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Kapitel 3: Die Schneiderin

Beschreibung: Evan und Leuven haben Ravensberg verlassen und setzen ihre Reise gen Norden fort. Ihr Weg führt sie durch ein Waldstück, das anfangs noch ruhig erscheint, doch plötzlich passiert etwas unerwartetes: Ein Mann fällt vom Himmel!

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Teil 5

Gegen Mittag erreichten sie das Waldstück, in dem Evan der Harpyie begegnet war.

Schweigend folgten sie dem Weg bis zu der Stelle, an der Albert und Jakob von der Bestie angegriffen worden waren.

Der Boden war ein einziges Ödland aus Staub und Asche; verbrannte Baumstümpfe ragten wie Mahnmale in die Höhe.

Ohne Leanas Eingreifen in der letzten Nacht wäre das Verderben noch weitaus größer gewesen.

Evan ließ keinen noch so kleinen Hinweis unbeachtet. Jedes abgeknickte Geäst, jeder Fußabdruck im schwarzen Boden, selbst der schwächste Geruch lag ihm sofort offen.

»Sie hat sich zuerst Albert geschnappt«, sagte er mit kalter Stimme. »Dann ist sie nach Norden geflogen. Kurz darauf hat sie sich Jakob geholt… und auch ihn dorthin verschleppt.«

Leana musterte ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Denkst du, sie hat dort irgendwo einen Unterschlupf?«

»Davon gehe ich aus«, erwiderte Evan trocken. »Wahrscheinlich eine Höhle oder ein verlassenes Gebäude. Ein Ort, an den sie ihre Opfer verschleppt.«

»Eine Höhle?« Nellas Stimme zitterte leicht, als wäre sie aus tiefen Gedanken aufgeschreckt. »Nördlich von hier… da gibt es tatsächlich eine Höhle. Die Leute im Dorf sagen, dass dort Schmuggler ihr Versteck hatten. Das haben wir nie geglaubt, aber ich weiß, welche Höhle gemeint sein könnte.«

Evan wandte sich ihr zu, die Augen schmal. »Kannst du uns dorthin führen?«

»Ich… ich denke schon.« Nella wirkte plötzlich klein und eingeschüchtert. »Aber glaubt ihr wirklich, dass wir dort auf Emilia stoßen?«

Evan starrte sie irritiert an. »Das hoffe ich doch. Dafür sind wir schließlich hier.«

Die junge Frau zögerte. Ihre Augen huschten von einem zum anderen, und der Blick ihrer Begleiter ruhte schwer auf ihr, fordernd und wartend.

Man konnte Nella die Beklommenheit deutlich ansehen, und doch setzte sie zögernd einen Fuß vor den anderen und führte die Gruppe weiter.

Misstrauisch warf Evan einen Blick zur Seite, hinüber zu Leana. Die Zauberin wich seinem durchdringenden Blick aus.

Nach einer Weile erreichten sie eine Anhöhe. Die Sonne stand hoch und blendete sie, als sie über den Kamm traten.

Es war still. Nur das leise Rascheln der Blätter im Wind durchbrach die unheimliche Ruhe.

»Wir sind da«, flüsterte Nella mit trockener Kehle.

Die Gruppe folgte ihrem Blick, und tatsächlich offenbarte sich hinter einem dichten Vorhang aus Gestrüpp der dunkle Eingang einer Höhle.

Evan schritt ohne zu zögern an Nella vorbei, doch Leana griff nach seinem Arm. »Warte. Du weißt nicht, was uns da drin erwartet. Wir sollten vorsichtig sein.«

Evan schnaubte abfällig. »Vorsichtig? Das ist nicht meine Art.«

Ohne ein weiteres Wort schob er sich los und ging weiter.

Leana seufzte und warf einen schnellen Blick zu Leuven, der verlegen die Schultern hob. »So ist er eben.«

Mit einem leisen Fluch folgte die Zauberin dem Halbdämon, dicht gefolgt von Leuven und Nella, die nur zögerlich hinterhergingen.

Ein kalter, feuchter Wind kam ihnen aus dem Höhleneingang entgegen. Das Sonnenlicht verschwand hinter ihnen, verschluckt von der Finsternis.

Leana hob ihre linke Hand, und der Ring an ihrem Finger begann sanft zu glühen.

Eine kleine, helle Kugel formte sich über ihrer Handfläche und tauchte die Umgebung in ein mildes Licht.

