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Kapitel 1: Rote Augen

Beschreibung: Der reisende Händler Leuven hält mit seinem Planwagen am Wegesrand, um sich auszuruhen, als er merkwürdige Geräusche aus dem Wald hört. Vielleicht wäre es für ihn besser gewesen, zu Hause zu bleiben, anstatt in die dunkle und brutale Welt hinauszugehen. Doch ein Fremder eilt ihm zu Hilfe. Dieser Fremde scheint jedoch kein normaler Mensch zu sein.

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Teil 4

Irgendwann, der Mond schien bereits hell in das Zimmer hinein, klopfte es an der Tür.

Petunia brachte die frische Wäsche vorbei.

Den Schlaf des jungen Kaufmanns schien dies aber nicht zu stören. Zu sehr war er von den vergangenen Tagen geschafft.

Evan war froh seine Rüstung wieder an seinem Leib zu spüren. Er fühlte sich darin deutlich wohler. Auch, wenn Petunia es offenbar mit dem Lavendel etwas übertrieben hatte. Auch wenn sie es auf Leuvens Bitte hin tat.

Er ging auf den Flur hinaus und schloss vorsichtig die Tür hinter sich.

Am gegenüberliegenden Fenstersims lehnte Marie und beobachtete die Sterne, die hell am Himmel leuchteten.

»Heute ist eine schöne Nacht«, sagte sie verträumt, ohne ihren Blick von den funkelnden Lichtern abzuwenden.

Der Halbdämon wanderte zu ihr und lehnte sich neben ihr an den Fensterrahmen.

»Ich muss mich wohl bei Euch entschuldigen«, stöhnte er. Seine Gedanken kreisten nicht nur um den Geist, auch sein Umgang mit der Seherin bereute er mittlerweile ein wenig.

Die Seherin blickte ihm tief in die Augen. »Das ist nun einmal Eure Natur. Menschen wie mich könnt Ihr einfach nicht ernst nehmen.«

»Das hat nichts damit zu tun, dass ich ein Halbdämon bin«, gab er zurück und wich ihren Blicken aus.

»Das habe ich auch nicht gemeint. Ihr seid ein Mann«, lachte sie. »Es liegt offenkundig nicht in der Natur der Männer, eine starke Frau neben sich zu akzeptieren.«

»Ah, ich verstehe, Ihr schert alle Männer über einen Kamm.«

»Habt Ihr das nicht auch mit mir getan?« Die Seherin drehte sich herum und lehnte sich mit dem Rücken an die Fensterbank.

»Nun, die Seher, denen ich bisher begegnet bin, waren nichts weiter als Scharlatane, die den Reichen wie auch den Armen das Geld aus den Taschen ziehen wollten.«

»Und Ihr denkt, dass auch ich ein Scharlatan bin?«

Evan schwieg.

»Offenkundig. Aber das heißt ja nicht, dass ich Euch nicht noch überraschen kann.«

Evan schaute sie ernst an. »Es muss Euch jemand gelehrt haben, Eure Fähigkeiten zu kontrollieren. Dinge zu sehen ist eine Sache, sie zu verstehen und zu deuten eine andere.«

Marie setzte einen betrübten Blick auf. »Es war meine Mutter. Sie war selbst eine Seherin. Sie hatte schon früh geahnt, dass ich es von ihr geerbt hatte.«

»Sie muss wirklich stolz gewesen sein.«

»Nicht wirklich«, gab Marie zurück. »Nicht alle Menschen verstehen diese Fähigkeit. Die meisten fürchten sich gar davor. Eines Tages habe ich eine Affäre zu viel im Dorf aufgedeckt. Da blieb uns nur die Wahl zu flüchten oder auf dem Scheiterhaufen zu enden.«

»Das tut mir leid, es muss schrecklich gewesen sein.«

»Die Menschen fürchten das was sie nicht verstehen können«, sagte die Seherin. »Ich mache ihnen auch keinen Vorwurf. Ich war noch ein Kind und wusste nicht, wieviel Leid ich verursacht habe.«

»Dennoch habt ihr auch Gutes bewirkt«, gab der Halbdämon vorsichtig zurück.

»Das stimmt. Dem Müller hat es zwar nicht gefallen, dass ich seine Affäre aufgedeckt habe, aber seine Frau war sehr dankbar dafür Gewissheit zu haben«, sagte Marie und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Das war mit Sicherheit seine Letzte.«

Ein müdes Lächeln zog sich über das Gesicht der Seherin. »Dennoch mussten wir gehen. Wir sind von Hier nach Dort gezogen. Um nicht zu verhungern, haben wir fast jede Arbeit angenommen. Wir mussten unsere Fähigkeiten aber verstecken.«

»Weshalb seid Ihr nicht an die Zaubererakademie gegangen? – Dort hätte man Eure Fähigkeiten sicherlich verbessern können.«

»Kennt Ihr den Unterschied zwischen einer Maus und einer Ratte?«, Marie blickte Evan mit hochgezogener Braue an.

»Nun, Ratten sind deutlich größer. Sie sehen auch etwas anders aus.«

»Richtig. Mäuse und Ratten sind nicht das Gleiche. Auch wenn sie für das ungeübte Auge vielleicht so scheinen mögen. Genauso sehen es auch die Zauberer. Seher haben an der Akademie nichts zu suchen. Unsere Fähigkeiten sind in ihren Augen nicht von hoher Bedeutung. Uns ist es nicht gestattet uns an der Akademie einzuschreiben.«

»Das wusste ich nicht«, gab Evan zurück.

»Ich komme klar.«

Der Halbdämon blickte stumm in den Nachthimmel.

»Und Ihr?«, fragte die Seherin. »Wie geht Eure Geschichte?«

»Meine Geschichte…«, sagte er ruhig und mit leiser Stimme. »Die ist nicht von Belangen.«

»Ach, kommt schon, ich habe Euch etwas über mich verraten. Jetzt seid Ihr dran.«

Evan seufzte und blickte die Seherin an. »Nun gut. Ich war nicht immer ein Halbdämon. Ganz im Gegenteil. Ich suche denjenigen der mir dies angetan hat. Das ist aber leider leicht gesagt. Die Informationen über ihn sind sehr rar.«

»O, das tut mir leid«, gab die Seherin zurück.

»Ihr könnt ja nichts dafür. Im übrigen, nennt mich einfach Evan. Ich mag es nicht so förmlich angesprochen zu werden.«

»Ach, Ihr mögt Förmlichkeiten nicht?«, lachte sie.

Dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen. »In Ordnung. Dann nenn mich einfach Marie.«

Mit einem Lächeln nahm der Halbdämon diese an. »Schön, dass wir das geklärt haben. Dann lass uns überlegen, wie wir diesen Geist finden können.«

Ein schriller Schrei ertönte und riss sie aus ihr Gespräch.

Evan war sofort in Alarmbereitschaft. »Leuven.«

Er sprang sogleich zur Zimmertür hinüber.

»Warte!«, rief Marie ihm hinterher. Sie wollte ihm hinterherlaufen, doch plötzlich durchzog ein stechender Schmerz ihren Kopf.

Sie ging zu Boden, konnte sich gerade noch mit der Hand abstützen. Sie versuchte zu schreien. Ihr Mund war weit aufgerissen und Ihre Augen tränten, doch es erklang kein Ton aus Ihrer Kehle.

Leuven lag auf seinem Bett, sein Körper zuckte in krampfhaften Anfällen unter der Bettdecke.

»Nein!«, schrie er. »Ich lasse dich nicht gehen!«

Eine düstere, schattenhafte Gestalt schwebte über Leuven.

Evan erkannte, dass sie es nicht mit einem gewöhnlichen Geist zu tun hatten.

»Lass sofort von ihm ab!«, befahl er.

Die Schattengestalt schien nachzugeben, sie waberte in der Luft, und Leuvens Körper entspannte sich.

Doch dann traten zwei leuchtend rote Augen aus der Dunkelheit, gefolgt von einem weit aufgerissenen Maul.

Bevor Evan begreifen konnte, was geschah, schnellte die Schattengestalt blitzartig auf ihn zu, und er wurde von einer tiefen Dunkelheit verschlungen.

Ein starker Schmerz durchzuckte seine Brust, seine Schreie waren nur ein Flüstern im Chaos, als sich der Raum um ihn herum erhellte, und finstere Gestalten sammelten sich.

Ihre Gesichter waren verzerrt, ihre Stimmen klangen wie aus der Ferne.

Evan sah das aufblitzende Messer in einer ihrer Hände, und das schallende Gelächter umfing ihn.

Die Angst überwältigte ihn. Es fühlte sich an wie ein schrecklicher Albtraum, der sich wiederholte.

Dann versank er erneut in der Dunkelheit.

Eine knarrende Tür öffnete sich im Hintergrund, und die Schreie einer Frau durchdrangen sein Bewusstsein.

Er drehte sich um und sah zwei Frauen. Eine von ihnen weinte verzweifelt im Bett, während die andere versuchte, sie zu trösten und dabei ihre Hand hielt.

Die Tür fiel mit einem lauten Knall zu.

»Warum liebt meine Mama mich nicht?«, erklang die weinende Stimme eines kleinen Mädchens hinter dem Halbdämon.

Er drehte sich um und blickte in die traurigen, weit aufgerissenen Augen eines kleinen Mädchens mit gelocktem Haar.

»Warum hat sie das getan?«, weinte das Mädchen.

Evan biss sich auf die Lippen. War das das Mädchen, von dem der Fürst gesprochen hatte?

»Wer bist du?«, fragte Evan fast knurrend.

»Warum liebt sie mich nicht?«, ignorierte das Mädchen seine Worte.

»Du bist kein Geist.«

Das Mädchen verstummte und berührte eines ihrer Augen. Blut rann über ihre Wange.

»Hah!«, ein Lächeln breitete sich ins Evans Gesicht aus. »Du bist kein Geist.«

Die Stimme des Mädchens wurde hallend. »Du hast so viel Schmerz erlebt. Der Hass in dir ist mächtig.«

»Und du willst dich an meinem Hass laben«, bemerkte Evan selbstsicher.

»Du hast mich also durchschaut«, erwiderte das Mädchen. Das Blut rann weiter ihr Gesicht hinab. »Aber du wirst mich nicht vertreiben.«

Mit einem schrillen Schrei verschwand das Mädchen, und Dunkelheit umhüllte den Halbdämon.

Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Kopf, gefolgt von ohrenbetäubendem Lärm.

»Evan!«, drang Maries Stimme verzweifelt zu ihm durch.

Sie hielt seinen Kopf mit beiden Händen und wischte leicht mit ihren Daumen über seine Stirn.

Sie lächelte, als er seine Augen öffnete.

Rasch setzte er sich auf. »Wo ist er?«, fragte Evan aufgeregt.

»Er? – Wieso er, was hast Du gesehen?« Marie war irritiert von seinen Worten.

Der Halbdämon stemmte die Hände auf den Boden und richtete sich auf. »Ich weiß jetzt, womit wir es zu tun haben.« Mit finsterem Blick verließ er das Zimmer.

Auf donnernden Sohlen schritt er den schmalen Flur entlang und stieg die kleine Treppe hinauf.

Auf dem Flur kam ihm bereits der Fürst entgegen, der ihn mit müden Augen anblickte. »Was ist denn hier los, was soll der Lärm?«

»Ich weiß jetzt, was hier vor sich geht«, sagte Evan. »Wo ist Eure Frau?«

»Meine Frau?« Der Fürst schaute ihn verdutzt an. »Sie schläft. Lasst sie in Ruhe.«

»So leid es mir tut, aber ich muss sofort mit ihr sprechen. Die ganze Sache hat mit Eurer Frau zu tun.«

Der Fürst bleckte die Zähne. »Unfug. Was soll meine Frau damit zu tun haben?«

»Das soll sie uns sagen. Führt mich zu ihr.«

Widerwillig gab der Fürst nach, führte ihn durch den Flur zu einer Wendeltreppe, die hinauf in den Turm führte.

Marie folgte ihm aufgeregt.

