nun denn, gefährlich sieht es nicht aus.«

»Mein Herr«, sagte Evan, »wir sind gekommen, um Euer Problem zu lösen. Je eher wir damit beginnen, desto eher kann ich Euch davon befreien. Sagt mir was Ihr wisst, dann seid Ihr uns alsbald wieder los.«

»Schon gut. Ich werde Euch sagen, was geschehen ist. Es fing vor einigen Wochen an. Es war in der Nacht. Ein grausiger Schrei hallte durch die ganze Burg. Ein jeder wachte davon auf. Wie sich herausstellte, kam dieser von meiner Dienstmagd Yvette. Sie war ganz aufgelöst, meinte sie hätte nen Geist gesehen.«

»Das ist alles?«, fragte Evan irritiert.

»Natürlich nicht«, sagte Fürst Dancker und gähnte dabei. »Wir fanden sie im Keller, in der Speisekammer. Sie meinte, sie wollte noch eben die Vorräte für den Winter überprüfen, damit sie die Bestellungen für die nächsten Wochen machen konnte. Auf einmal stand ein Mädchen hinter ihr.«

»Ein Mädchen?«

»Ja, herrje, ein Mädchen! – Aber nicht einfach nur so ein Balg, sondern Yvette behauptete ihm hätten beide Augen gefehlt. Nur zwei blutende Höhlen hatte die, meinte zumindest meine Dienstmagd. Aber geglaubt haben wir ihr nicht, zumindest zu diesem Zeitpunkt.«

»Ein Hirngespinst, wie mir scheint«, merkte Evan an.

»Ja, genau das dachten wir ja auch! – Aber seitdem kam es des Öfteren vor. Nicht nur der Yvette. Mehrere meiner Bediensteten behaupten, etwas Unheimliches gesehen zu haben. Mal in der Speisekammer, mal im Pferdestall, selbst die Pferde wiehern abscheulich bei Nacht. Außerdem plagen uns diese Träume.«

»Sprecht weiter.«

»Grässliche Träume. Ein jeder von uns hat schon von diesem Mädchen ohne Augen geträumt.«

Evan schaute zu Marie. »Habt Ihr sie auch gesehen?«

Die Seherin nickte bedrückt.

»Hört zu«, sprach der Fürst. »Diese Träume, sie fühlen sich so echt an. Eines Nachts bin ich aufgewacht, da saß das Mädchen plötzlich auf mir, schnürte mir die Luft ab, drückte meine Arme ins Bett. Aber dann, als wäre nichts gewesen, da wachte ich ein weiteres Mal auf und lag im Bett neben meiner Gattin, die seelenruhig schlief. Ich wusste erst gar nicht, ob es ein Traum oder real war.«

»Manchmal können sich starke Träume in unseren Gedanken manifestieren«, sagte Evan. »Noch weist nichts auf einen Geist hin.«

Fürst Dancker blickte zu Marie, die ihm mit einem traurigen Nicken antworte.

»Dann seht Euch das an«, sprach er zu Evan und zeigte ihm Brandmale die sich an seinen Handgelenken befanden. Rote Abdrücke wie die von kleinen Fingern.

Der Halbdämon schnalzte mit der Zunge. »Das ändert natürlich alles.«

Marie stemmte ihre Hände auf den Holztisch. »Es ist keine Einbildung. Ein jeder hier in der Burg hat das Mädchen schon einmal gesehen. Sie träumen von ihr, sie spüren sie. Auch ich kann ihre Anwesenheit spüren.«

»Hat jeder denselben Traum?«, fragte Evan. Langsam nahm er die Sache ernst.

»Nicht das ich wüsste«, antwortete Marie. »In der Regel verbindet sie sich mit etwas Persönlichem. Ich habe zum Beispiel von meiner Mutter geträumt, wie sie an der Feuerstelle steht und Suppe kocht. Plötzlich war sie fort, und das Mädchen sprang unter dem Tisch hervor. Mit ihren leeren Augen und spitzen Zähnen.«

»Bevor sie mir diese Narben zufügte, träumte ich ebenfalls von etwas anderem«, warf der Fürst ein. »Ich ritt mit meinem weißen Ross in die Schlacht. Links und rechts von mir bekämpften sich die Männer, es war ziemlich wirr. Inmitten des Geplänkels stand sie dort. Keiner schien sie zu beachten. Nur ich konnte sie sehen. Da sprang sie mich an. Dann erwachte ich, und sie drückte mich tief in das Bett. Ja, so war das.«

»Hmm. Sie kann also in Träume springen, sich aber ebenso in der realen Welt manifestieren«, sagte Evan nachdenklich.

»Also war es doch kein Traum?«, fragte der Fürst. Es schien so, als würde er sich bestätigt fühlen, auch wenn dies ein schwacher Trost sein sollte.