»Beeindruckend«, murmelte Leuven ehrfürchtig. »Dein Ring ist wirklich praktisch.«

Leana warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Ich habe es bereits erklärt: Der Ring ist ein Katalysator für meine Magie.«

Leuven grinste schief. »Also macht dein Ring die meiste Arbeit.«

Leanas Kiefer spannte sich, eine Reihe von bissigen Kommentaren lagen ihr auf der Zunge, doch sie behielt ihre Fassung.

»Seid still«, zischte Evan plötzlich. Seine Augen schimmerten in der Dunkelheit noch bedrohlicher, als er den Kopf in die Tiefe der Höhle neigte.

Nella, die starr und ängstlich hinter ihnen stand, schien noch kleiner zu werden. Sie bewegte sich nicht, als wäre sie in Stein verwandelt worden.

»Was ist los?«, flüsterte Leuven.

»Ruhe!«, fauchte Evan leise. »Ich höre etwas.«

Alle lauschten gebannt in die Dunkelheit. Tatsächlich drang ein leises, verzerrtes Stöhnen aus der Tiefe der Höhle an ihr Ohr.

Leuven schluckte nervös den bitteren Speichel hinunter, der sich in seinem trockenen Mund angesammelt hatte. »Das… das ist doch nicht etwa die Harpyie, oder?«

»So klingt keine Harpyie«, erwiderte Evan schroff und verschwand ohne Zögern in der Finsternis.

Leana folgte ihm sofort.

Leuven hingegen zögerte. Unbehagen nagte an ihm, doch er konnte nicht zulassen, dass sein Mut ihn im Stich ließ.

Mit klopfendem Herzen und weichen Knien setzte er den ersten Schritt in die dunkle Höhle. Nella blieb zurück, reglos und unentschlossen, doch schließlich trat auch sie zaghaft hinterher.

Das unheilvolle Stöhnen hallte immer lauter durch die Felswände. Selbst der Halbdämon, dessen Augen sonst durch jede Dunkelheit schnitten, konnte hier kaum mehr als schemenhafte Umrisse ausmachen. Diese Finsternis schien anders, als wäre sie lebendig, und versperrte selbst ihm die Sicht.

Leana holte rasch auf. Ihre Lichtkugel glitt über ihre Hand, sanft, doch kraftvoll, und durchbrach die allgegenwärtige Dunkelheit.

Sie reichte Evan das nötige Licht, um die Quelle der Geräusche endlich auszumachen.

An der kalten Höhlenwand erkannte er eine gebeugte Gestalt – die Silhouette von Albert.

Der Mann lebte, doch sein Körper war schwer gezeichnet. Drei tiefe Wunden klafften in seiner Schulter, aus denen kein Blut mehr rann.

Leana kniete sich zu ihm nieder, ihre Augen glitten über die Verletzungen. »Sie bluten nicht mehr. Das ist ein gutes Zeichen.«

»Also wird er überleben?«, fragte Evan, ohne den Blick von den dunklen Schatten in der Höhle abzuwenden.

»Wenn wir ihn von hier wegbringen, dann ja«, entgegnete die Zauberin ruhig.

Albert stöhnte auf, als Leana die Wunden weiter untersuchte. Ihr Blick war konzentriert und ihre Worte waren sanft. »Es wird alles gut. Ich werde die Wunden verschließen, und die Schmerzen werden bald nachlassen.«

Die Lichtkugel löste sich sanft von ihrer Hand und schwebte tiefer in die Höhle, als hätte sie einen eigenen Willen.

Ihr Licht offenbarte das Grauen, das die Dunkelheit bis dahin verborgen hatte.

»Verdammt…«, murmelte Evan leise, seine Stimme klang gefährlich ruhig.

Während Leana leise Worte flüsterte und ihre Magie sich wie ein wärmender Schleier um Alberts Wunden legte, entfaltete sich vor dem Halbdämon ein Anblick des Schreckens.

Knochen, abgenagte Schädel, verstümmelte Leichenteile, die achtlos in der Höhle verteilt lagen – dies war ohne Zweifel das Nest der Harpyie. Und zugleich ihr Schlachthaus.

In einer Ecke regte sich etwas.

Blitzschnell legte Evan die Hand auf den Griff seines Schwertes; seine Augen blitzten in der Finsternis auf, doch es war kein Feind, der dort lauerte.

Zwischen den abgenagten Knochen, halb verborgen im Schatten, lag Jakob, keuchend und dem Tode nahe.

»Was ist los?« Leanas Stimme war ruhig, aber bestimmt, während sie sich von Albert abwandte, dessen Wunden nun geschlossen waren.