Erschrocken blickte der Fürst in die lodernden Augen des Halbdämons, als sie vor der massiven Holztür zu dessen Schlafgemach standen. »Wenn Ihr mich hinters Licht führt, dann wird dies Konsequenzen haben«, sagte der dieser.

Evan stieß die Tür auf und betrat das Zimmer.

Methild Dancker schrak auf und zog die Decke bis an ihr Kinn.

Überall im Zimmer verteilt befanden sich angezündete schwarze Kerzen und Gestecke mit Myrrhe, Lavendel und Anis. Das Fenster zum Hof war mit Brettern zugenagelt.

»Was ist hier los?«, prustete die Frau des Fürsten und schob die Decke zur Seite.

Wutentbrannt stürmte sie auf ihren Mann zu. »Du erlaubst es diesem Monster einfach so in unser Gemach zu stürmen?«

Der Fürst schüttelte wild seine blass blonde Mähne.

Evan inspizierte jeden Winkel des Zimmers.

»Verratet Ihr mir endlich, was los ist?«, fragte der Fürst aufgebracht. »Ihr habt das Mädchen also gesehen, was war geschehen?«

Evan schwieg und wanderte im Zimmer umher. Fragend schauten ihn die Anwesenden an. Er wirkte auf sie, als sammelte er gerade seine Gedanken, von denen keiner wirklich klar schien.

Marie versuchte ihn zu beruhigen und streckte ihm ihre Hände entgegen. »Komm her, sag uns, was Du gesehen hast.«

Evan blieb stehen. Er atmete einmal tief durch. Dann schienen seine Gedanken klar zu werden.

»Es ist kein Geist«, sagte er schließlich.

»Ist es nicht?«, Marie schaute ihn fragend an, versuchte immer wieder nach seinen Armen zu greifen, doch jedes Mal erwehrte er sich ihres Griffes, indem er sich leicht zur Seite bewegte.

»Was ist es dann? – Spannt uns nicht weiter auf die Folter!« Die Worte des Fürsten klangen wie ein Befehl, für manch einen vielleicht gar wie eine Drohung.

»Fürst Dancker«, sagte der Halbdämon und schaute diesen scharf an. »Ihr habt erwähnt, dass Eure Frau vor Jahren eine Fehlgeburt hatte.«

»Das ist richtig. Methild war mit unserem gemeinsamen Kind schwanger, doch sie verlor es bei der Geburt«, erklärte dieser. Dancker merkte, wie sich die Fingernägel seiner Frau in seinen Arm bohrten.

Auch Evan bemerkte ihre eigenartige Reaktion.

Er ging einen Schritt auf das Fürstenpaar zu und wandte sich an die Gattin. »Sprecht. Es wird Zeit, die Wahrheit zu erzählen.«

Methild umklammerte ihren Mann und schaute den Halbdämon nervös an. »Wovon sprecht Ihr? – Was wollt Ihr von mir?«

Dancker hingegen stellte sich zwischen die beiden und baute sich vor Evan auf. »Lasst meine Frau in Ruhe, sie hat bereits genug gelitten. Hinfort mit Euch! Hinfort, oder ich lasse Euch auf der Stelle hinrichten!«

Plötzlich zeigte der Fürst sein wahres Gesicht. Evan wusste, dass er nur noch am Leben war, weil sie eine größere Plage heimsuchte.

Die zuvorkommende Art, hatte er Johan Dancker von vornherein nicht abgekauft, dafür hatte er schon zu oft mit dem niederen Adel zu tun gehabt.

Der Halbdämon machte einen Schritt zurück, wo ihn Marie schützend mit ihren Händen ergriff.

Sie ließ ihn auf der Stelle wieder los.

»Ihr hattet keine Fehlgeburt. Nicht wahr?«, seine Stimme war ruhig aber bestimmt.

Erschrocken blickte die Frau erst zu ihm und dann zu ihrem Mann. »Das, das ist nicht wahr!«

Der Fürst strich ihr sanft über die Oberarme. »Ist schon gut. Ich lasse ihm diese Dreistigkeit nicht durchgehen.«

Er schaute finster zu Marie hinüber. »Und dieser Hexe auch nicht.«

»Verbrennen solltest Du sie, diese Ketzer!«, brüllte Methild auf.

Ihr Gesicht war rot vor Wut.

»Wenn Ihr uns jetzt nicht die Wahrheit erzählt, dann werdet Ihr diese Nacht vermutlich nicht überleben«, sagte Evan und streckte seine Arme aus. »Diese Dinge hier werden Euch nicht weiter beschützen. Der Bannzauber, den Ihr gesprochen habt, er beginnt zu bröckeln. Wenn Euch Euer Leben und das Eures Mannes also lieb und teuer ist, dann sprecht!«

Methild wandte sich von ihrem Mann ab.

»Ich kann nicht!«, stieß sie aus und hielt sich die Hände vor das Gesicht.

Die Tränen rannen ihr über die Handgelenke.

»Was ist geschehen?«, fragte der Fürst aufgebracht.

»Das Kind war am Leben, nicht wahr?«, wollte Evan wissen, aber die Antwort war ihm bereits bewusst.

Die Gattin des Fürsten nickte. Ihr Gesicht war blass, und ihre Augen füllten sich mit ihren Tränen.

»Was, unser Kind lebt?« Danckers Stimme zitterte.

Seine Frau heulte und schluchzte. »Nein, das tut sie nicht.«

Evan schloss die Augen. Er hatte also Recht.

»Wie meinst du das?«, wollte der Fürst wissen, packte seine Gattin an den Armen und schüttelte sie.

»Lasst sie los«, befahl der Halbdämon und war schon fast dabei auf ihn zu zustürmen, doch er hielt sich zurück.

»Ihr habt mir gar nichts zu sagen!«

Marie legte ihre Hände auf die seine und schob sie von den Armen seiner Frau. »Lasst sie zur Ruhe kommen, damit sie sich erklären kann.«

Dancker beruhigte sich und trat mit einem Seufzer einen Schritt zurück. Er schüttelte sich, als wolle er aus einem schlechten Traum erwachen.

Alle schauten gebannt auf Methild.

Ihre Lippen bebten, aber kein Wort kam über diese.

»Wir können Euch nur helfen, wenn Ihr uns helft«, sagte Evan nach kurzer Zeit.

Die Gattin des Fürsten senkte den Kopf. »Mir bleibt wohl keine andere Wahl.«

Sie blickte voller Trauer zu ihrem Mann. »Wir hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, doch endlich hatte es geklappt, ich wurde schwanger. Wir haben uns so sehr auf das Kind gefreut.«

Sie schluchzte und stotterte. »Du hast die ganze Zeit davon gesprochen, wie sehr Du Dir einen Jungen wünscht. Wie Du ihm das Reiten und Jagen beibringen würdest, wie Du ihn zu einem stattlichen Ritter ausbilden würdest. Es kam nicht infrage, dass es ein Mädchen werden würde.«

Das Gesicht des Fürsten wurde schneeweiß. »Aber Methild, niemals habe ich gesagt, dass es unbedingt ein Junge werden sollte.«

»Das musstest Du auch nicht, ich habe es doch gespürt. Du hast nie in Erwägung gezogen, dass es ein Mädchen werden könnte, ständig sprachst Du davon, wie sehr Du Dich auf unseren gemeinsamen Sohn freust.«

Johan Dancker senkte bedauernd den Kopf. »Aber, ich, ich habe nie…«, stammelte er.

Aufgeregt spielte Methild mit ihren Händen, suchte nach Ablenkung und nach Mut weiterzureden.

Das Atmen fiel ihr schwer. »In jener Nacht, als die Hebamme in die Burg kam, war es so weit. Es waren nur die Hebamme, Magda und ich in dem Zimmer anwesend.«

»Magda war dabei?«, fragte Marie erstaunt. »Sie hat damals schon in der Burg gelebt?«

»Sie war ein Findelkind«, erklärte der Fürst. »Sie hat ihr ganzes Leben in der Burg verbracht.«

»Und Ihr habt sie einfach fortgejagt, weshalb?« Die Seherin setzte eine finstere Miene auf. Es lag Spannung in der Luft.

»Sie war damals doch selbst noch ein Kind!«, heulte Methild. »Als ich die Schreie unseres Kindes zum ersten Mal hörte, war ich überglücklich. Aber wie würdest Du reagieren? – Eine Tochter, anstelle eines Sohnes? Das konnte ich Dir doch nicht antun!«

»Was hast Du getan?«, wollte Dancker wissen und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter.

»Ich habe Dir erzählt, dass ich eine Totgeburt hatte, aber das ist nicht wahr. Sie lebte, für einen kurzen Moment. Es war ein Moment der Schwäche, ich schwöre es!«

Evan schloss schnaubend die Augen. »Ihr habt es mit Euren eigenen Händen getötet?«

»Ich wusste nicht, was ich tat, es war noch so klein, so zerbrechlich!«

Der Fürst begann zu wanken, griff sich an die Stirn und fiel zu Boden. Marie eilte zu ihm, hielt ihn an den Schultern aufrecht.

»Wie konntest Du nur?«, fragte er leise und schielte gedankenverloren auf den Boden. »Das war unser Kind.«

»Ich wollte es nicht, aber ich sah plötzlich Dein enttäuschtes Gesicht vor meinen Augen. Ehe ich wusste, was ich getan hatte, war es bereits zu spät!«, Methild fiel auf die Knie.

»Und Magda hat alles mit angesehen?«, fragte Evan.

»Hat sie«, gab Methild zurück. »Die Hebamme konnte ich mit ein paar Kronen zum Schweigen bringen, aber Magda, sie war doch noch so jung. Ich bin schuld daran, dass aus dem aufgeweckten Mädchen solch eine nervöse und ängstliche junge Frau wurde.«

»Ihr habt sie vom Hof gejagt, kurz bevor die Erscheinung sich zum ersten Mal zeigte. Das habt Ihr sicher nicht wegen ein paar Vorräten getan, oder?«, Evan verschränkte die Arme.

»Natürlich nicht. Sie hat nie etwas gestohlen. Sie war ein so gütiges Kind. Aber sie musste gehen, sie konnte nicht weiterhin in der Burg leben.«

»Weshalb? immerhin hütete sie über die Jahre Euer Geheimnis.«

»Genau das tat sie eben nicht. Sie hat es diesem Hurenbock erzählt. Diesem dreckigen Stallburschen. Ich wusste, dass sie eine Affäre hatten, aber dass sie ihm wirklich alles anvertrauen würde, das hätte ich niemals gedacht. Er wollte sie dazu bringen, meine schreckliche Tat öffentlich zu machen. Als sie sich weigerte, schlug er sie. Ich wollte ihr helfen, wirklich, aber sie hatte mein Geheimnis verraten. Ich musste sie fortschicken.«

»Und der Stallbursche? – Er kannte Euer Geheimnis ebenfalls.«

»Er hat mich erpresst«, Methild hielt kurz inne. »Am Anfang wollte er mehr Lohn. Das hat er dann in der Taverne und dem Bordell schnell verprasst. Er wollte immer mehr.«

»Also habt Ihr ihn Euch vom Hals geschafft.«

»Nein, das ist nicht wahr! – Mit seinem Tod habe ich nichts zu tun, ich schwöre es! – Bevor er es meinem Mann erzählt hätte, wollte ich es tun.«

»Aber dann starb er, und Ihr konntet das Geheimnis weiter hüten.«

»So ist es. Aber das wollte ich nicht. Es war ein Zufall. Ich war es nicht, ich war es nicht.«

Der Fürst richtete seine wackligen Beine auf. »Du hast unser Kind getötet.«

»Es tut mir so schrecklich leid«, schluchzte Methild.

»Und jetzt jagt sie uns, bis zum Tod.«

»Falsch«, wandte Evan ein.

Überrascht traf sein Blick auf die von Methild, Johan und Marie.

»Es ist nicht der Geist Eurer Tochter«, fuhr er fort. »Wir haben es mit einem Hintz zu tun.«

»Einem Hintz?« Die drei verzogen das Gesicht.