»Habt Ihr eine Ahnung, was für ein Geist das sein könnte?« Marie schob eine Braue hoch.

»Hmm, eine Succubus hat solche Fähigkeiten. In der Regel sucht sie sich aber nur Männer, denen sie den Verstand rauben kann, in diesem Fall bleiben aber Männer und Frauen gleichermaßen nicht verschont. Vielleicht ein Paar aus Succubus und Incubus, das ist aber eher unwahrscheinlich.«

»Ein Succu-Was?«, spuckte der Fürst mit weit aufgerissenen Augen.

»Succubus. Das sind Dämonen, die meist in der Gestalt einer hübschen Frau auftauchen und im Schlaf Männer verführen. Sie dringen tief in die Gedanken ein und zerstören den Geist«, erklärte Evan ruhig.

»Aber weshalb tun sie das?«

»Nun«, Evan machte eine kurze Pause. »Sie machen dies zur Fortpflanzung.«

»Wie kann man sich denn so fortpflanzen?«, fragte Dancker und zog die Stirn kraus.

»Nun ja…«

Marie ergriff das Wort und schaute peinlich berührt, als sie sprach. »Sie stehlen den Männern ihren Samen.«

»Sie tun was bitte?« Entsetzt sprang der Fürst von seinem Stuhl auf, der krachend auf den kahlen Boden donnerte.

»Sie stehlen den Männern ihren Samen«, wiederholte sie. »Damit können Sie ihre Spezies am Leben halten.«

Marie räusperte sich und schaute zu Evan hinüber. Ihr Blick wirkte boshaft, als wenn er sie dazu gezwungen hätte, das Wort zu ergreifen.

»Aber die Erscheinung war ein kleines Mädchen, bei jedem von uns!«, protestierte Dancker und gestikulierte dabei wild mit den Armen.

»Deshalb bezweifle ich, dass es ein Succubus ist«, sagte Evan. »Was es auch ist, es ist erstens an diesen Ort gebunden und zweitens muss etwas sein Erscheinen ausgelöst haben.«

»Ihr denkt, dass es einen Vorfall gegeben hat, der den Geist herbeirief?«, fragte Marie gebannt.

»Ein Vorfall, ein Ritual, da kommt einiges infrage.«

»Nun gut«, sprach der Fürst, als er seinen Stuhl wieder aufstellte. »Sorgt dafür, dass dieses Ding aus meiner Burg verschwindet. Madame de Boer, besprecht Euch mit den Herren. Wenn Ihr etwas benötigt, könnt Ihr Vermeer um Hilfe bitten.«

Ermahnend erhob Dancker seinen Zeigefinger.

»Und ihr«, er drehte sich zu Evan und Leuven umher, »fühlt Euch wie zu Hause. Aber bitte nicht zu sehr. Ihr könnt ein Zimmer haben und wie mir dünkt, wären frische Kleider nicht schlecht. Vermeer!«

Nach einem kurzen Moment öffnete sich die Tür neben dem Kamin. Ein schlanker Mann mittleren Alters, in gepflegtem, aber nicht übermäßig edlem Gewand betrat den Speisesaal. »Ja wohl, mein Herr?«

»Vermeer, kleidet die beiden Herren neu ein und wascht deren Kleider. Ein Bad soll ebenso Recht sein.«

»Aber natürlich, mein Herr, es ist bereits alles vorbereitet«, antwortete Vermeer mit ruhiger, aber respektvoller Stimme.

Er wandte sich an Evan und Leuven. »Wenn die Herren erlauben. Ich werde Sie zu Ihrem Zimmer führen. Dort können Sie sich neu einkleiden. Ihre Rüstung und Ihr Gewand werden wir sorgfältig waschen. Ist Zitrone Ihnen Recht?«

»Ach, herrje, bitte nicht«, gab Evan zurück.

Leuven trat einen Schritt vor. »Hättet Ihr Lavendel da? – Ich finde, damit riecht die Wäsche besser.«

»Bitte nicht«, stöhnte der Halbdämon neben ihm wiederholend.

»Aber natürlich, mein Herr, wenn Ihr mir dann folgen wollt.« Vermeer hielt den Beiden die Tür offen.

Sie umkreisten den langen Holztisch.

Evan blieb neben Marie stehen.

»Wir sollten unser weiteres Vorgehen besprechen«, sagte er zu ihr.

»Ich kann Euch verraten, wo sich mein Zimmer befindet«, flüsterte Marie ihm blinzelnd zu.

Nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, wandte sie rasch ihren Kopf ab. Es sollte als Scherz gemeint sein, als flüchtige, lockere Bemerkung. Aber sie merkte selbst, wie unpassend und aufdringlich es war. In ihr stieg die Hoffnung, dass Evan es als eben jenes wahrnehmen würde, aber was, wenn nicht? Ihr Gesicht wurde rot vor Scham.