Die tiefen Narben auf seiner Schulter zeugten noch von der Grausamkeit der Harpyie, doch zu seiner eigenen Überraschung fühlte er sich fast wieder bei vollen Kräften.

»Das wird schon wieder«, sagte die junge Zauberin mit einem aufmunternden Lächeln, während Albert sie mit großen Augen anstarrte.

»Leana?« Er sprach ihren Namen aus, als könne er kaum glauben, was gerade geschehen war. »Wie hast du das gemacht?«

»Das tut nichts zur Sache«, murmelte sie knapp und verzog leicht das Gesicht. »Kannst du aufstehen?«

Zögernd stemmte Albert seine Hände gegen den kalten Höhlenboden. Ein stechender Schmerz durchzog seinen geschundenen Körper, aber er schaffte es, sich auf die Beine zu kämpfen.

»Ich… ich danke dir«, stammelte er, sein Gesicht blass wie die Knochen um ihn herum, als hätte er einen Geist gesehen.

Plötzlich ertönte Evans Stimme, schneidend und fordernd: »Leana, komm her.«

Mit einem flüchtigen Nicken wandte sie sich Jakob zu, der schwer verletzt am Boden lag. Seine Atmung war flach, das Gesicht bleich und mit Dreck und Blut beschmiert.

Eine offene Wunde an seinem Bein und Schürfwunden an Armen und Gesicht ließen keinen Zweifel an seinem Zustand. Leana kniete sich zu ihm hinunter, hielt ihre Hände über seinen Körper, als würde sie tief in sein Inneres blicken.

»Er wird es schaffen«, sagte sie schließlich, nach einem tiefen Atemzug. »Das Bein sieht schlimm aus. Ich kann es nicht vollends heilen, aber ich kann den Heilungsprozess beschleunigen.«

»Tu das«, befahl Evan ohne zu zögern. »Wir müssen sie hier rausbringen, bevor das Biest zurückkehrt.«

»Emilia!«, rief Albert plötzlich, seine Stimme zitterte vor Verzweiflung. »Meine Tochter! Sie ist noch da draußen, in diesem Ding gefangen!«

Evan sah ihn hart an. »Das wissen wir«, sagte er kalt. »Aber viel von ihr ist nicht mehr übrig in dieser Bestie.«

»Hör auf, so über meine Tochter zu reden!« Alberts Schrei hallte durch die Höhle, doch die Wut ließ seine Schmerzen nur noch unerträglicher werden, und er sank auf die Knie, keuchend vor Anstrengung.

»Sie ist noch da«, fügte er gepresst hinzu. »Ich habe sie erkannt… und sie hat mich erkannt.«

Evan runzelte die Stirn, sein Gesichtsausdruck verriet tiefe Zweifel. »Sie hat euch erkannt?« Seine Stimme klang fast ungläubig.

»Ja«, flüsterte Albert. »Sie hat zu mir gesprochen… sie ist noch nicht verloren.«

Evan zögerte, seine Augen verengten sich, als er die Worte des Müllers abwog. Leana jedoch nickte leise, ihre Augen funkelten nachdenklich.

»Es ergibt Sinn«, sagte sie schließlich. »Die Harpyie hat all ihre anderen Opfer ohne Zögern getötet, aber sowohl ihr Vater als auch Jakob leben noch. Wenn noch etwas von Emilia in ihr steckt, dann haben wir eine Chance, den Fluch zu brechen. Vor allem, wenn Jakob lebt. Zusammen mit Nella könnte er der Schlüssel sein.«

»Nella?« Albert sah sie verwirrt an, doch in diesem Moment tauchte eben jene Nella auf. Neben ihr stand Leuven, der sichtlich aufgewühlt und völlig außer Atem war.

Hektisch wedelte Leuven mit den Armen. »Wir haben ein kleines Problemchen.«

»Sag schon, was los ist«, knurrte Evan ungeduldig.

Leuven deutete nach oben, seine Stimme zitterte leicht. »Sie scheint nach Hause zu kommen. Sie zieht gerade ihre Kreise über uns.«

Evan warf einen schnellen Blick zu Leana. »Wir sitzen hier wie auf einem Präsentierteller. Wir sollten uns beeilen.«

Leana nickte zustimmend, ihre Augen huschten nervös von einem zum anderen. »Du musst aber Jakob nehmen. Er kann nicht allein laufen.«

Evan schnaubte, doch nach einem kurzen Moment des Zögerns willigte er ein.

Mit einem ruppigen Ruck half er dem jungen Mann auf die Beine.