»Petunias Cousine hat erzählt, dass Magda und Gregor sich in der Scheune gestritten haben. Jetzt ergibt es auch einen Sinn. Sie hat ihm von Eurem Geheimnis erzählt. Ich stelle Euch jetzt eine Frage, Methild. Den Leichnam des Kindes habt Ihr ihn unter der Scheune begraben?«

Methild nickte. »Woher wisst Ihr das?«

»Ich wusste es nicht, aber jetzt fügen sich die Teile zusammen. Ein Hintz labt sich am Tod. Es frisst Erinnerungen und Ängste. Nachdem Magda verraten hatte, wo sich der Leichnam befindet, konnte sich der Hintz an den Erinnerungen der Burg laben und somit an allen, die in der Burg leben. Er nahm fortan die Gestalt eines kleinen Mädchens an, um weiter Angst zu schüren und alle in der Burg in den Tod zu treiben. Denn erst das bereitet ihm ein wahres Festmahl. Beim Stalljungen hat sie es geschafft, danach hat der Hintz Blut geleckt.«

»Aber woher wusste dieses Ding, wie unsere Tochter heute aussehen würde?«, fragte der Fürst perplex.

»Wusste er nicht. Aber das wissen wir auch nicht. Er hat einfach eine Illusion geschaffen, die Euch und Eurer Frau ähnelte, um das Bild noch erschreckender zu machen«, Evan blickte zu Marie hinüber. »Erst weckt es wohlige Träume, nur um diese dann unter seine Kontrolle zu bringen und von der Angst seiner Opfer an Stärke zu gewinnen.«

»Das heißt, ein böser Dämon hat meine Burg heimgesucht, verstehe ich das richtig?«, fragte Dancker. »Wie können wir es aufhalten?«

»Nun, um einen Dämon zu bezwingen, könnte ein Halbdämon ganz nützlich sein«, schmunzelte Evan.

Seine Miene wurde wieder ernst. »Ich fürchte, es wird Euch nicht gefallen. Aber um den Hintz aus seinem Versteck zu locken und abzulenken, werden wir ihn herauslocken müssen. Fürst Dancker, als Vater hattet ihr eine Verbindung zu Eurem Kind, auch wenn Ihr es nie kennenlernen durftet. Der Hintz kann diese Verbindung spüren. Deshalb würde ich Euch bitten, Euch damit einverstanden zu erklären, als Köder zu dienen. Selbstverständlich wird Euch nichts geschehen.«

»Aber ich bin diesem Hintz doch schon begegnet, er hätte mich doch in jener Nacht mit Leichtigkeit töten können«, gab Johan Dancker zurück.

»Da solltet Ihr Euch bei Eurer Frau bedanken. Ihr Schutzzauber ist laienhaft, aber immerhin hat er Euch bisher vor dem Tod bewahrt.«

Johan blickte fragend zu seiner Frau und dann wieder zu Evan. »Wenn wir somit die Burg von ihm befreien können und dieses Ding somit loswerden, erkläre ich mich damit einverstanden.«

»Niemals«, wandte Methild ein. »Es ist meine Schuld. Wenn, dann sollte ich als Köder dienen.«

»Das könnt Ihr vergessen.« Evan schüttelte mit entschiedenem Gesichtsausdruck den Kopf. »Für Euch ist es hier sicherer. Ihr seid der Grund, weshalb der Hintz sich in der Burg festgesetzt hat. Euer Bannzauber wird den Hintz von Euch fernhalten.«

»Aber Ihr sagtet doch, dass dieser Zauber nicht mehr lange anhalten würde«, protestierte die Gattin des Fürsten.

Der Halbdämon kratzte sich am Kinn und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das war gelogen. Ihr seid keine Zauberin, deshalb habt Ihr das Ritual nicht fehlerfrei ausgeführt. Ein Grund, warum der Hintz Euren Mann in der Nacht angreifen konnte, aber dennoch habt Ihr keine schlechte Arbeit für eine Amateurin geleistet. Der Bann bewahrt Euch vor dem Tod.«

Entgeistert blickte Methild ihn an und erhob sich. »Ihr habt mich angelogen? – Wie konntet Ihr das nur tun?«

»Ihr wolltet nicht mit der Wahrheit herausrücken, ich musste es tun.«

»Ihr seid ein dreister Lügner, ein Scharlatan mit schlechten Absichten!«, brüllte sie.

Evan schaute sie verdutzt an. Meinte sie das wirklich ernst?

»Methild, was ist denn los?« Der Fürst versuchte nach seiner Frau zu greifen. Es war zwecklos. Sie entging dessen Hand und nahm Abstand vom ihm.

»Fass mich nicht an!«, entgegnete Methild ihm voller Wut.

Sie setzte einen irren Blick auf, war sich sicher, dass all das nur ein Komplott sein konnte. »Ja, Ihr wolltet mich hereinlegen, Ihr und diese dumme Hexe. Es war von Anfang an Euer Plan, mich in den Wahnsinn zu treiben. Was wollt Ihr? – Wollt Ihr die Burg? – Wollt Ihr Gold und Juwelen oder macht es Euch einfach Spaß, mich leiden zu sehen?«

»Frau Dancker.« Marie versuchte sie zu beruhigend und ging vorsichtig ein paar Schritte auf sie zu. »Niemand von uns will Euch leiden sehen.«

»Bleibt stehen! – Aber ja doch, das ist Euer Ziel, mich leiden zu sehen.«

»Methild, ich kann Euch versichern, dass dies nicht unser Ziel ist«, gab Evan bestimmt zurück, »wir wollen Euch helfen.«

»Warum solltet Ihr das wollen? – Ihr seid ein Dämon und Ihr eine Hexe. Ich kenne keine einzige Geschichte, in der Euresgleichen etwas Gutes vollbringt. Ihr gehört in die Hölle, dorthin, wo Ihr hergekommen seid«, zischte die Gattin des Fürsten.

»Methild«, sagte Johan Dancker mit beruhigender Stimme.

Sie schaute ihn böse an und geschwind drehte sie sich herum und rannte aus dem Zimmer hinaus.

»Methild!«

Als sie aus der Tür verschwand, stieß sie beinahe Leuven zur Seite, der gähnend in das Zimmer lugte. »Was ist denn hier für ein Lärm?«

Der Fürst folgte seiner Frau, ebenso Marie und Evan.

Leuven stand mit verträumten Augen im Türrahmen, blinzelte desillusioniert, als er die vielen schwarzen Kerzen und Gestecke aus den verschiedenen Pflanzen entdeckte.

Dann fasste er sich an den Kopf. »Man, was habe ich nur geträumt?«

Methild rannte hinaus auf den Hof. Regen hatte eingesetzt. Ihre flachen Schuhe versanken beinahe im Schlamm, doch sie stapfte weiter über den rutschigen und unebenen Boden.

»Methild, warte!«, rief ihr Mann ihr hinterher.

Sie drehte sich herum, streckte ihre Arme zur Seite aus. »Ist es das, was ihr wolltet?« Schrie sie ihren Verfolgern entgegen. »Wolltet Ihr mich so sehen?«

Evan und Marie hielten den Fürsten davon ab, zu seiner Frau zu eilen.

»Methild, Ihr müsst zurück in die Burg!«, brüllte der Halbdämon, doch es war bereits zu spät.

»Mama, da bist Du ja«, erklang die Stimme eines kleinen Mädchens hinter Methild.

Erschrocken drehte diese sich langsam herum.

»Wieso hast Du mich so lange warten lassen?«, fragte das kleine Mädchen mit einem aufgesetztem freundlichen Gesicht. »Wieso bist Du erst jetzt gekommen? – Ich wollte Dich doch besuchen kommen.«

»D… d… Du bist meine Tochter«, stammelte Methild.

Evan watete durch den Schlamm. »Ihr müsst da weg!«

In diesem Moment erstreckte sich ein schwarzer Schatten über dem kleinen Mädchen.

»Wieso hast Du mich getötet, liebst Du mich nicht?«, erklang eine tiefe, finstere Stimme aus ihrer Kehle.

Methild schrie auf. Blut quoll aus ihren Augen und ihrem Mund. Ihre stummen Schreie zeugten von entsetzlichem Schmerz. Das Blut spritzte in jede Richtung, als ihr Körper in der Luft zerrissen wurde und in einzelnen Teilen in den Schlamm niedersanken.

Evan bremste ab und rutschte beinahe auf dem Morast aus. Entgeistert blickte er auf die Körperteile und das Blut, die sich auf weiter Fläche verteilten.

Das kleine Mädchen lachte schrecklich auf.

»Köstlich!«, sagte sie mit dämonischer Stimme.

Evan zog rasch sein Schwert aus der Scheide. Es blitzte im Mondlicht auf. »Verschwinde, Hintz!«

Das kleine Mädchen lachte abermals. »Armseliger Mensch. Ein Schwert wird Euch nicht beschützen. Ich bin unbesiegbar!«

»Unbesiegbar sagst Du? – Das haben schon viele behauptet«, schnaubte Evan und streckte seine Klinge aus.

»Hinfort!«, schrie das Mädchen und wischte mit ihrer kleinen Hand vor ihrem Gesicht.

Ein unsichtbarer Schlag traf Evan und schleuderte ihn mit einem lauten Donnern durch das Scheunentor.

»Evan, nein!«, schrie Marie auf, die im prasselnden Regen wie angewurzelt da stand und verängstigt auf das kleine Mädchen schielte.

Diese wandte sich ihr zu. »Die Mutter war köstlich, aber ich bin noch nicht satt. Ein Ärmchen, vielleicht ein Beinchen, dann ist der Vater dran.«

Marie wollte sich bewegen, aber ihre Beine waren wie versteinert. Wie gelähmt starrte sie auf die finstere Kreatur. Ihr Blick wechselte zwischen dem Schatten und dem Mädchen hin und her.

Ihre Bewegungen waren gleich. Wie eine Marionette schien der Hintz die Erscheinung zu führen.

Die schwarze Silhouette erhob eine gewaltige Pranke aus Schatten.

Dann erklang eine Stimme aus dem Nichts. »Jetzt reicht es aber!«

Der Schatten und seine Marionette wandten ihre Blicke zum Scheunentor.

Ohne einen Kratzer stand Evan da. Das Schwert in den Boden gerammt. Er weitete die Riemen seiner Armschienen.

»Du machst mich echt sauer«, stöhnte er.

»Hinfort mit Euch«, spuckte das Mädchen. »Ich will Euch nicht!«

»Pech gehabt«, spottete der Halbdämon. »Entweder begnügst Du Dich mit mir, oder Du musst leider ohne Abendessen ins Bett.«

»Dreister Mensch, dummer Mensch«, schimpfte der Hintz.

Evans Umhang flatterte wild im aufkommenden Wind.

Marie blickte verwirrt umher, ehe ein stechender Schmerz abermals durch ihren Kopf zog.

Rote, glühende Augen erschienen vor ihrem inneren Auge und ein teuflisches Gesicht, von Boshaftigkeit durchzogen.

Sie holte tief Luft.

»Das habe ich schon einmal gesehen. So habe ich Dich schon einmal gesehen«, prustete sie.

Der Hintz fauchte bedrohlich. »Dein Schwert wird Dir nicht helfen. Fressen will ich Dich nicht, aber töten will ich Dich!«

Evan zog einen Dolch aus einem Schaft, der an seinem Bein befestigt war.

Die schwarze, unebene Klinge glitzerte bei jedem Regentropfen, der darauf hinabfiel.

»Dreister Mensch, dummer Mensch«, wiederholte das Mädchen.

»Ich bin kein Mensch«, gab Evan zurück, schwang den Dolch und schnitt eine tiefe Wunde in sein Handgelenk. Pechschwarzes Blut sprudelte hinaus. Es tropfte hinab auf den Schlamm und verschwamm mit dem modrigen Wasser.

Evan ging auf die Knie. Sein Herz schlug wild und ungleichmäßig in seiner Brust. In diesem Moment wollte er am liebsten laut aufschreien, doch sein Kiefer verkrampfte sich.

Das Mädchen ging leichtfüßig auf den Halbdämon zu. »Ja, erledige es selbst, dummer Mensch.«

Evan hob seinen Kopf, knurrte und bis die Zähne zusammen, dann drang endlich der erlösende Schrei aus seiner Kehle.

Marie konnte ihren Augen nicht trauen.