»Besser, wir treffen uns hier. In einer Stunde«, gab er kalt zurück und schritt weiter.

Die Seherin verzog ihre sanften, roséfarbenen Lippen. Er hatte es wohl doch als unpassend empfunden, oder war es ihm einfach egal? – Sie seufzte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken.

»Fürst Dancker«, sprach Leuven und verbeugte sich vor dem Herrn, »mein Freund und ich, wir danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft. Ich verspreche Ihnen, wir werden herausfinden, was in Ihrer Burg vor sich geht.«

Seine Worte waren vielleicht mehr dazu da, sein eigenes Selbstvertrauen zu stärken, oder vertraute er zu sehr auf Evans Fähigkeiten? Die Antwort blieb ihm verborgen, aber er hoffte inständig auf ein gutes Omen.

»Ja, verstehe«, erwiderte der Fürst gelassen, winkte nachsichtig mit der Hand und unterdrückte ein herzhaftes Gähnen. »Tut, was notwendig ist. Ich werde mich noch ein paar Stunden zur Ruhe begeben. Das Mittagessen verschieben wir auf den Nachmittag. Vermeer, bitte informiert den Koch.«

Dieser nickte und hielt den Gästen weiterhin mit einer Hand die Tür auf.

»Mein Herr, wenn es Ihnen beliebt?« Vermeer blickte den Halbdämon auffordernd an, seine Stimme war jedoch von einer fast übertriebenen Freundlichkeit durchzogen.

»Darf ich fragen, was es zum Mittagessen gibt?«, fragte Leuven mit funkelnden Augen. Das Wasser lief ihm schon förmlich im Mund zusammen. Er träumte von gebratenen Kartoffeln, Bohnen in Speck und Wachteleiern. Obwohl sein knurrender Magen immer wieder Protest einlegte, versuchte der junge Händler, dies mit gelegentlichen, eigenartigen Körperbewegungen zu kaschieren.

Evan packte ihn am Kragen und drückte ihn an Vermeer vorbei in den Flur zu den Gemächern.

»Hey, hey, nicht so grob!«, erwehrte sich der Kaufmann, als er beinahe auf dem kahlen Stein ausrutschte.

Der Kammerdiener schloss die dicke Holztür hinter sich, nachdem er sich vor dem Fürsten verneigt hatte.

Dancker wandte sich mit müdem Blick an die Seherin. »Und das sind wirklich die Beiden aus Ihren Träumen?«

Marie blickte entrüstet zurück. »Nur der Halbdämon. Von dem anderen habe ich in meinen Träumen nichts gesehen. Bei ihm bin ich mir unsicher. Aber Evan ist es, den ich gesehen habe.«

»Ihr sehr beunruhigt aus.«

»Keines Wegs mein Herr«, die Seherin streckte ihre Brust raus. »Dieser Leuven ist ein einfacher Kaufmann, er stellt keine Gefahr dar. Wahrscheinlich habe ich ihn aufgrund seiner Nichtigkeit nicht gesehen. Die Person, auf die es ankommt, ist Evan.«

»Behaltet ihn gut im Auge«, der Fürst räusperte sich. »Mir ist unwohl bei dem Gedanken, einen Halbdämon in meiner Burg frei rumlaufen zu lassen. Meine Gattin darf davon nichts erfahren. Ihr tragt die Verantwortung, haben wir uns verstanden?« Der Ton des Fürsten verschärfte sich.

Marie machte einen hochachtungsvollen Knicks. »Natürlich, mein Herr.«

»Hah«, lachte Dancker kurz auf. »Er kommt aus dem Süden. Hält er mich für einen Dummkopf?«

»Mein Herr, ich denke nicht, dass dies als Affront gemeint war. Ich schätze nur, dass er es leid ist, sich stets erklären zu müssen.«

»Ich halte nicht viel von seinesgleichen, aber solange er mir von Vorteil ist, soll er tun was nötig ist.«

»Ich verstehe. Ich sehe aber noch einiges an Menschlichkeit in ihm.«

»Ein Tropfen dämonischen Blutes reicht aus, um all seine Menschlichkeit zu verlieren. Meinetwegen kann auch Dung durch seine Adern fließen. Wenn er Euch eine Hilfe ist, so soll er seine Arbeit tun. Scheitert er, wird er sterben.«

»Und wenn er nicht scheitert?«

Der Fürst knurrte.