Jakob stöhnte vor Schmerzen, wirkte aber wie in Trance. Er war kaum bei Bewusstsein, schaffte es jedoch, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während Evan ihn stützte.

Nella sagte kein Wort. Ihr Gesicht war starr vor Schock, als sie ihn lebend sah.

Alberts Gesicht hingegen war von finsterer Überraschung gezeichnet, als er Nella erblickte.

»Was tust du hier?« Seine Stimme war scharf wie ein Messer, als er die junge Frau mit einem bösen Blick fixierte.

»Ich… ich hatte gehofft, dass ihr noch am Leben seid«, stammelte Nella, ihre Augen suchten vergeblich nach einer Antwort in Alberts hasserfülltem Blick.

»Das soll ich dir glauben?«, fauchte der Müller, seine Zähne gebleckt.

»Das könnt ihr später klären«, schnitt Evan ihm das Wort ab, während er mit dem verletzten Jakob unter dem Arm an den beiden vorbeiging. »Wir müssen hier raus.«

Der Müller starrte Nella noch einen Moment an, seine Augen voller Groll, bevor er demonstrativ seine Axt aus dem Dreck hob und humpelnd hinter Evan herging.

Kaum hatten sie den Höhlenausgang erreicht, durchbrachen markerschütternde Schreie die Umgebung.

Über ihnen kreiste die Harpyie, ihr wütendes Kreischen hallte durch den Wald und ließ die Luft um sie herum erzittern.

»Ich hoffe, wir haben einen weiteren Plan, falls das hier schiefgeht«, murmelte Leuven, seine Augen weit vor Angst.

Leana schüttelte den Kopf, ihr Gesicht war entschlossen. »Den werden wir nicht brauchen. Nella und Jakob sind der Schlüssel. Den Göttern sei Dank hat Jakob überlebt. Beide zusammen können das Ritual brechen.«

»Ritual?« Alberts Augen weiteten sich vor Überraschung. »Was für ein Ritual?«

Evan antwortete. »Kurz gesagt, Nella und euer lieber Fastschwiegersohn haben dieses Dilemma verursacht.«

»Was!?« Alberts Gesicht verzerrte sich. Trotz seiner Schmerzen hob er drohend seine Axt und richtete sie auf Nella. »Du hast meine Emilia in dieses Monster verwandelt?«

Nella trat einige Schritte zurück, ihre Augen füllten sich mit Angst. »Ich… ich…«

»Und du!« Alberts Stimme überschlug sich vor Wut, als er Jakob anstarrte, der noch immer benommen an Evan lehnte. »Ihr habt euch geliebt! Wie konntest du ihr so etwas antun?«

Leana trat hastig zwischen die beiden. »Beruhigt euch!«, versuchte sie beschwichtigend. »Kurz gesagt, Nella und Jakob waren ein Paar. Emilia stand ihrer jungen Liebe im Weg. Das erklärt zwar ihre Tat, aber gutheißen kann man das natürlich nicht.«

»Ein Paar?« Alberts Stimme war voller Unglauben, als er den Kopf schüttelte. »Sie waren nie ein Paar. Emilia und Jakob sind seit Kindertagen unzertrennlich! Nella ist nur die Tochter des Dorfsäufers. Die hat in ihrem Leben nichts zustande gebracht.«

Leanas Augen weiteten sich vor Schock. »Was redest du da?« Sie drehte sich zu Nella um, ihre Stimme bebte. »Nella war doch immer ein liebes Mädchen.«

Albert knurrte verächtlich. »Mag sein, aber sie hat nichts auf die Reihe bekommen.« Er spuckte auf den Boden, seine Verachtung war unverkennbar. »Genau wie ihr Vater.«

Die Blicke der Gruppe ruhten nun auf Nella, die nervös und schuldbewusst in die Augen der anderen blickte.

Sie machte einen weiteren Schritt zurück, ihre Augen weit aufgerissen, als ob sie nach einer Fluchtmöglichkeit suchte. Ihre Lippen bebten, doch kein Ton kam heraus.

Jakob hingegen hob seinen Kopf, seine Lippen formten stumme Worte, ehe er schließlich flüsterte: »Wir waren… kein Paar.«

Die Luft war gespannt, als alle auf Nellas Antwort warteten.

»Was hast du getan?« Leanas Stimme klang wie ein scharfes Messer, gespickt mit einer Mischung aus Erschrockenheit und Zweifel.

Nella stammelte, während sie noch einen weiteren Schritt nach hinten trat. »Ich… ich…«

Albert, der immer noch von Zorn getrieben war, fletschte die Zähne. »Raus mit der Sprache, du Miststück!«, bellte er und richtete erneut seine Axt drohend in die Richtung der jungen Frau.