Evans Augen glühten rot leuchtend auf, wie Flammen in der Dunkelheit. Seine Finger spreizten sich.

Die Seherin spürte die Schmerzen, die seinen gesamten Körper durchfuhren.

Evans Muskeln bauten sich weiter auf, seine Haut wurde fahl und bleich und schwarze Adern durchzogen seinen Hals, wie die Verästelungen eines Baumes.

So hatte sie ihn in ihrer Vorsehung gesehen. Dieser dämonische Blick hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt.

Der Hintz blieb auf halbem Wege stehen. »Du bist kein Mensch!«, fauchte er.

»Das habe ich doch gesagt.« Evans Stimme wurde rauer und klang beinahe so tief wie die des Hintz.

Dieser lachte boshaft. »Ich bin ein Traumwandler, ein Gespenst in deinem Kopf, der Schatten, der durch die Nacht wandert und nicht gefangen werden kann. Ich bin unsterblich. Solange es Träume gibt, solange werde ich mich in den Köpfen der Menschen einnisten.«

Evan griff mit einer Hand zu seinem Schwert und zog es aus dem Schlamm.

»Nichts überdauert die Ewigkeit«, sagte er kalt.

Marie war wie gelähmt. War das wirklich noch der Evan, den sie kennengelernt hatte?

Die Gestalt des kleinen Mädchens waberte und löste sich in einem schwarzen Nebel auf.

Wild kreiste dieser auf einer Stelle und verwob sich ineinander. Das Bild glich einem Tropfen Tinte, der in Wasser eintauchte.

Geschwind, verwoben sich die Enden des Gebildes zu einer Gestalt. Die Umrisse einer jungen Frau waren zu erkennen.

Evan bleckte die Zähne.

»Ich kann auch in deinen Kopf sehen. O welch Trauer sitzt in dir?«, lachte der Hintz. »Ah, ich sehe tiefen Schmerz, Tod. Vielleicht bist Du ja doch das Festmahl, nach dem ich mich verzehre.«

Der Nebel vollendete seine Verwandlung in die einer hübschen jungen Frau, mit seidenem, dunklem Haar.

Marie erkannte, dass diese dem Halbdämon etwas bedeuten musste, sein Gesichtsausdruck ließ keinen anderen Schluss zu. Trotz dessen teuflischer Gestalt, erkannte sie die Trauer, die ihn umgab und die Wut, die sich in seinen flammenden Augen widerspiegelte.

»Evan«, sagte die Gestalt der jungen Frau ruhig, mit der Stimme eines Engels. »Hab keine Angst. Ich bin da, ich werde dir helfen.«

»Siehst Du«, sprach der Hintz, »sie ist deinetwegen hier. Gehe mit ihr fort. Lebe das Leben, von dem Du unentwegt träumst.«

Doch mehr als ein müdes Lächeln kam nicht über Evans Lippen. »Billige Taschenspielertricks. Du kannst in meine Träume und Gedanken sehen, aber damit beeindruckst Du mich nicht. Du bist zu übermütig. Glaubst Du, mich damit ablenken zu können?«

Der Hintz schwieg.

»Weißt Du was ich wirklich spüre? – Dass Du Angst hast!«, gab der Halbdämon selbstbewusst zurück.

»Ich habe keine Angst. Ich bin der Schatten.« Bedrohlich reckte er sich.

Plötzlich ging auch die Frau in einem dichten Nebel auf und formte sich neu.

Der Hintz schien überrascht. »Was ist das? – Was tust Du?«

»Du willst in meine Gedanken blicken, dann blicke hinein. Ich gebe dir, was Du willst.«

Ein kleines Wesen schien sich aus dem Nebel zu bilden. Lange Ohren und spitze Zähne wurden sichtbar. Die Frau hatte sich in ein kleines Kaninchen verwandelt.

»Interessant«, sagte Evan lächelnd. »Deshalb ist jedem das kleine Mädchen erschienen. Weil sich die Geschichte des Geistes unter den Menschen verbreitet hat. Du kannst die Gestalt also nicht vollends bestimmen. Du bist auf die Bilder in den Köpfen der Menschen angewiesen.«

»Ich bin ein Traumwandler…«

Evan unterbrach ihn, »Angst und Tod und blah blah blah. Ich weiß Bescheid.«

Er streckte sein Schwert nach dem Hintz aus. »Doch für Dich hat es sich hier ausgeträumt. Es wird Zeit, zu verschwinden.«

Die Gestalt des Kaninchens verschwamm. Der Hintz bäumte sich auf und in einem tosenden Gewitter nahm der Schatten die Gestalt eines riesigen Wolfes an.

Sein greller Blick traf auf die flammenden Augen des Halbdämons.

Ein Schrei, ein mächtiges Brüllen, der Klang von Metall, der durch den Wind sauste und ein Donnern hallten durch die Nacht.

Ein greller Blitz schlug auf den Burghof ein, dessen Kraftwelle die Seherin rücklings in den Schlamm warf.

Sie setzte sich auf. Begutachtete die Szene mit großen Augen.

Evan und der Hintz leisteten sich einen unerbittlichen Kampf.

Die Wolfsgestalt wich einem Schwerthieb aus und verpasste mit dem Maul nur knapp den Halbdämon. Knurren und Jauchzen lösten sich in einem ständigen Tanz der Geräuschkulisse ab.

Ein mächtiger Schlag mit der aufblitzenden Klinge traf den Hintz an dessen Schnauze.

»Unsterblich bin ich«, fauchte er. »Ich bin ein Schatten. Einen Schatten kann man nicht töten!«

Evan packte die Gestalt am Hals oder zumindest das, was der Hals hätte sein können.

Überrascht jauchzte der Hintz. »Unmöglich, das kann nicht sein!«

»Du bist nicht das, was Du vorgibst zu sein«, brummte der Halbdämon. »Du verzehrst Dich nach schlechten Träumen? – Wie schmecken dir denn diese?«

Er zog sein Gesicht angestrengt zusammen.

Der Hintz heulte auf. Die Schatten waberten wild umher, als würde sich die Gestalt krümmen.

Evan ließ ihn zu Boden fallen. Der Hintz krümmte sich weiter, verwandelte sich in die verschiedensten Erscheinungen. Mensch, Tier, das kleine Mädchen, die junge Frau, das Kaninchen. Es schien, als könne er nicht kontrollieren, welche Gestalt er als Nächstes annehmen würde.

»Hör auf!«, fluchte der Hintz. »Hör sofort auf damit!«

Evan knurrte bedrohlich auf. »Friss Dich satt an meinen Träumen und Gedanken.«

Der Hintz kam zur Ruhe und erschien in der Gestalt eines kleinen schwarzen Männchens mit langem Schwanz und reptilienartiger Schnauze.

Jämmerlich sank es zu Boden, kauerte wie ein Häufchen Elend im Schlamm.

Quietschend jauchzte es schwer atmend vor sich hin.

»Du hast den Menschen viel Leid angetan«, urteilte Evan und stellte sich über das kümmerliche Wesen. »Damit ist jetzt Schluss.«

»Hunger, ich habe solchen Hunger!«, quiekte der Hintz.

Evan ließ das Schwert in den Schlamm fallen und nahm seinen Dolch in die Hand.

Ein letztes, schrilles Quieken ertönte, dann kehrte Stille ein.

Der Halbdämon atmete schwer. Seine lodernden Augen erloschen, als er sich auf die Knie fallen ließ. Angestrengt blickte er umher und fiel letztendlich mit dem Gesicht voran in den Schlamm.

Marie stürmte herbei, glitt über den rutschigen Boden und tastete den Halbdämon ab. »Evan, wach auf, wach auf.«

Aufgeregt strich sie über seine Wange und seine Stirn, nachdem sie ihn auf den Rücken gedreht hatte.

»Schnell! Bringt mir Wasser und ein Tuch!«, rief sie dem Fürsten entgegen.

Dieser aber kauerte jaulend über den Überresten seiner Frau.

Der Schock saß tief. Noch hatte er wohl nicht verstanden, was geschehen war.

Leuven aber stürmte herbei und rannte geistesgegenwärtig zum Pferdestall hinüber. Dabei rutschte er mehrmals fast aus, konnte sich aber auf den Beinen halten.

Geschwind griff er nach einem Eimer und einem alten Lumpen und eilte der Seherin zur Hilfe.

Abermals machte er keine gute Figur dabei, als er über den Schlamm rutschte. Aber das war in diesem Moment egal. Er wollte Evan zur Hilfe eilen, nur das war wichtig.

Marie tauchte den Lumpen in den Eimer und wischte damit über Evans Gesicht.

Er öffnete angestrengt die Augen.

Erleichtert atmeten Marie und Leuven auf.

»Wie hast Du das nur geschafft?«, fragte sie lächelnd, als sich der Halbdämon aufsetzte und eine Hand an den schmerzenden Kopf hielt.

Er schüttelte sich und blickte die beiden mit müden Augen an. »Manche Dämonen neigen zum Übermut.«

Er stellte sich auf und streckte sich. Ein stechender Schmerz zog durch seinen gesamten Körper.

Als dieser vorbeigezogen war, fühlte er sich deutlich besser.

»Sie fühlen sich übermächtig, aber das sind sie nicht. Jeder Dämon hat eine Schwachstelle«, fügte er an.

Ein »hah« entfuhr Leuven. »Evan Dhorne, der Bezwinger der Schatten und Zerstörer von Träumen!«

»Aber wie ist das nur möglich?«, fragte Marie irritiert. »Wie kann man einen Schatten töten?«

»Ein Hintz ist kein Schatten«, gab Evan zurück. »Er ist einfach ein niederer Dämon, der sich nach Träumen und Ängsten verzehrt. Ich dachte, das hätte ich ausführlich erklärt.«

»Also ist ein Hintz ein lebendes Geschöpf?«

»Der hier nicht mehr, aber ja. Sie sind wie Parasiten, mehr Schein als Sein. Vermutlich hielt er sich wirklich für unsterblich, oder er gab es nur vor. Auf jeden Fall brachte ihn dieser Übermut zu Fall«, führte der Halbdämon aus.

»Und dein Dolch?« Marie inspizierten diesen genau, als Evan ihn zurück in den Schaft steckte.

Er blickte sie stur an. »Obsidian. Für Menschen ist es einfach ein schöner Stein, ein Schmuckstück, aber es ist sehr effektiv gegen Dämonen.«

Sein Blick wanderte hinüber zum Fürsten, der heulend über den Überresten seiner Frau kauerte.

Die drei wagten sich vorsichtig an ihn heran.

»Es tut mir leid«, sagte Evan bedrückt.

Fürst Dancker blickte ihn mit verquollenen Augen an. »Es tut Euch leid? – Meine Frau ist tot und Euch tut es leid? – Ihr habt gesagt, es würde ihr nichts geschehen.«

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Evan ab. Er wollte dem Fürsten die Zeit geben, die er benötigte, auch wenn er tief im Herzen wusste, dass die Zeit des Schmerzes niemals vorbeigehen würde.

Er konnte den Hass des Fürsten nicht nur sehen, sondern auch spüren. Aber was sollte er auch anderes erwarten. Es war seine Schuld, so empfand er es zumindest.

Evan schritt an der Dienerschaft vorbei, die sich auf dem Burghof versammelt hatte und ihn mit verängstigten Blicken straften. Nacheinander machten sie einen Schritt zur Seite und eröffneten ihn ein Spalier. Ihre Gesichter waren voller Furcht und Misstrauen.

Marie und Leuven folgten Evan in die Burg.

»Evan, warte«, rief die Seherin ihm hinterher. »Was hast Du vor?«

»Ich packe meine Sachen und reise ab, noch heute Nacht«, gab er zurück, ohne seinen Schritt zu verlangsamen oder sich gar zu ihr herumzudrehen.

»Na toll«, stöhnte Leuven auf. »Jetzt muss ich auch noch durch die Nacht wandern?«

»Was Du tust, bleibt dir überlassen. Ich bin nicht länger erwünscht, daher werde ich gehen.«

Marie und Leuven schauten sich trauernd an. Wollte er einfach so gehen, obwohl er seinen Auftrag erfüllt hatte?