»Mein Herr?«

»Vielleicht lasse ich ihn dann am Leben. Aber Marie, Euch sollte klar sein, dass auch Ihr nicht scheitern solltet. «

Die Furcht war deutlich im Gesicht der Seherin zu erkennen. Gleichwohl setzte sie einen zuversichtlichen Blick auf. »Wir werden nicht scheitern.«

Der Fürst nickte und schritt an ihr vorbei. Leise drang seine Stimme in ihre Ohren. »Das rate ich Euch.«

Dancker verließ den Speisesaal durch die Tür neben dem Kamin. Mit einem knallen fiel die diese ins Schloss.

Die Seherin blieb noch eine Weile an dem großen Tisch stehen. Ihre Fingernägel krallten sich in die Tischplatte, dabei biss sie sich die Unterlippe wund.

Verdammt, dachte sie, ich habe ihn gesehen, ich bin mir sicher, aber er war anders, wenn meine Träume mich lügen strafen, dann bedeutet dies mein Tod.

Die Seherin streckte ihren Rücken und ließ ihre langen, schwarzen Locken in den Nacken fallen.

Sie seufzte. »Na gut, das kommt vor. Träume sind nur Deutungen. Sie können ineinander verschwimmen. Das wird es wohl sein. Das muss es sein.«

Sie war unsicher. Hin und wieder spielten auch ihr ihre Träume einen Streich, aber für gewöhnlich hing ihr Leben nicht davon ab. Das war der große Unterschied. Aber sie war gewieft. Einen Fluchtplan aus der Burg hatte sie schon seit Tagen vorbereitet. Die Dienstpläne der Kammerdiener kannte sie auswendig und wann die Wachablösungen in der Burg und am Tor waren, das wusste sie ebenfalls.

Für einen Moment verharrte die Seherin am Holztisch, um ihre Gedanken zu ordnen, dann verließ auch sie den Saal.

Das Gästezimmer war genauso schlicht möbliert wie der bisher erkundete Teil der Burg. Einzig die großen grünen Banner, die das Emblem eines majestätischen Hirsches trugen, schmückten die kahlen Wände und brachten eine Spur von Farbe in den Raum.

Die Banner wehten im gesamten Königreich. Seit Jahrhunderten war der Hirsch auf grünem Grund das Wappen des Königreichs Brünnen.

Zwei imposante Betten aus massivem Holz ergänzten sich harmonisch mit den Schränken und Kommoden aus demselben Holz. Evan vermutete Eiche, obwohl er sich mit Holzarten nicht gut auskannte.

Leuven war beeindruckt, als er sich auf eines der großen Betten sinken ließ. »Hach, ist das schön! – Wie ich es vermisst habe, in einem richtigen Bett zu schlafen.«

Für ihn war es purer Luxus, nach einem Monat seine Schlafrolle gegen ein Bett tauschen zu dürfen. Er schmiegte sich an das Kopfkissen.

Evan blickte ihn irritiert an. »Du konntest dir ein Bett leisten? – Hmm. Ich dachte du wärst ein einfacher Kaufmann.«

Leuven verzog das Gesicht. »Nun, von einfach habe ich nie etwas gesagt. Es mag dich überraschen, aber ja, ich hatte ein eigenes Bett. Für wen hälst du mich?«

»Du machst mir den Eindruck eines einfachen Kaufmanns.«

Dieser plusterte die Wangen auf. Der Drang etwas zu sagen, war stark, doch er gab keinen Kommentar ab, ließ die Luft aus seinem Mund weichen und streckte Arme und Beine auf der Matratze aus.

»Nun, die Herren«, sprach Vermeer, »frische Kleidung finden Sie im Schrank. Es sollte sich etwas Passendes finden. Wir haben eine gewisse Auswahl für unsere Gäste. Ihre Rüstung und Ihr Gewand werden von einer unserer Haushälterinnen abgeholt und in die Waschküche gebracht. Im Nebenraum finden die Herren zwei Waschzuber. Es wurde bereits warmes Wasser eingefüllt.«

»Ihr scheint mir gut auf Gäste vorbereitet zu sein«, meinte Evan und verschränkte die Arme.

»Madame de Boer hat uns von Ihrer Ankunft berichtet«, gab der Kammerdiener zurück.

»Sie scheint viel zu sehen, aber Euren Geist hat sie noch nicht gefunden.« Evan schnaubte mit der Nase. Beinahe als wäre er über den Umstand, des Versagens der Seherin amüsiert.

»Nun«, fügte der Diener an, »Sie hat von Eurer Ankunft berichtet und nun seid Ihr hier. Bisher hat sie keine Zweifel an ihren Fähigkeiten erkennen lassen.«

»Hmm.«

»Wenn die Herren nichts weiter wünschen, werde ich mich zurückziehen«, sprach Vermeer und machte auf dem Absatz kehrt, ehe Evan ihm eine Frage stellte, die ihn beinahe lähmte.

»Und wo habt Ihr das Mädchen gesehen?«

Ein kalter Schauer überkam Vermeer.