Doch bevor er etwas Unüberlegtes tun konnte, stellte sich Leana zwischen die beiden, ihre Augen funkelten entschlossen. »Lasst das arme Mädchen erst einmal reden! Rohe Gewalt und Beleidigungen bringen uns nicht weiter.«

Albert funkelte sie an, seine Finger umklammerten den Griff seiner Axt. »Sie hat etwas mit meiner Tochter gemacht, und ich will wissen, was es war!«

»Gib ihr einen Moment zum Atmen!« Leana wich nicht zurück, ihre Entschlossenheit war ungebrochen.

Die beiden sahen sich finster an, ein stiller Kampf der Willensstärke entbrannte zwischen ihnen, bis Leuven sich nervös einmischte. »Ich will euch ja nicht stören, aber falls ihr es vergessen habt: Emilia kreist immer noch über uns, und vielleicht sollten wir… etwas unternehmen?«

Leana atmete tief durch und löste den Blick von Albert. »Du hast recht, wir sollten uns beeilen. Aber zuerst müssen wir Emilia aus der Luft holen. Evan, ich brauche deine Hilfe. Du musst sie ablenken, und ich werde versuchen, sie mit meiner Magie zu bannen, während Nella das Ritual vollzieht.«

Evan zog eine Augenbraue hoch, seine Stimme war gereizt. »Ich soll sie ablenken? Das ist doch ein Scherz.«

Leana hob eine Augenbraue und konterte: »Du hast genügend Erfahrung mit Monstern jeglicher Art. Hast du eine bessere Idee?«

Bevor Evan antworten konnte, meldete sich Albert. »Ich werde es machen. Es ist schließlich meine Tochter.«

Leana zögerte, doch sie schüttelte schließlich den Kopf. »Dass sie euch noch am Leben gelassen hat, ist zwar ein gutes Zeichen, aber der Fluch verwandelt sie mehr und mehr in eine Bestie. Wir wissen nicht, wie viel Menschlichkeit noch in ihr steckt. Es ist besser, wenn ihr euch zurückhaltet.«

Albert starrte finster, aber er sagte nichts mehr.

»Gut, sind alle bereit?«, fragte Leana und ließ ihren Blick durch die Runde schweifen. Dann wandte sie sich an Nella. »Es ist nicht einfach, das weiß ich. Aber auf dich kommt es jetzt an. Du musst dich konzentrieren und darfst keine Angst haben.«

Doch Nella wich noch einen Schritt zurück, ihr Kopf schüttelte sich wie in einem unkontrollierten Reflex. »Nein, ich kann das nicht.«

Leana trat einen Schritt näher, ihre Stimme drängend. »Nella, du musst! Ohne dich schaffen wir das nicht.«

Plötzlich stoppte Nella, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ihr Gesicht verzog sich in eine hässliche Fratze. »Nein. Diese Schlampe hat genau das bekommen, was sie verdient hat.«

Ungläubige Blicke trafen sie von allen Seiten. Die Stimmung kippte augenblicklich.

»Seht ihr!«, polterte Albert, seine Zähne knirschten vor Wut und Schmerz. »Ich habe doch gesagt, dass sie ein Miststück ist. Spuck’s endlich aus! Was hast du getan?«

Nella setzte ein diabolisches Lächeln auf, ihre Augen funkelten bösartig. »Ihr habt ja keine Ahnung. Ich bin hier nicht das Miststück. Das ist Emilia.«

Leanas Gesicht wurde kreidebleich, die Enttäuschung war deutlich zu sehen.

Sie hatte Nella geglaubt, an ihre Reue. Jetzt stand sie da, entsetzt und verloren.

Evan hingegen fühlte sich nun in seinem Misstrauen bestätigt.

»Aber du hast doch gesagt…« begann Leana, die Enttäuschung in ihrer Stimme deutlich spürbar. »Du sagtest, du und Jakob wärt ein Paar. Was ist denn nun die Wahrheit?«

»Die Wahrheit?« Nella schaute sie zähneknirschend an, ihre Augen voller Bitterkeit. »Die Wahrheit ist, dass Emilia bekommen hat, was sie verdient hat. Innerlich war sie schon immer hässlich, nun kann es jeder sehen.«

Evan unterbrach ungeduldig: »Komm endlich zur Sache. Sonst bringt uns das eine Biest gleich um.«

»Sie hat mich verspottet, schon immer hat sie mich lächerlich gemacht«, brach es aus Nella heraus. »Sie hat mich jahrelang schikaniert, mir Haare ausgerissen, mich und meinen Vater zutiefst beleidigt.«

Tränen rannen ihr über die Wangen. »Ich habe ihr nichts getan, aber sie konnte nicht von mir ablassen!«

»Dein Vater war ein Taugenichts. Kein Wunder, dass deine Mutter ihn verlassen hat. Ohne ihn ist sie besser dran!«, warf Albert scharf ein, ohne auf ihre Tränen zu achten.