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Kapitel 1
Rote Augen

Beschreibung: Der reisende Händler Leuven hält mit seinem Planwagen am Wegesrand, um sich auszuruhen, als er merkwürdige Geräusche aus dem Wald hört. Vielleicht wäre es für ihn besser gewesen, zu Hause zu bleiben, anstatt in die dunkle und brutale Welt hinauszugehen. Doch ein Fremder eilt ihm zu Hilfe. Dieser Fremde scheint jedoch kein normaler Mensch zu sein.

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Teil 4

Irgendwann, der Mond schien bereits hell in das Zimmer hinein, klopfte es an der Tür.

Petunia brachte die frische Wäsche vorbei.

Den Schlaf des jungen Kaufmanns schien dies aber nicht zu stören. Zu sehr war er von den vergangenen Tagen geschafft.

Evan war froh seine Rüstung wieder an seinem Leib zu spüren. Er fühlte sich darin deutlich wohler. Auch, wenn Petunia es offenbar mit dem Lavendel etwas übertrieben hatte. Auch wenn sie es auf Leuvens Bitte hin tat.

Er ging auf den Flur hinaus und schloss vorsichtig die Tür hinter sich.

Am gegenüberliegenden Fenstersims lehnte Marie und beobachtete die Sterne, die hell am Himmel leuchteten.

»Heute ist eine schöne Nacht«, sagte sie verträumt, ohne ihren Blick von den funkelnden Lichtern abzuwenden.

Der Halbdämon wanderte zu ihr und lehnte sich neben ihr an den Fensterrahmen.

»Ich muss mich wohl bei Euch entschuldigen«, stöhnte er. Seine Gedanken kreisten nicht nur um den Geist, auch sein Umgang mit der Seherin bereute er mittlerweile ein wenig.

Die Seherin blickte ihm tief in die Augen. »Das ist nun einmal Eure Natur. Menschen wie mich könnt Ihr einfach nicht ernst nehmen.«

»Das hat nichts damit zu tun, dass ich ein Halbdämon bin«, gab er zurück und wich ihren Blicken aus.

»Das habe ich auch nicht gemeint. Ihr seid ein Mann«, lachte sie. »Es liegt offenkundig nicht in der Natur der Männer, eine starke Frau neben sich zu akzeptieren.«

»Ah, ich verstehe, Ihr schert alle Männer über einen Kamm.«

»Habt Ihr das nicht auch mit mir getan?« Die Seherin drehte sich herum und lehnte sich mit dem Rücken an die Fensterbank.

»Nun, die Seher, denen ich bisher begegnet bin, waren nichts weiter als Scharlatane, die den Reichen wie auch den Armen das Geld aus den Taschen ziehen wollten.«

»Und Ihr denkt, dass auch ich ein Scharlatan bin?«

Evan schwieg.

»Offenkundig. Aber das heißt ja nicht, dass ich Euch nicht noch überraschen kann.«

Evan schaute sie ernst an. »Es muss Euch jemand gelehrt haben, Eure Fähigkeiten zu kontrollieren. Dinge zu sehen ist eine Sache, sie zu verstehen und zu deuten eine andere.«

Marie setzte einen betrübten Blick auf. »Es war meine Mutter. Sie war selbst eine Seherin. Sie hatte schon früh geahnt, dass ich es von ihr geerbt hatte.«

»Sie muss wirklich stolz gewesen sein.«

»Nicht wirklich«, gab Marie zurück. »Nicht alle Menschen verstehen diese Fähigkeit. Die meisten fürchten sich gar davor. Eines Tages habe ich eine Affäre zu viel im Dorf aufgedeckt. Da blieb uns nur die Wahl zu flüchten oder auf dem Scheiterhaufen zu enden.«

»Das tut mir leid, es muss schrecklich gewesen sein.«

»Die Menschen fürchten das was sie nicht verstehen können«, sagte die Seherin. »Ich mache ihnen auch keinen Vorwurf. Ich war noch ein Kind und wusste nicht, wieviel Leid ich verursacht habe.«

»Dennoch habt ihr auch Gutes bewirkt«, gab der Halbdämon vorsichtig zurück.

»Das stimmt. Dem Müller hat es zwar nicht gefallen, dass ich seine Affäre aufgedeckt habe, aber seine Frau war sehr dankbar dafür Gewissheit zu haben«, sagte Marie und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Das war mit Sicherheit seine Letzte.«

Ein müdes Lächeln zog sich über das Gesicht der Seherin. »Dennoch mussten wir gehen. Wir sind von Hier nach Dort gezogen. Um nicht zu verhungern, haben wir fast jede Arbeit angenommen. Wir mussten unsere Fähigkeiten aber verstecken.«

»Weshalb seid Ihr nicht an die Zaubererakademie gegangen? – Dort hätte man Eure Fähigkeiten sicherlich verbessern können.«

»Kennt Ihr den Unterschied zwischen einer Maus und einer Ratte?«, Marie blickte Evan mit hochgezogener Braue an.

»Nun, Ratten sind deutlich größer. Sie sehen auch etwas anders aus.«

»Richtig. Mäuse und Ratten sind nicht das Gleiche. Auch wenn sie für das ungeübte Auge vielleicht so scheinen mögen. Genauso sehen es auch die Zauberer. Seher haben an der Akademie nichts zu suchen. Unsere Fähigkeiten sind in ihren Augen nicht von hoher Bedeutung. Uns ist es nicht gestattet uns an der Akademie einzuschreiben.«

»Das wusste ich nicht«, gab Evan zurück.

»Ich komme klar.«

Der Halbdämon blickte stumm in den Nachthimmel.

»Und Ihr?«, fragte die Seherin. »Wie geht Eure Geschichte?«

»Meine Geschichte…«, sagte er ruhig und mit leiser Stimme. »Die ist nicht von Belangen.«

»Ach, kommt schon, ich habe Euch etwas über mich verraten. Jetzt seid Ihr dran.«

Evan seufzte und blickte die Seherin an. »Nun gut. Ich war nicht immer ein Halbdämon. Ganz im Gegenteil. Ich suche denjenigen der mir dies angetan hat. Das ist aber leider leicht gesagt. Die Informationen über ihn sind sehr rar.«

»O, das tut mir leid«, gab die Seherin zurück.

»Ihr könnt ja nichts dafür. Im übrigen, nennt mich einfach Evan. Ich mag es nicht so förmlich angesprochen zu werden.«

»Ach, Ihr mögt Förmlichkeiten nicht?«, lachte sie.

Dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen. »In Ordnung. Dann nenn mich einfach Marie.«

Mit einem Lächeln nahm der Halbdämon diese an. »Schön, dass wir das geklärt haben. Dann lass uns überlegen, wie wir diesen Geist finden können.«

Ein schriller Schrei ertönte und riss sie aus ihr Gespräch.

Evan war sofort in Alarmbereitschaft. »Leuven.«

Er sprang sogleich zur Zimmertür hinüber.

»Warte!«, rief Marie ihm hinterher. Sie wollte ihm hinterherlaufen, doch plötzlich durchzog ein stechender Schmerz ihren Kopf.

Sie ging zu Boden, konnte sich gerade noch mit der Hand abstützen. Sie versuchte zu schreien. Ihr Mund war weit aufgerissen und Ihre Augen tränten, doch es erklang kein Ton aus Ihrer Kehle.

Leuven lag auf seinem Bett, sein Körper zuckte in krampfhaften Anfällen unter der Bettdecke.

»Nein!«, schrie er. »Ich lasse dich nicht gehen!«

Eine düstere, schattenhafte Gestalt schwebte über Leuven.

Evan erkannte, dass sie es nicht mit einem gewöhnlichen Geist zu tun hatten.

»Lass sofort von ihm ab!«, befahl er.

Die Schattengestalt schien nachzugeben, sie waberte in der Luft, und Leuvens Körper entspannte sich.

Doch dann traten zwei leuchtend rote Augen aus der Dunkelheit, gefolgt von einem weit aufgerissenen Maul.

Bevor Evan begreifen konnte, was geschah, schnellte die Schattengestalt blitzartig auf ihn zu, und er wurde von einer tiefen Dunkelheit verschlungen.

Ein starker Schmerz durchzuckte seine Brust, seine Schreie waren nur ein Flüstern im Chaos, als sich der Raum um ihn herum erhellte, und finstere Gestalten sammelten sich.

Ihre Gesichter waren verzerrt, ihre Stimmen klangen wie aus der Ferne.

Evan sah das aufblitzende Messer in einer ihrer Hände, und das schallende Gelächter umfing ihn.

Die Angst überwältigte ihn. Es fühlte sich an wie ein schrecklicher Albtraum, der sich wiederholte.

Dann versank er erneut in der Dunkelheit.

Eine knarrende Tür öffnete sich im Hintergrund, und die Schreie einer Frau durchdrangen sein Bewusstsein.

Er drehte sich um und sah zwei Frauen. Eine von ihnen weinte verzweifelt im Bett, während die andere versuchte, sie zu trösten und dabei ihre Hand hielt.

Die Tür fiel mit einem lauten Knall zu.

»Warum liebt meine Mama mich nicht?«, erklang die weinende Stimme eines kleinen Mädchens hinter dem Halbdämon.

Er drehte sich um und blickte in die traurigen, weit aufgerissenen Augen eines kleinen Mädchens mit gelocktem Haar.

»Warum hat sie das getan?«, weinte das Mädchen.

Evan biss sich auf die Lippen. War das das Mädchen, von dem der Fürst gesprochen hatte?

»Wer bist du?«, fragte Evan fast knurrend.

»Warum liebt sie mich nicht?«, ignorierte das Mädchen seine Worte.

»Du bist kein Geist.«

Das Mädchen verstummte und berührte eines ihrer Augen. Blut rann über ihre Wange.

»Hah!«, ein Lächeln breitete sich ins Evans Gesicht aus. »Du bist kein Geist.«

Die Stimme des Mädchens wurde hallend. »Du hast so viel Schmerz erlebt. Der Hass in dir ist mächtig.«

»Und du willst dich an meinem Hass laben«, bemerkte Evan selbstsicher.

»Du hast mich also durchschaut«, erwiderte das Mädchen. Das Blut rann weiter ihr Gesicht hinab. »Aber du wirst mich nicht vertreiben.«

Mit einem schrillen Schrei verschwand das Mädchen, und Dunkelheit umhüllte den Halbdämon.

Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Kopf, gefolgt von ohrenbetäubendem Lärm.

»Evan!«, drang Maries Stimme verzweifelt zu ihm durch.

Sie hielt seinen Kopf mit beiden Händen und wischte leicht mit ihren Daumen über seine Stirn.

Sie lächelte, als er seine Augen öffnete.

Rasch setzte er sich auf. »Wo ist er?«, fragte Evan aufgeregt.

»Er? – Wieso er, was hast Du gesehen?« Marie war irritiert von seinen Worten.

Der Halbdämon stemmte die Hände auf den Boden und richtete sich auf. »Ich weiß jetzt, womit wir es zu tun haben.« Mit finsterem Blick verließ er das Zimmer.

Auf donnernden Sohlen schritt er den schmalen Flur entlang und stieg die kleine Treppe hinauf.

Auf dem Flur kam ihm bereits der Fürst entgegen, der ihn mit müden Augen anblickte. »Was ist denn hier los, was soll der Lärm?«

»Ich weiß jetzt, was hier vor sich geht«, sagte Evan. »Wo ist Eure Frau?«

»Meine Frau?« Der Fürst schaute ihn verdutzt an. »Sie schläft. Lasst sie in Ruhe.«

»So leid es mir tut, aber ich muss sofort mit ihr sprechen. Die ganze Sache hat mit Eurer Frau zu tun.«

Der Fürst bleckte die Zähne. »Unfug. Was soll meine Frau damit zu tun haben?«

»Das soll sie uns sagen. Führt mich zu ihr.«

Widerwillig gab der Fürst nach, führte ihn durch den Flur zu einer Wendeltreppe, die hinauf in den Turm führte.

Marie folgte ihm aufgeregt.