»Wie meint Ihr?« Vermeer versuchte seine Verunsicherung zu verbergen, doch seine zittrige Stimme verriet ihn.

»Der Fürst hat davon gesprochen das fast jeder in der Burg das Mädchen gesehen hat. Wo und wann habt Ihr es gesehen?«

Der Kammerdiener wandte sich wieder Evan zu und blickte angespannt unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. »Im Stall, mein Herr, vor etwa fünf Tagen.«

»Im Stall, wirklich?«, erklang Evans Stimme düster und drohend.

Auch Leuven war nun vollends auf die Geschichte fokussiert und richtete sich mit interessiertem Blick im Bett auf.

»Es war früh am Morgen, der Fürst wollte ausreiten, also bereitete ich seinen Sattel vor«, begann Vermeer. Seine Stimme bebte regelrecht vor Angst. Evan spürte die beklemmende Atmosphäre. »Dann fühlte ich plötzlich eine eiskalte Berührung an meinem Nacken. Die Stille wurde erdrückend. Ein Pferd wieherte auf, nur um im nächsten Moment erneut in Stille zu verfallen. Ich wagte einen Blick…«

»Was habt Ihr gesehen?«

Vermeer starrte ins Leere, seine Augen glasig, sein Gesicht leichenblass. »Da war dieses Mädchen, es riss einem Pferd ein Bein aus und verschlang es vor meinen Augen. Direkt vor meinen Augen. Als es bemerkte, dass ich es beobachtete, ließ es das Bein fallen und drehte sich langsam zu mir um. O mein Herr, es war entsetzlich. Ihre leeren Augenhöhlen – ich sehe sie noch immer vor mir. Sie begann zu lachen, ein Lachen, das immer lauter und wahnsinniger wurde. Meine Ohren schmerzten schon von ihrem Gelächter, und dann, ja dann öffnete sie ihren Mund, zeigte mir ihre scharfen Reißzähne…«

Evan legte seinen Kopf zur Seite. »Sie hat Euch also auch angegriffen?«

Vermeer blickte ihn entgeistert an und schob seinen Kragen zur Seite. Die tiefen Bisswunden waren noch deutlich zu erkennen.

Erstaunt inspizierte der Halbdämon diese. »Interessant.«

»Wenn Ihr mich dann entschuldigt?« Vermeer schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. »Wenn Ihr etwas braucht, ruft nach mir.«

Evan nickte dankend.

Als der Kammerdiener das Zimmer verlassen hatte, konnte Evan kaum ruhig stehen. Nachdenklich fasste er sich ans Kinn.

»Was ist los?«, wollte Leuven wissen.

»Das ist kein einfacher Geist«, gab der Halbdämon zurück, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er war in seinen Gedanken verloren, die vor seinem Gesicht kreisten.

»Also doch ein Succu… Suc… Succubas?«

»Succubus«, korrigierte Evan den Kaufmann. »Aber nein. Es war früh am Morgen. Succuben treten nachts in Erscheinung, wenn die Menschen schlafen, damit sie leichtes Spiel haben. Wir haben es mit etwas äußerst Gefährlicherem zu tun. Es greift Menschen an. Ich kann kein Muster erkennen, aber es muss eins geben.«

»Ist es gefährlicher als ein Dämon, der deinen Samen stiehlt?« Leuven konnte sein Lachen nur schwer unterdrücken.

»Halt den Mund«, fauchte Evan und sprach weiter in seine Gedanken vertieft, »nein, vielleicht ein Rachegeist. Dann muss es auf jeden Fall einen Auslöser dafür geben. Irgendetwas, dass mit dem kleinen Mädchen zu tun hat. Es könnte aber auch ein Wechselbalg sein, nur dann würde es keine Erscheinung sein und könnte nicht in Träume eindringen.«

»Du hast ein wirklich ein großes Wissen über all diese Dinge«, merkte Leuven erstaunt an.

»Nun ja, ich bin auch schon einigen Dämonen und Geistern begegnet.«

»Gibt es Geister wirklich? – Ich dachte, das wären nur irgendwelche Schauergeschichten.«

»Nun, da draußen gibt es so einiges, was augenscheinlich seinen Ursprung in Schauergeschichten hat.«

Leuven durchfuhr ein kalter Schauer. Die Bilder von dem Karrakangriff erschienen wieder vor seinem geistigen Auge. Die kräftigen Hauer, die spitzen Zähne, der bedrohliche Kamm aus Knochen auf ihren Rücken. Er schluckte nervös.

»Nun denn«, sagte Evan und schaute sich in dem Zimmer ein wenig genauer um. »Wir werden noch erfahren, um was es sich bei dieser Erscheinung handelt. Vertrau mir.«

»Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich es überhaupt erfahren will«, gab der Kaufmann zitternd zurück und erschrak, als eine Maus quiekend unter dem Bett hervorhuschte.