Leana wollte ihn gerade zurechtweisen, doch Nella sprach erneut, diesmal schärfer: »Ach ja? Ich wette, du weißt nicht einmal, dass er tot ist.«

Albert verstummte, seine Augen weiteten sich für einen Moment. Er stammelte: »Er… er ist tot?«

»Schon seit Wochen«, sagte Nella bitter. »Und niemand im Dorf hat es gekümmert. Für euch war er ja nur ein Säufer. Aber niemand hat sich die Mühe gemacht herauszufinden, wer er wirklich war. Niemand, außer mir!«

Leana versuchte, ihre Stimme beruhigend klingen zu lassen. »Es tut mir schrecklich leid, Nella. Aber wir müssen den Fluch von Emilia lösen, sonst sind wir und das ganze Dorf verloren.«

»Das Dorf ist schon lange dem Untergang geweiht!«, fauchte Nella. »Sie haben meinen Vater und mich verspottet, aber was ist mit den anderen? Was ist mit dir, Albert?« Sie fixierte den Müller mit eisigem Blick.

»Was soll mit mir sein?« Albert wirkte nervös, versuchte aber, es zu verbergen.

»Wusste deine Frau, als sie auf dem Sterbebett lag, dass du es mit der Frau vom Hufschmied getrieben hast? Oder mit der Nachbarin?«

»Du kleines, verlogenes Biest!«, brüllte Albert, als er wutentbrannt mit erhobener Axt auf Nella losging. »Ich stopf dir das dreckige Maul!«

Doch plötzlich blieb er stehen, als wäre er versteinert. Es war kein Schock, der ihn lähmte, sondern etwas Übernatürliches. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Ein blaues Licht glomm auf, ausgehend von Leanas Ring. Die magische Aura hielt Albert fest in ihrem Griff.

»Keiner von uns ist ohne Schuld«, sagte Leana mit ernster und ebenso enttäuschter Stimme. »Aber wir können aus unseren Fehlern lernen und Verantwortung übernehmen.«

Die Anwesenden schwiegen, gebannt von ihren Worten.

»Albert, hör auf, mit Drohungen um dich zu werfen. Denk an deine Tochter. Wir haben noch eine Chance, sie zu retten. Und du, Nella… ich spüre deinen Schmerz. Aber in diesem Moment musst du über deinen eigenen Schatten springen. Nur gemeinsam können wir diesen Schrecken beenden.«

Leana ließ den Bann um Albert los. Seine Muskeln erschlafften, die Axt fiel mit einem dumpfen Klirren zu Boden. Er selbst sank auf die Knie, Tränen strömten über sein Gesicht.

»Ich will doch nur meine Tochter zurück!«, schluchzte er. »Bringt mir meine Emilia zurück…«

Leana sah Nella eindringlich an. »Bitte… hilf uns.«

Für einen Moment herrschte eine angespannte Stille. Dann seufzte Nella und sagte kalt: »Nein.«

Die Überraschung stand allen ins Gesicht geschrieben.

»Diese Schlampe hat genau das bekommen, was sie verdient hat. Es gibt für mich keinen Grund, sie zu retten. Endlich sehen alle, wie sie wirklich ist, endlich gleicht ihr Äußeres auch ihrem Inneren.«

Evan trat vor, seine Stimme ruhig, aber angespannt. »War es das für dich wert?«

Während des Streits war es keinem aufgefallen, doch Emilia war verstummt.

Die grotesken Schreie, die eben noch über ihnen hallten, waren verklungen.

Stattdessen hörten sie nur noch das Rascheln der Bäume und ein unheimliches, sich wiederholendes Flügelschlagen.

Evan übergab den schwer verletzten Jakob an Leuven, der sichtlich Mühe hatte, ihn zu halten, ohne selbst zu straucheln.

»Was hast du vor?«, fragte Leana besorgt.

»Wenn wir das überleben wollen, bleibt uns keine Wahl. Du hattest deine Chance, jetzt machen wir es auf meine Weise«, erwiderte Evan kühl.