Erschrocken blickte der Fürst in die lodernden Augen des Halbdämons, als sie vor der massiven Holztür zu dessen Schlafgemach standen. »Wenn Ihr mich hinters Licht führt, dann wird dies Konsequenzen haben«, sagte der dieser.

Evan stieß die Tür auf und betrat das Zimmer.

Methild Dancker schrak auf und zog die Decke bis an ihr Kinn.

Überall im Zimmer verteilt befanden sich angezündete schwarze Kerzen und Gestecke mit Myrrhe, Lavendel und Anis. Das Fenster zum Hof war mit Brettern zugenagelt.

»Was ist hier los?«, prustete die Frau des Fürsten und schob die Decke zur Seite.

Wutentbrannt stürmte sie auf ihren Mann zu. »Du erlaubst es diesem Monster einfach so in unser Gemach zu stürmen?«

Der Fürst schüttelte wild seine blass blonde Mähne.

Evan inspizierte jeden Winkel des Zimmers.

»Verratet Ihr mir endlich, was los ist?«, fragte der Fürst aufgebracht. »Ihr habt das Mädchen also gesehen, was war geschehen?«

Evan schwieg und wanderte im Zimmer umher. Fragend schauten ihn die Anwesenden an. Er wirkte auf sie, als sammelte er gerade seine Gedanken, von denen keiner wirklich klar schien.

Marie versuchte ihn zu beruhigen und streckte ihm ihre Hände entgegen. »Komm her, sag uns, was Du gesehen hast.«

Evan blieb stehen. Er atmete einmal tief durch. Dann schienen seine Gedanken klar zu werden.

»Es ist kein Geist«, sagte er schließlich.

»Ist es nicht?«, Marie schaute ihn fragend an, versuchte immer wieder nach seinen Armen zu greifen, doch jedes Mal erwehrte er sich ihres Griffes, indem er sich leicht zur Seite bewegte.

»Was ist es dann? – Spannt uns nicht weiter auf die Folter!« Die Worte des Fürsten klangen wie ein Befehl, für manch einen vielleicht gar wie eine Drohung.

»Fürst Dancker«, sagte der Halbdämon und schaute diesen scharf an. »Ihr habt erwähnt, dass Eure Frau vor Jahren eine Fehlgeburt hatte.«

»Das ist richtig. Methild war mit unserem gemeinsamen Kind schwanger, doch sie verlor es bei der Geburt«, erklärte dieser. Dancker merkte, wie sich die Fingernägel seiner Frau in seinen Arm bohrten.

Auch Evan bemerkte ihre eigenartige Reaktion.

Er ging einen Schritt auf das Fürstenpaar zu und wandte sich an die Gattin. »Sprecht. Es wird Zeit, die Wahrheit zu erzählen.«

Methild umklammerte ihren Mann und schaute den Halbdämon nervös an. »Wovon sprecht Ihr? – Was wollt Ihr von mir?«

Dancker hingegen stellte sich zwischen die beiden und baute sich vor Evan auf. »Lasst meine Frau in Ruhe, sie hat bereits genug gelitten. Hinfort mit Euch! Hinfort, oder ich lasse Euch auf der Stelle hinrichten!«

Plötzlich zeigte der Fürst sein wahres Gesicht. Evan wusste, dass er nur noch am Leben war, weil sie eine größere Plage heimsuchte.

Die zuvorkommende Art, hatte er Johan Dancker von vornherein nicht abgekauft, dafür hatte er schon zu oft mit dem niederen Adel zu tun gehabt.

Der Halbdämon machte einen Schritt zurück, wo ihn Marie schützend mit ihren Händen ergriff.

Sie ließ ihn auf der Stelle wieder los.

»Ihr hattet keine Fehlgeburt. Nicht wahr?«, seine Stimme war ruhig aber bestimmt.

Erschrocken blickte die Frau erst zu ihm und dann zu ihrem Mann. »Das, das ist nicht wahr!«

Der Fürst strich ihr sanft über die Oberarme. »Ist schon gut. Ich lasse ihm diese Dreistigkeit nicht durchgehen.«

Er schaute finster zu Marie hinüber. »Und dieser Hexe auch nicht.«

»Verbrennen solltest Du sie, diese Ketzer!«, brüllte Methild auf.

Ihr Gesicht war rot vor Wut.

»Wenn Ihr uns jetzt nicht die Wahrheit erzählt, dann werdet Ihr diese Nacht vermutlich nicht überleben«, sagte Evan und streckte seine Arme aus. »Diese Dinge hier werden Euch nicht weiter beschützen. Der Bannzauber, den Ihr gesprochen habt, er beginnt zu bröckeln. Wenn Euch Euer Leben und das Eures Mannes also lieb und teuer ist, dann sprecht!«

Methild wandte sich von ihrem Mann ab.

»Ich kann nicht!«, stieß sie aus und hielt sich die Hände vor das Gesicht.

Die Tränen rannen ihr über die Handgelenke.

»Was ist geschehen?«, fragte der Fürst aufgebracht.

»Das Kind war am Leben, nicht wahr?«, wollte Evan wissen, aber die Antwort war ihm bereits bewusst.

Die Gattin des Fürsten nickte. Ihr Gesicht war blass, und ihre Augen füllten sich mit ihren Tränen.

»Was, unser Kind lebt?« Danckers Stimme zitterte.

Seine Frau heulte und schluchzte. »Nein, das tut sie nicht.«

Evan schloss die Augen. Er hatte also Recht.

»Wie meinst du das?«, wollte der Fürst wissen, packte seine Gattin an den Armen und schüttelte sie.

»Lasst sie los«, befahl der Halbdämon und war schon fast dabei auf ihn zu zustürmen, doch er hielt sich zurück.

»Ihr habt mir gar nichts zu sagen!«

Marie legte ihre Hände auf die seine und schob sie von den Armen seiner Frau. »Lasst sie zur Ruhe kommen, damit sie sich erklären kann.«

Dancker beruhigte sich und trat mit einem Seufzer einen Schritt zurück. Er schüttelte sich, als wolle er aus einem schlechten Traum erwachen.

Alle schauten gebannt auf Methild.

Ihre Lippen bebten, aber kein Wort kam über diese.

»Wir können Euch nur helfen, wenn Ihr uns helft«, sagte Evan nach kurzer Zeit.

Die Gattin des Fürsten senkte den Kopf. »Mir bleibt wohl keine andere Wahl.«

Sie blickte voller Trauer zu ihrem Mann. »Wir hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, doch endlich hatte es geklappt, ich wurde schwanger. Wir haben uns so sehr auf das Kind gefreut.«

Sie schluchzte und stotterte. »Du hast die ganze Zeit davon gesprochen, wie sehr Du Dir einen Jungen wünscht. Wie Du ihm das Reiten und Jagen beibringen würdest, wie Du ihn zu einem stattlichen Ritter ausbilden würdest. Es kam nicht infrage, dass es ein Mädchen werden würde.«

Das Gesicht des Fürsten wurde schneeweiß. »Aber Methild, niemals habe ich gesagt, dass es unbedingt ein Junge werden sollte.«

»Das musstest Du auch nicht, ich habe es doch gespürt. Du hast nie in Erwägung gezogen, dass es ein Mädchen werden könnte, ständig sprachst Du davon, wie sehr Du Dich auf unseren gemeinsamen Sohn freust.«

Johan Dancker senkte bedauernd den Kopf. »Aber, ich, ich habe nie…«, stammelte er.

Aufgeregt spielte Methild mit ihren Händen, suchte nach Ablenkung und nach Mut weiterzureden.

Das Atmen fiel ihr schwer. »In jener Nacht, als die Hebamme in die Burg kam, war es so weit. Es waren nur die Hebamme, Magda und ich in dem Zimmer anwesend.«

»Magda war dabei?«, fragte Marie erstaunt. »Sie hat damals schon in der Burg gelebt?«

»Sie war ein Findelkind«, erklärte der Fürst. »Sie hat ihr ganzes Leben in der Burg verbracht.«

»Und Ihr habt sie einfach fortgejagt, weshalb?« Die Seherin setzte eine finstere Miene auf. Es lag Spannung in der Luft.

»Sie war damals doch selbst noch ein Kind!«, heulte Methild. »Als ich die Schreie unseres Kindes zum ersten Mal hörte, war ich überglücklich. Aber wie würdest Du reagieren? – Eine Tochter, anstelle eines Sohnes? Das konnte ich Dir doch nicht antun!«

»Was hast Du getan?«, wollte Dancker wissen und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter.

»Ich habe Dir erzählt, dass ich eine Totgeburt hatte, aber das ist nicht wahr. Sie lebte, für einen kurzen Moment. Es war ein Moment der Schwäche, ich schwöre es!«

Evan schloss schnaubend die Augen. »Ihr habt es mit Euren eigenen Händen getötet?«

»Ich wusste nicht, was ich tat, es war noch so klein, so zerbrechlich!«

Der Fürst begann zu wanken, griff sich an die Stirn und fiel zu Boden. Marie eilte zu ihm, hielt ihn an den Schultern aufrecht.

»Wie konntest Du nur?«, fragte er leise und schielte gedankenverloren auf den Boden. »Das war unser Kind.«

»Ich wollte es nicht, aber ich sah plötzlich Dein enttäuschtes Gesicht vor meinen Augen. Ehe ich wusste, was ich getan hatte, war es bereits zu spät!«, Methild fiel auf die Knie.

»Und Magda hat alles mit angesehen?«, fragte Evan.

»Hat sie«, gab Methild zurück. »Die Hebamme konnte ich mit ein paar Kronen zum Schweigen bringen, aber Magda, sie war doch noch so jung. Ich bin schuld daran, dass aus dem aufgeweckten Mädchen solch eine nervöse und ängstliche junge Frau wurde.«

»Ihr habt sie vom Hof gejagt, kurz bevor die Erscheinung sich zum ersten Mal zeigte. Das habt Ihr sicher nicht wegen ein paar Vorräten getan, oder?«, Evan verschränkte die Arme.

»Natürlich nicht. Sie hat nie etwas gestohlen. Sie war ein so gütiges Kind. Aber sie musste gehen, sie konnte nicht weiterhin in der Burg leben.«

»Weshalb? immerhin hütete sie über die Jahre Euer Geheimnis.«

»Genau das tat sie eben nicht. Sie hat es diesem Hurenbock erzählt. Diesem dreckigen Stallburschen. Ich wusste, dass sie eine Affäre hatten, aber dass sie ihm wirklich alles anvertrauen würde, das hätte ich niemals gedacht. Er wollte sie dazu bringen, meine schreckliche Tat öffentlich zu machen. Als sie sich weigerte, schlug er sie. Ich wollte ihr helfen, wirklich, aber sie hatte mein Geheimnis verraten. Ich musste sie fortschicken.«

»Und der Stallbursche? – Er kannte Euer Geheimnis ebenfalls.«

»Er hat mich erpresst«, Methild hielt kurz inne. »Am Anfang wollte er mehr Lohn. Das hat er dann in der Taverne und dem Bordell schnell verprasst. Er wollte immer mehr.«

»Also habt Ihr ihn Euch vom Hals geschafft.«

»Nein, das ist nicht wahr! – Mit seinem Tod habe ich nichts zu tun, ich schwöre es! – Bevor er es meinem Mann erzählt hätte, wollte ich es tun.«

»Aber dann starb er, und Ihr konntet das Geheimnis weiter hüten.«

»So ist es. Aber das wollte ich nicht. Es war ein Zufall. Ich war es nicht, ich war es nicht.«

Der Fürst richtete seine wackligen Beine auf. »Du hast unser Kind getötet.«

»Es tut mir so schrecklich leid«, schluchzte Methild.

»Und jetzt jagt sie uns, bis zum Tod.«

»Falsch«, wandte Evan ein.

Überrascht traf sein Blick auf die von Methild, Johan und Marie.

»Es ist nicht der Geist Eurer Tochter«, fuhr er fort. »Wir haben es mit einem Hintz zu tun.«

»Einem Hintz?« Die drei verzogen das Gesicht.