Er umschlang fest seine Beine und kauerte auf der Matratze. »Sie bräuchten wirklich einen Kammerjäger.«

»Stell Dich nicht so an«, fauchte der Halbdämon und wanderte zum kleinen Fenster. Ein großer Wald erstreckte sich vor seinen Augen. Er konnte nur erahnen, wie lang ihr Weg zur Burg war.

Leuven stand von seinem Bett auf und wankte zum Kleiderschrank. »Ein Bad wird uns sicher guttun. Aber wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben.«

Er durchwühlte den ganzen Schrank ehe er mit funkelnden Augen etwas herausholte. »Na, da haben wir doch was Passendes für Dich!«

Irritiert starrte ihn der Halbdämon an.

»Perfekt!« Leuven zog ein langes, lindgrünes Kleid, mit tiefem Ausschnitt und bestickten Ärmeln hervor. »Das steht Dir doch sicher gut.«

Evan schaute böse drein. »Das ist wohl eher Dein Geschmack.«

»Nah«, antwortete der Kaufmann, »weder Hüfte noch Busen fänden einen Platz darin.«

Der Kaufmann hängte das Kleid zurück in den Schrank und holte etwas Passenderes für die beiden heraus. »Ich denke, das sollte gehen.«

Der Halbdämon schaute verdutzt auf das golden bestickte, grüne Hemd und die schwarze Stoffhose mit der Lederschnürung.

»In meiner Rüstung fühle ich mich wohler«, gestand er.

Leuven ging nicht auf seine Worte ein. Stattdessen watschelte er zum Nebenraum. »Komm, bevor das Wasser kalt wird.«

»Du darfst zuerst«, gab Evan zurück und blickte abermals zum Fenster hinaus, in die weite Ferne. Er kniff die Augen zusammen, als würde er etwas mit ihnen fixieren wollen.

Die Hand, die seinen Arm umklammerte, riss ihn aus den Gedanken.

»Komm schon, das Wasser bleibt nicht ewig warm«, sagte Leuven und versuchte ihn vom Fenster fortzuziehen, ohne Erfolg. »Glaub mir, Du hast das Bad mindestens so nötig wie ich, also nun spurte Dich.«

Evan seufzte. »Nun gut, geh schon einmal vor. Ich werde noch die Rüstung ablegen, das dauert eine Weile.«

»Ich nehme an, das schaffst Du allein.«

»Ja.«

Der Kaufmann schob gleichgültig die Schultern nach oben und spitzte dabei unansehnlich die Lippen. »Ich werde mir das warme Wasser auf jeden Fall nicht entgehen lassen. Meine Beine und mein Rücken schmerzen, das wird ihnen sicher guttun. Aber komm gleich nach. Ich will Dir nicht zu nahetreten, aber Du stinkst bestialisch.«

Er stolzierte ins Nebenzimmer, seine Stimme hallte daraus wider. »Ich wollte es Dir nicht so deutlich sagen, aber anders scheint man Dich ja nicht bewegen zu können.«

Evan kniff die Augen zusammen. Wieso verdammt? – Wieso habe ich ihn nur mitgenommen? – Es wäre das Beste gewesen, ihn im Wald zurückzulassen.

Er kannte die Antwort und atmete tief durch.

»Ich sollte aufhören, anderen immer das Leben retten zu wollen«, sagte er zu sich selbst und löste mit einem kräftigen Zug den Riemen der ersten Armschiene.

»Hast Du etwas gesagt?«, hallte es aus dem Nebenraum.

»Ich habe gesagt…«, rief Evan und senkte dann die Stimme. »Ach, vergiss es.«

Er löst den Riemen der zweiten Armschiene und legte beide auf seinem Bett ab. Er ließ sich Zeit damit, seine Rüstung auszuziehen. In der Zwischenzeit begann Leuven einige Lieder zu trällern und wild im Wasser zu planschen. Der Halbdämon konnte sich wahrlich schönere Orte vorstellen, wo er zu diesem Zeitpunkt sein wollte.

Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüfte und folgte den schiefen Gesängen des jungen Kaufmanns in den Nebenraum.

Leuven blickte den Halbdämon mit großen Augen an, als er dessen schulterlanges, filziges Haar erspähte.

»Hah«, stieß er aus. »Deinen Haaren könntest du aber auch mal des öfteren frische Luft gönnen.«

Ein erboster Blick traf ihn. »Kümmere dich um deine eigenen Sachen. Ich bin seit Wochen unterwegs.«

»Tut mir leid. Mir ergeht es ja auch nicht anders. Aber die Körperpflege solltest du nicht vernachlässigen!« gab der junge Kaufmann zurück.