»Auf seine Weise?«, wiederholte Albert, sichtlich nervös. »Was soll das heißen?«

Leuven, der noch immer gegen das Gewicht von Jakob ankämpfte, konnte sich ein trockenes Lächeln nicht verkneifen. »In der Regel nichts Gutes. Wir sollten uns darauf einstellen, dass er den halben Wald niederbrennen könnte. Mit Feuer hat er gerade so seine Probleme.«

Leana folgte dem Halbdämon, ihre Schritte hastig und entschlossen. »Das war nicht der Plan!«

Dieser hielt inne, warf ihr einen stechenden Blick zu. »Ich lasse mich sicher nicht von diesem Monster umbringen, nur weil wir in ein Nest voller Narren gestolpert sind.«

»Narren?«, fragte Leana, ihre Augen schmal. Ihr Ton forderte eine Antwort.

»Du weißt, was ich meine. Hilf mir oder lass es sein, aber die Zeit für Diskussionen ist vorbei«, sagte er und zog sein Schwert mit einem metallischen Zischen aus der Scheide heraus.

Das Flügelschlagen wurde lauter, kam dichter.

Evan konnte jetzt genau ausmachen, wo sich Emilia befand.

Vor der Höhle erblickte er sie: ruhig, in der Luft schwebend, ihre Flügel schlugen im gleichmäßigen Rhythmus des Windes. Für einen Augenblick sah sie unantastbar aus.

Ihre Augen trafen die seinen, beide blickten sich voller Bedrohung und doch mit einer Art gelassener Entschlossenheit an.

Dann stieß Emilia einen schrillen, markerschütternden Schrei aus und schoss wie ein Pfeil auf Evan zu.

Er konnte ihr gerade noch rechtzeitig ausweichen, landete jedoch unsanft auf dem Waldboden.

»Verdammt!«, knurrte er, als er sich aufrappelte.

Diese Geschwindigkeit hatte er nicht erwartet.

Zwar erinnerte er sich gut an ihren Angriff in der vergangenen Nacht, aber dort hatte sie offenbar nicht ihre volle Kraft eingesetzt.

Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, denn die Harpyie griff erneut an.

Ihre scharfen Krallen zielten direkt auf ihn.

Mit einer Rolle entkam Evan diesem nur knapp.

Er sprang auf, seine Augen fixierten jede Bewegung der Bestie, aber selbst seine geschärften Sinne konnten mit ihrer Geschwindigkeit kaum mithalten.

Ein gezielter Flügelschlag erwischte ihn und warf ihn erneut zu Boden.

Für einen Sekundenbruchteil war er wehrlos.

Die Krallen der Harpyie blitzten im Sonnenlicht auf; sie näherten sich seinem Gesicht.

Das hätte sein Ende sein können, wenn nicht etwas Unerwartetes geschehen wäre.

Plötzlich schien Emilia wie gefangen; ihre Bewegungen wurden abrupt gestoppt, als wäre sie in einem unsichtbaren Käfig gefangen. Verwirrt beobachtete Evan, wie die Kreatur über ihm hin und her zappelte.

Er wusste, wem er das zu verdanken hatte. Sein Blick wanderte zur Höhle.

Leana stand dort, beide Arme nach vorn gestreckt. In ihrem Gesicht zeichnete sich die Anstrengung ab. Der Schweiß tropfte ihr von der Stirn.

»Danke!«, rief Evan ihr zu, als er hastig aufsprang.

»Ich kann sie nur für einen Moment halten«, rief sie keuchend. »Ihre Kraft ist enorm!«

»Das reicht mir«, antwortete Evan entschlossen.

Noch lebte er und war bereit, zum Gegenangriff überzugehen.

Doch Emilia ließ sich nicht so leicht in Schach halten.

Mit einem kräftigen Flügelschlag erhob sie sich in die Lüfte; Evans Schwerthieb ging ins Leere.

Leana versuchte es erneut mit einem Zauber.

Diesmal schleuderte sie einen Windstoß auf die Harpyie, doch diese wich mühelos aus.

In der Nähe lehnte Leuven Jakob behutsam gegen die Höhlenwand und wandte sich an Nella, die abseits stand, voller Bitterkeit.

»Hör mal«, begann er vorsichtig.