»Petunias Cousine hat erzählt, dass Magda und Gregor sich in der Scheune gestritten haben. Jetzt ergibt es auch einen Sinn. Sie hat ihm von Eurem Geheimnis erzählt. Ich stelle Euch jetzt eine Frage, Methild. Den Leichnam des Kindes habt Ihr ihn unter der Scheune begraben?«

Methild nickte. »Woher wisst Ihr das?«

»Ich wusste es nicht, aber jetzt fügen sich die Teile zusammen. Ein Hintz labt sich am Tod. Es frisst Erinnerungen und Ängste. Nachdem Magda verraten hatte, wo sich der Leichnam befindet, konnte sich der Hintz an den Erinnerungen der Burg laben und somit an allen, die in der Burg leben. Er nahm fortan die Gestalt eines kleinen Mädchens an, um weiter Angst zu schüren und alle in der Burg in den Tod zu treiben. Denn erst das bereitet ihm ein wahres Festmahl. Beim Stalljungen hat sie es geschafft, danach hat der Hintz Blut geleckt.«

»Aber woher wusste dieses Ding, wie unsere Tochter heute aussehen würde?«, fragte der Fürst perplex.

»Wusste er nicht. Aber das wissen wir auch nicht. Er hat einfach eine Illusion geschaffen, die Euch und Eurer Frau ähnelte, um das Bild noch erschreckender zu machen«, Evan blickte zu Marie hinüber. »Erst weckt es wohlige Träume, nur um diese dann unter seine Kontrolle zu bringen und von der Angst seiner Opfer an Stärke zu gewinnen.«

»Das heißt, ein böser Dämon hat meine Burg heimgesucht, verstehe ich das richtig?«, fragte Dancker. »Wie können wir es aufhalten?«

»Nun, um einen Dämon zu bezwingen, könnte ein Halbdämon ganz nützlich sein«, schmunzelte Evan.

Seine Miene wurde wieder ernst. »Ich fürchte, es wird Euch nicht gefallen. Aber um den Hintz aus seinem Versteck zu locken und abzulenken, werden wir ihn herauslocken müssen. Fürst Dancker, als Vater hattet ihr eine Verbindung zu Eurem Kind, auch wenn Ihr es nie kennenlernen durftet. Der Hintz kann diese Verbindung spüren. Deshalb würde ich Euch bitten, Euch damit einverstanden zu erklären, als Köder zu dienen. Selbstverständlich wird Euch nichts geschehen.«

»Aber ich bin diesem Hintz doch schon begegnet, er hätte mich doch in jener Nacht mit Leichtigkeit töten können«, gab Johan Dancker zurück.

»Da solltet Ihr Euch bei Eurer Frau bedanken. Ihr Schutzzauber ist laienhaft, aber immerhin hat er Euch bisher vor dem Tod bewahrt.«

Johan blickte fragend zu seiner Frau und dann wieder zu Evan. »Wenn wir somit die Burg von ihm befreien können und dieses Ding somit loswerden, erkläre ich mich damit einverstanden.«

»Niemals«, wandte Methild ein. »Es ist meine Schuld. Wenn, dann sollte ich als Köder dienen.«

»Das könnt Ihr vergessen.« Evan schüttelte mit entschiedenem Gesichtsausdruck den Kopf. »Für Euch ist es hier sicherer. Ihr seid der Grund, weshalb der Hintz sich in der Burg festgesetzt hat. Euer Bannzauber wird den Hintz von Euch fernhalten.«

»Aber Ihr sagtet doch, dass dieser Zauber nicht mehr lange anhalten würde«, protestierte die Gattin des Fürsten.

Der Halbdämon kratzte sich am Kinn und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das war gelogen. Ihr seid keine Zauberin, deshalb habt Ihr das Ritual nicht fehlerfrei ausgeführt. Ein Grund, warum der Hintz Euren Mann in der Nacht angreifen konnte, aber dennoch habt Ihr keine schlechte Arbeit für eine Amateurin geleistet. Der Bann bewahrt Euch vor dem Tod.«

Entgeistert blickte Methild ihn an und erhob sich. »Ihr habt mich angelogen? – Wie konntet Ihr das nur tun?«

»Ihr wolltet nicht mit der Wahrheit herausrücken, ich musste es tun.«

»Ihr seid ein dreister Lügner, ein Scharlatan mit schlechten Absichten!«, brüllte sie.

Evan schaute sie verdutzt an. Meinte sie das wirklich ernst?

»Methild, was ist denn los?« Der Fürst versuchte nach seiner Frau zu greifen. Es war zwecklos. Sie entging dessen Hand und nahm Abstand vom ihm.

»Fass mich nicht an!«, entgegnete Methild ihm voller Wut.

Sie setzte einen irren Blick auf, war sich sicher, dass all das nur ein Komplott sein konnte. »Ja, Ihr wolltet mich hereinlegen, Ihr und diese dumme Hexe. Es war von Anfang an Euer Plan, mich in den Wahnsinn zu treiben. Was wollt Ihr? – Wollt Ihr die Burg? – Wollt Ihr Gold und Juwelen oder macht es Euch einfach Spaß, mich leiden zu sehen?«

»Frau Dancker.« Marie versuchte sie zu beruhigend und ging vorsichtig ein paar Schritte auf sie zu. »Niemand von uns will Euch leiden sehen.«

»Bleibt stehen! – Aber ja doch, das ist Euer Ziel, mich leiden zu sehen.«

»Methild, ich kann Euch versichern, dass dies nicht unser Ziel ist«, gab Evan bestimmt zurück, »wir wollen Euch helfen.«

»Warum solltet Ihr das wollen? – Ihr seid ein Dämon und Ihr eine Hexe. Ich kenne keine einzige Geschichte, in der Euresgleichen etwas Gutes vollbringt. Ihr gehört in die Hölle, dorthin, wo Ihr hergekommen seid«, zischte die Gattin des Fürsten.

»Methild«, sagte Johan Dancker mit beruhigender Stimme.

Sie schaute ihn böse an und geschwind drehte sie sich herum und rannte aus dem Zimmer hinaus.

»Methild!«

Als sie aus der Tür verschwand, stieß sie beinahe Leuven zur Seite, der gähnend in das Zimmer lugte. »Was ist denn hier für ein Lärm?«

Der Fürst folgte seiner Frau, ebenso Marie und Evan.

Leuven stand mit verträumten Augen im Türrahmen, blinzelte desillusioniert, als er die vielen schwarzen Kerzen und Gestecke aus den verschiedenen Pflanzen entdeckte.

Dann fasste er sich an den Kopf. »Man, was habe ich nur geträumt?«

Methild rannte hinaus auf den Hof. Regen hatte eingesetzt. Ihre flachen Schuhe versanken beinahe im Schlamm, doch sie stapfte weiter über den rutschigen und unebenen Boden.

»Methild, warte!«, rief ihr Mann ihr hinterher.

Sie drehte sich herum, streckte ihre Arme zur Seite aus. »Ist es das, was ihr wolltet?« Schrie sie ihren Verfolgern entgegen. »Wolltet Ihr mich so sehen?«

Evan und Marie hielten den Fürsten davon ab, zu seiner Frau zu eilen.

»Methild, Ihr müsst zurück in die Burg!«, brüllte der Halbdämon, doch es war bereits zu spät.

»Mama, da bist Du ja«, erklang die Stimme eines kleinen Mädchens hinter Methild.

Erschrocken drehte diese sich langsam herum.

»Wieso hast Du mich so lange warten lassen?«, fragte das kleine Mädchen mit einem aufgesetztem freundlichen Gesicht. »Wieso bist Du erst jetzt gekommen? – Ich wollte Dich doch besuchen kommen.«

»D… d… Du bist meine Tochter«, stammelte Methild.

Evan watete durch den Schlamm. »Ihr müsst da weg!«

In diesem Moment erstreckte sich ein schwarzer Schatten über dem kleinen Mädchen.

»Wieso hast Du mich getötet, liebst Du mich nicht?«, erklang eine tiefe, finstere Stimme aus ihrer Kehle.

Methild schrie auf. Blut quoll aus ihren Augen und ihrem Mund. Ihre stummen Schreie zeugten von entsetzlichem Schmerz. Das Blut spritzte in jede Richtung, als ihr Körper in der Luft zerrissen wurde und in einzelnen Teilen in den Schlamm niedersanken.

Evan bremste ab und rutschte beinahe auf dem Morast aus. Entgeistert blickte er auf die Körperteile und das Blut, die sich auf weiter Fläche verteilten.

Das kleine Mädchen lachte schrecklich auf.

»Köstlich!«, sagte sie mit dämonischer Stimme.

Evan zog rasch sein Schwert aus der Scheide. Es blitzte im Mondlicht auf. »Verschwinde, Hintz!«

Das kleine Mädchen lachte abermals. »Armseliger Mensch. Ein Schwert wird Euch nicht beschützen. Ich bin unbesiegbar!«

»Unbesiegbar sagst Du? – Das haben schon viele behauptet«, schnaubte Evan und streckte seine Klinge aus.

»Hinfort!«, schrie das Mädchen und wischte mit ihrer kleinen Hand vor ihrem Gesicht.

Ein unsichtbarer Schlag traf Evan und schleuderte ihn mit einem lauten Donnern durch das Scheunentor.

»Evan, nein!«, schrie Marie auf, die im prasselnden Regen wie angewurzelt da stand und verängstigt auf das kleine Mädchen schielte.

Diese wandte sich ihr zu. »Die Mutter war köstlich, aber ich bin noch nicht satt. Ein Ärmchen, vielleicht ein Beinchen, dann ist der Vater dran.«

Marie wollte sich bewegen, aber ihre Beine waren wie versteinert. Wie gelähmt starrte sie auf die finstere Kreatur. Ihr Blick wechselte zwischen dem Schatten und dem Mädchen hin und her.

Ihre Bewegungen waren gleich. Wie eine Marionette schien der Hintz die Erscheinung zu führen.

Die schwarze Silhouette erhob eine gewaltige Pranke aus Schatten.

Dann erklang eine Stimme aus dem Nichts. »Jetzt reicht es aber!«

Der Schatten und seine Marionette wandten ihre Blicke zum Scheunentor.

Ohne einen Kratzer stand Evan da. Das Schwert in den Boden gerammt. Er weitete die Riemen seiner Armschienen.

»Du machst mich echt sauer«, stöhnte er.

»Hinfort mit Euch«, spuckte das Mädchen. »Ich will Euch nicht!«

»Pech gehabt«, spottete der Halbdämon. »Entweder begnügst Du Dich mit mir, oder Du musst leider ohne Abendessen ins Bett.«

»Dreister Mensch, dummer Mensch«, schimpfte der Hintz.

Evans Umhang flatterte wild im aufkommenden Wind.

Marie blickte verwirrt umher, ehe ein stechender Schmerz abermals durch ihren Kopf zog.

Rote, glühende Augen erschienen vor ihrem inneren Auge und ein teuflisches Gesicht, von Boshaftigkeit durchzogen.

Sie holte tief Luft.

»Das habe ich schon einmal gesehen. So habe ich Dich schon einmal gesehen«, prustete sie.

Der Hintz fauchte bedrohlich. »Dein Schwert wird Dir nicht helfen. Fressen will ich Dich nicht, aber töten will ich Dich!«

Evan zog einen Dolch aus einem Schaft, der an seinem Bein befestigt war.

Die schwarze, unebene Klinge glitzerte bei jedem Regentropfen, der darauf hinabfiel.

»Dreister Mensch, dummer Mensch«, wiederholte das Mädchen.

»Ich bin kein Mensch«, gab Evan zurück, schwang den Dolch und schnitt eine tiefe Wunde in sein Handgelenk. Pechschwarzes Blut sprudelte hinaus. Es tropfte hinab auf den Schlamm und verschwamm mit dem modrigen Wasser.

Evan ging auf die Knie. Sein Herz schlug wild und ungleichmäßig in seiner Brust. In diesem Moment wollte er am liebsten laut aufschreien, doch sein Kiefer verkrampfte sich.

Das Mädchen ging leichtfüßig auf den Halbdämon zu. »Ja, erledige es selbst, dummer Mensch.«

Evan hob seinen Kopf, knurrte und bis die Zähne zusammen, dann drang endlich der erlösende Schrei aus seiner Kehle.

Marie konnte ihren Augen nicht trauen.