»Ich halte meinen Blick auf mein Ziel gerichtet. Ich habe keine Zeit mich mit Unzulänglichkeiten zu beschäftigen«, schnaubte Evan.

»Unzulänglichkeiten? – Du würdest den Menschen in deiner Umgebung einen großen Dienst erweisen, wenn du es nicht als Unzulänglichkeit bezeichnen würdest«, gab Leuven mit erhobenem Finger zurück. »Außerdem, welches Ziel verfolgst du?«

»Das geht dich gar nichts an.«

Der Halbdämon ließ das Handtuch zu Boden gleiten und stieg in den Waschzuber.

Er wollte es vor Leuven nicht zugeben, aber das warme Wasser fühlte sich wohlig an seiner Haut an. Er spürte die Erleichterung in seinem gesamten Körper. Beinahe rutschte ihm ein entspannter Seufzer heraus, aber er konnte ihn unterdrücken.

Diesen Sieg wollte er Leuven nicht gönnen.

Evan verweilte nicht lange im Waschzuber. Er rieb sich mit einer Bürste Arme, Beine und Rücken ab und wusch sich schnell Gesicht und Haare, dann stieg er aus der Wanne und legte sich sein Handtuch wieder um die Hüfte.

»Das ging ja schnell«, merkte Leuven an, der entspannt im Zuber daneben lag und es offensichtlich mit der Seife übertrieben hatte. Weiße Wölkchen aus Schaum schwappten über den Rand und verteilten sich wie Moos auf dem Steinboden.

»Ich habe mich gewaschen, oder etwa nicht?«, fauchte Evan.

Erst da fiel Leuven die unzähligen Narben an Evans Körper auf. Arme, Beine und auch Rücken waren übersät von kleineren und größeren Furchen. Manche waren bereits gut verheilt, andere schienen äußerst frisch zu sein.

Am auffälligsten aber war die lange Narbe, die über dessen gesamte Brust verlief.

Der junge Mann konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Er fragte sich, woher sie wohl stammen könnte. Einem riesigen Monster oder war es vielleicht eine Operationsnarbe?

Evan bemerkte die Blicke und wandte sich ab. Rasch verließ er das Zimmer, ohne ein Wort.

Auch Leuven verkniff sich die Frage, die er sich in diesem Moment stellte.

»Du solltest auch nicht zu lang verweilen, sonst schrumpfst Du noch!«, rief der Halbdämon dem Kaufmann zu und wollte damit von sich ablenken.

»Keine Sorge«, hallte es zurück. »Es ist genug Körpermasse vorhanden.«

Evan trocknete sich mit einem zweiten Handtuch seine wirren Haare und inspizierte die frische Kleidung auf seinem Bett.

Es traf nicht wirklich seinen Geschmack. Wenn er schon nicht seine Rüstung an seinem Leib spüren konnte, dann bevorzugte er einfache Kleidung. Je weniger er auffiel, desto besser. Aber in der Burg eines Fürsten spielte das wohl ohnehin keine Rolle, dachte er sich, bis er daran roch und das Gesicht verzog, als er den Zitronengeruch wahrnahm.

Er hasste den Geruch von Zitronen.

In dem Moment klopfte es an der Tür, und riss ihn aus den Gedanken.

Er öffnete sie sachte und blickte im Flur vor sich umher. Niemand war zusehen.

Er war schon im Begriff, die Tür wieder zu schließen, als eine hohe, wenn auch leise Stimme erklang. »Hier unten!«

Evan senkte seinen Blick. Vor ihm stand eine Zwergin, mit mittellangem Haar, und großen Glupschaugen. Sie lächelte ihn freundlich an.

»Ich wurde gebeten, Eure Kleider zu holen«, sagte sie mit hoher Stimme. »Aber verzeiht, offenbar störe ich Euch.«

Evan blickte an sich hinunter, er hatte schon fast vergessen, dass er nur in einem Handtuch bekleidet war. Er schämte sich aber nicht dafür und reckte entspannt den Rücken.

Die Zwergin war recht zierlich, trotz des aufgedunsenen Gesichts. Evan musterte sie. Sie trug einfache Kleidung, wie sie üblich war für Bedienstete am Hof.

»Verzeiht«, sagte er und öffnete die Tür komplett. »Kommt herein.«

Er wanderte zu seinem Bett und legte seine Rüstung zusammen. »Bitte vermeidet den Kontakt mit Lavendel oder Zitrone. Ich mag es, wenn meine Kleidung steril riecht.«

Als er einen Blick über seine Schulter warf, bemerkte er, dass die Zwergin sich keinen Zentimeter gerührt hatte.

»Tretet schon ein«, sagte er mit fordernder Stimme.

»O ähm, ich bleibe lieber hier stehen, aber Ihr könnt die Kleidung in den Sack tun«, gab sie zurück und streckte eben jenen leeren Sack vor sich aus.

»Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben.«

»Das habe ich auch nicht, mein Herr. Uns ist es aber nicht gestattet, die Herrschaften zu stören.«

»Ich erlaube es in diesem Fall aber.«

»Es tut mir leid, die Anweisung kommt vom Fürsten persönlich.«

Evan legte seinen Kopf auf die Seite, schnalzte mit der Zunge und drehte sich wieder herum, um die Rüstung zusammenzulegen.

»Wie heißt Ihr?«, fragte er, als er sich nach seiner Hose bückte, die auf den Boden gerutscht war.

»Petunia, mein Herr.«

»Petunia, so so.« Er steckte seine Kleidung und die Rüstungsteile in den Sack, dann hielt er kurz inne. »Petunia. Wann seid Ihr dem Mädchen begegnet.«

»Dem Mädchen, mein Herr?«, sie blinzelte aufgeregt mit den Glupschaugen.

»Ja, der geisterhaften Erscheinung, die ihr Unwesen in der Burg treibt.«

Die Zwergin ließ den Sack neben sich auf den Boden fallen und legte nachdenklich ihren Zeigefinger auf ihren Mund. Sie klopfte mehrmals auf ihre Lippen und starrte dabei verträumt an die Decke.

»Petunia?«, fragte Evan irritiert.

»Ah ja, das Mädchen. Nein«, gab sie dann zurück und nahm den Sack wieder in ihre Hände.

»Ihr habt sie nicht gesehen?«, die Verwunderung stand dem Halbdämon ins Gesicht geschrieben.

»Nein, ich habe nur die Geschichten der anderen gehört. Aber ich muss Euch sagen, ich bin auch erst seit einer Woche in der Burg angestellt.«

»Seit einer Woche?«

»Jawohl, mein Herr, seit einer Woche.«

Evan nickte dankend. »Das wäre dann alles, Ihr habt mir sehr geholfen.«

»Wobei denn?«, fragte Petunia und lächelte den Halbdämon mit breitem Mund an. Der Gesichtsausdruck war verstörend. Gewiss erzwungen, aber die Geste zeugte nicht von Feingefühl, geschweige denn von Ehrlichkeit.

»Gut, das wäre dann alles«, wiederholte Evan und verzog entgeistert das Gesicht.

»Ich danke Euch, mein Herr!«

Der Halbdämon schloss die Tür hinter sich und kratzte sich verwundert den Hinterkopf.

Auch Leuven hatte mittlerweile sein Bad beendet und kam mit einem Handtuch bekleidet aus dem Nebenzimmer. »Wer war das?«

»Die Hausdienerin«, gab Evan knapp zurück.

»Ah, sie hat also…«, der Kaufmann riss schlagartig die Augen weit auf. »Nein!«

»Was ist los?«

»Das hast Du doch mit Absicht getan!«

Evan öffnete den Mund, als wolle er zu seiner Verwunderung etwas sagen. Er brachte keinen Ton heraus, denn er wusste nicht einmal worum es ging.

»Na hier!« Leuven streckte ihm sein verschmutztes Wams entgegen. »Du hast ihr nur Deine Sachen mitgegeben!«

»Das war wirklich keine Absicht«, entgegnete Evan mit leiser Stimme, ohne in seinem Gesicht auch nur einen Funken von Reue aufblitzen zu lassen.

»Nur weil ich um ein wenig Lavendel in der frischen Wäsche gebeten habe?«

»Der Lavendel ist mir doch vollkommen egal«, gab Evan kopfschüttelnd zurück und legte die frische Kleidung auf seinem Bett ab.

»Tu doch nicht so scheinheilig!«

»Leuven?«, der Halbdämon streckte seinen Zeigefinger aus. »Es ist mir vollkommen egal. Egal, ob Deine Wäsche nach Lavendel riecht, egal ob sie sauber oder schmutzig ist und es ist mir egal, was Du von meiner Meinung hältst.«

Der Kaufmann plusterte sich auf.

»Lauf ihr doch hinterher«, sagte Evan gleichgültig und wanderte mit der frischen Kleidung in das Nebenzimmer. »Weit wird sie nicht gekommen sein.«

»Was, soll ich etwa nackt durch die Burg rennen, ist es das, was Du willst?«, prustete Leuven.

Evans Stimme klang schallend aus dem Nebenzimmer. »Herrje, zieh Dir vorher etwas an. So schnell ist sie nicht zu Fuß und außerdem, Du wirst ja wohl die Waschküche finden.«

Eine leidige Diskussion für den Halbdämon, derer er schnell überdrüssig wurde. Rasch zog er sich die frischen Kleider an und verließ das Schlafgemach.

Durch das gegenüberliegende Fenster hatte er einen guten Blick auf den Burghof.

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