Evans Augen glühten rot leuchtend auf, wie Flammen in der Dunkelheit. Seine Finger spreizten sich.

Die Seherin spürte die Schmerzen, die seinen gesamten Körper durchfuhren.

Evans Muskeln bauten sich weiter auf, seine Haut wurde fahl und bleich und schwarze Adern durchzogen seinen Hals, wie die Verästelungen eines Baumes.

So hatte sie ihn in ihrer Vorsehung gesehen. Dieser dämonische Blick hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt.

Der Hintz blieb auf halbem Wege stehen. »Du bist kein Mensch!«, fauchte er.

»Das habe ich doch gesagt.« Evans Stimme wurde rauer und klang beinahe so tief wie die des Hintz.

Dieser lachte boshaft. »Ich bin ein Traumwandler, ein Gespenst in deinem Kopf, der Schatten, der durch die Nacht wandert und nicht gefangen werden kann. Ich bin unsterblich. Solange es Träume gibt, solange werde ich mich in den Köpfen der Menschen einnisten.«

Evan griff mit einer Hand zu seinem Schwert und zog es aus dem Schlamm.

»Nichts überdauert die Ewigkeit«, sagte er kalt.

Marie war wie gelähmt. War das wirklich noch der Evan, den sie kennengelernt hatte?

Die Gestalt des kleinen Mädchens waberte und löste sich in einem schwarzen Nebel auf.

Wild kreiste dieser auf einer Stelle und verwob sich ineinander. Das Bild glich einem Tropfen Tinte, der in Wasser eintauchte.

Geschwind, verwoben sich die Enden des Gebildes zu einer Gestalt. Die Umrisse einer jungen Frau waren zu erkennen.

Evan bleckte die Zähne.

»Ich kann auch in deinen Kopf sehen. O welch Trauer sitzt in dir?«, lachte der Hintz. »Ah, ich sehe tiefen Schmerz, Tod. Vielleicht bist Du ja doch das Festmahl, nach dem ich mich verzehre.«

Der Nebel vollendete seine Verwandlung in die einer hübschen jungen Frau, mit seidenem, dunklem Haar.

Marie erkannte, dass diese dem Halbdämon etwas bedeuten musste, sein Gesichtsausdruck ließ keinen anderen Schluss zu. Trotz dessen teuflischer Gestalt, erkannte sie die Trauer, die ihn umgab und die Wut, die sich in seinen flammenden Augen widerspiegelte.

»Evan«, sagte die Gestalt der jungen Frau ruhig, mit der Stimme eines Engels. »Hab keine Angst. Ich bin da, ich werde dir helfen.«

»Siehst Du«, sprach der Hintz, »sie ist deinetwegen hier. Gehe mit ihr fort. Lebe das Leben, von dem Du unentwegt träumst.«

Doch mehr als ein müdes Lächeln kam nicht über Evans Lippen. »Billige Taschenspielertricks. Du kannst in meine Träume und Gedanken sehen, aber damit beeindruckst Du mich nicht. Du bist zu übermütig. Glaubst Du, mich damit ablenken zu können?«

Der Hintz schwieg.

»Weißt Du was ich wirklich spüre? – Dass Du Angst hast!«, gab der Halbdämon selbstbewusst zurück.

»Ich habe keine Angst. Ich bin der Schatten.« Bedrohlich reckte er sich.

Plötzlich ging auch die Frau in einem dichten Nebel auf und formte sich neu.

Der Hintz schien überrascht. »Was ist das? – Was tust Du?«

»Du willst in meine Gedanken blicken, dann blicke hinein. Ich gebe dir, was Du willst.«

Ein kleines Wesen schien sich aus dem Nebel zu bilden. Lange Ohren und spitze Zähne wurden sichtbar. Die Frau hatte sich in ein kleines Kaninchen verwandelt.

»Interessant«, sagte Evan lächelnd. »Deshalb ist jedem das kleine Mädchen erschienen. Weil sich die Geschichte des Geistes unter den Menschen verbreitet hat. Du kannst die Gestalt also nicht vollends bestimmen. Du bist auf die Bilder in den Köpfen der Menschen angewiesen.«

»Ich bin ein Traumwandler…«

Evan unterbrach ihn, »Angst und Tod und blah blah blah. Ich weiß Bescheid.«

Er streckte sein Schwert nach dem Hintz aus. »Doch für Dich hat es sich hier ausgeträumt. Es wird Zeit, zu verschwinden.«

Die Gestalt des Kaninchens verschwamm. Der Hintz bäumte sich auf und in einem tosenden Gewitter nahm der Schatten die Gestalt eines riesigen Wolfes an.

Sein greller Blick traf auf die flammenden Augen des Halbdämons.

Ein Schrei, ein mächtiges Brüllen, der Klang von Metall, der durch den Wind sauste und ein Donnern hallten durch die Nacht.

Ein greller Blitz schlug auf den Burghof ein, dessen Kraftwelle die Seherin rücklings in den Schlamm warf.

Sie setzte sich auf. Begutachtete die Szene mit großen Augen.

Evan und der Hintz leisteten sich einen unerbittlichen Kampf.

Die Wolfsgestalt wich einem Schwerthieb aus und verpasste mit dem Maul nur knapp den Halbdämon. Knurren und Jauchzen lösten sich in einem ständigen Tanz der Geräuschkulisse ab.

Ein mächtiger Schlag mit der aufblitzenden Klinge traf den Hintz an dessen Schnauze.

»Unsterblich bin ich«, fauchte er. »Ich bin ein Schatten. Einen Schatten kann man nicht töten!«

Evan packte die Gestalt am Hals oder zumindest das, was der Hals hätte sein können.

Überrascht jauchzte der Hintz. »Unmöglich, das kann nicht sein!«

»Du bist nicht das, was Du vorgibst zu sein«, brummte der Halbdämon. »Du verzehrst Dich nach schlechten Träumen? – Wie schmecken dir denn diese?«

Er zog sein Gesicht angestrengt zusammen.

Der Hintz heulte auf. Die Schatten waberten wild umher, als würde sich die Gestalt krümmen.

Evan ließ ihn zu Boden fallen. Der Hintz krümmte sich weiter, verwandelte sich in die verschiedensten Erscheinungen. Mensch, Tier, das kleine Mädchen, die junge Frau, das Kaninchen. Es schien, als könne er nicht kontrollieren, welche Gestalt er als Nächstes annehmen würde.

»Hör auf!«, fluchte der Hintz. »Hör sofort auf damit!«

Evan knurrte bedrohlich auf. »Friss Dich satt an meinen Träumen und Gedanken.«

Der Hintz kam zur Ruhe und erschien in der Gestalt eines kleinen schwarzen Männchens mit langem Schwanz und reptilienartiger Schnauze.

Jämmerlich sank es zu Boden, kauerte wie ein Häufchen Elend im Schlamm.

Quietschend jauchzte es schwer atmend vor sich hin.

»Du hast den Menschen viel Leid angetan«, urteilte Evan und stellte sich über das kümmerliche Wesen. »Damit ist jetzt Schluss.«

»Hunger, ich habe solchen Hunger!«, quiekte der Hintz.

Evan ließ das Schwert in den Schlamm fallen und nahm seinen Dolch in die Hand.

Ein letztes, schrilles Quieken ertönte, dann kehrte Stille ein.

Der Halbdämon atmete schwer. Seine lodernden Augen erloschen, als er sich auf die Knie fallen ließ. Angestrengt blickte er umher und fiel letztendlich mit dem Gesicht voran in den Schlamm.

Marie stürmte herbei, glitt über den rutschigen Boden und tastete den Halbdämon ab. »Evan, wach auf, wach auf.«

Aufgeregt strich sie über seine Wange und seine Stirn, nachdem sie ihn auf den Rücken gedreht hatte.

»Schnell! Bringt mir Wasser und ein Tuch!«, rief sie dem Fürsten entgegen.

Dieser aber kauerte jaulend über den Überresten seiner Frau.

Der Schock saß tief. Noch hatte er wohl nicht verstanden, was geschehen war.

Leuven aber stürmte herbei und rannte geistesgegenwärtig zum Pferdestall hinüber. Dabei rutschte er mehrmals fast aus, konnte sich aber auf den Beinen halten.

Geschwind griff er nach einem Eimer und einem alten Lumpen und eilte der Seherin zur Hilfe.

Abermals machte er keine gute Figur dabei, als er über den Schlamm rutschte. Aber das war in diesem Moment egal. Er wollte Evan zur Hilfe eilen, nur das war wichtig.

Marie tauchte den Lumpen in den Eimer und wischte damit über Evans Gesicht.

Er öffnete angestrengt die Augen.

Erleichtert atmeten Marie und Leuven auf.

»Wie hast Du das nur geschafft?«, fragte sie lächelnd, als sich der Halbdämon aufsetzte und eine Hand an den schmerzenden Kopf hielt.

Er schüttelte sich und blickte die beiden mit müden Augen an. »Manche Dämonen neigen zum Übermut.«

Er stellte sich auf und streckte sich. Ein stechender Schmerz zog durch seinen gesamten Körper.

Als dieser vorbeigezogen war, fühlte er sich deutlich besser.

»Sie fühlen sich übermächtig, aber das sind sie nicht. Jeder Dämon hat eine Schwachstelle«, fügte er an.

Ein »hah« entfuhr Leuven. »Evan Dhorne, der Bezwinger der Schatten und Zerstörer von Träumen!«

»Aber wie ist das nur möglich?«, fragte Marie irritiert. »Wie kann man einen Schatten töten?«

»Ein Hintz ist kein Schatten«, gab Evan zurück. »Er ist einfach ein niederer Dämon, der sich nach Träumen und Ängsten verzehrt. Ich dachte, das hätte ich ausführlich erklärt.«

»Also ist ein Hintz ein lebendes Geschöpf?«

»Der hier nicht mehr, aber ja. Sie sind wie Parasiten, mehr Schein als Sein. Vermutlich hielt er sich wirklich für unsterblich, oder er gab es nur vor. Auf jeden Fall brachte ihn dieser Übermut zu Fall«, führte der Halbdämon aus.

»Und dein Dolch?« Marie inspizierten diesen genau, als Evan ihn zurück in den Schaft steckte.

Er blickte sie stur an. »Obsidian. Für Menschen ist es einfach ein schöner Stein, ein Schmuckstück, aber es ist sehr effektiv gegen Dämonen.«

Sein Blick wanderte hinüber zum Fürsten, der heulend über den Überresten seiner Frau kauerte.

Die drei wagten sich vorsichtig an ihn heran.

»Es tut mir leid«, sagte Evan bedrückt.

Fürst Dancker blickte ihn mit verquollenen Augen an. »Es tut Euch leid? – Meine Frau ist tot und Euch tut es leid? – Ihr habt gesagt, es würde ihr nichts geschehen.«

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Evan ab. Er wollte dem Fürsten die Zeit geben, die er benötigte, auch wenn er tief im Herzen wusste, dass die Zeit des Schmerzes niemals vorbeigehen würde.

Er konnte den Hass des Fürsten nicht nur sehen, sondern auch spüren. Aber was sollte er auch anderes erwarten. Es war seine Schuld, so empfand er es zumindest.

Evan schritt an der Dienerschaft vorbei, die sich auf dem Burghof versammelt hatte und ihn mit verängstigten Blicken straften. Nacheinander machten sie einen Schritt zur Seite und eröffneten ihn ein Spalier. Ihre Gesichter waren voller Furcht und Misstrauen.

Marie und Leuven folgten Evan in die Burg.

»Evan, warte«, rief die Seherin ihm hinterher. »Was hast Du vor?«

»Ich packe meine Sachen und reise ab, noch heute Nacht«, gab er zurück, ohne seinen Schritt zu verlangsamen oder sich gar zu ihr herumzudrehen.

»Na toll«, stöhnte Leuven auf. »Jetzt muss ich auch noch durch die Nacht wandern?«

»Was Du tust, bleibt dir überlassen. Ich bin nicht länger erwünscht, daher werde ich gehen.«

Marie und Leuven schauten sich trauernd an. Wollte er einfach so gehen, obwohl er seinen Auftrag erfüllt hatte?

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