Nella schaute ihn gekränkt an. »Ich schulde niemandem etwas.«

»Das stimmt nicht ganz«, sagte Leuven ruhig. »Du schuldest es dir selbst.«

»Mir?«, sie verzog das Gesicht und schaute trotzig weg. »Was schulde ich mir schon? Sieh sie dir an. Für mich war sie schon immer ein Monster. Jetzt kann es jeder sehen. Das ist das einzige, was ich mir schuldig war, jedem zu zeigen, wer sie wirklich ist.«

»Das glaube ich dir«, sagte Leuven sanft. »Aber wie viele Unschuldige mussten bereits sterben? Welchen Sinn hat das alles? Du willst Emilia bestrafen, aber du bestrafst Menschen, die nichts damit zu tun haben.«

Für einen Moment huschte so etwas wie Reue über Nellas Gesicht, aber sie verwandelte es schnell wieder in den trotzigen Blick eines Kindes. »Es ist mir egal. Es ist mir auch egal, ob ich heute sterbe. Sie alle haben mein Leben zerstört; sollen sie sehen, wie ihres in Flammen aufgeht.«

»Du kennst den Schmerz«, fuhr Leuven fort. »Ich weiß, wie es sich anfühlt, allein zu sein. Aber deswegen gebe ich nicht auf. Vor ein paar Wochen hätte ich beinahe mein Leben verloren, und dann tauchte Evan auf und rettete mich, aus dem Nichts.«

»Und jetzt denkst du, er kann auch mich retten?«, fragte sie spöttisch.

»Nein. Wirklich, nein. Es war eher ein Zufall, dass wir aufeinandergestoßen sind«, der junge Kaufmann überlegte kurz. »Es war tatsächlich ein Zufall. Aber Evan gibt alles für Menschen, die er nicht kennt, und das, obwohl er nach außen hin so tut, als wären ihm alle egal. Und weißt du, wer noch hier ist? Jemand, der immer das Gute in dir gesehen hat?«

Nella sah ihn mit interessierten Augen an.

»Na, Leana!«, sagte er, als wäre es offensichtlich. »Sie hat sich für dich eingesetzt, und jetzt willst du sie sterben lassen? Schau sie dir an. Sie wird nicht mehr lange durchhalten, wenn wir nicht schnell handeln.«

Nellas Gesichtsausdruck wandelte sich in leichte Besorgnis, als sie die Zauberin und den Halbdämon beobachtete, die verzweifelt gegen die Harpyie kämpften.

»Nella«, sagte Albert mit schmerzerfüllter Stimme, als er sich unter Schmerzen aufrichtete. »Es tut mir leid, wie wir dich und deinen Vater behandelt haben. Du kennst den Schmerz, den solch ein Verlust verursachen kann. Bitte hilf uns.«

Sein Zorn wandelte sich in pure Verzweiflung.

Währenddessen kämpften Evan und Leana einen erbitterten Kampf gegen die Harpyie.

»Ich kann nicht mehr lange!«, stöhnte die junge Zauberin. Ihr Ring begann zu leuchten, während Emilia sich in der Luft wand. Sie stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus.

Evan musste sich eingestehen, dass alle seine Angriffe vergeblich waren. Jedes Mal, wenn er zuschlug, stieg die Harpyie wieder in die Lüfte.

Sein Blick fiel auf den Dolch, den er an seinem Stiefelschaft trug.

Der Dolch aus Obsidian, der ihm geholfen hatte, den Hintz auf der Burg Haren zu besiegen.

Er zögerte. Dieser Dolch entfesselte sein volles dämonisches Potenzial, kostete ihn aber auch Lebenskraft.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Leana und fiel zu Boden. »Ich habe keine Kraft mehr.«

Keuchend beobachtete sie, wie sich der Bann um Emilia löste und die Harpyie ihre gewaltigen Schwingen ausbreitete.

Mit bedrohlichem Blick richtete sich ihr Fokus auf die Zauberin.

Kreischend stürzte sie sich auf Leana.

Doch plötzlich durchbrach ein schmerzerfüllter Schrei die Luft.

Evan und Leana sahen entsetzt zu, wie die Harpyie auf den Boden fiel und sich hin und her wand.

Dann erkannten sie, was geschehen war.

Nella trat langsam auf die Harpyie zu, in ihrer Hand die leuchtend rote Feder, die wie ein blutrotes Herz pulsierte.

»Ares la turnas!«, rief sie mit dröhnender Stimme, gefolgt von weiteren Worten, die wie ein uralter Zauber durch die Luft schwebten.

Leana hielt den Atem an; ihr Herz raste vor Erleichterung und Staunen.

Nella hatte sich entschieden, ihnen zu helfen.

Mit jedem Schritt, den Nella näher kam, erstrahlte die Feder in einem blendenden Licht, und Emilia krümmte sich verzweifelt auf dem Boden, als würde der Fluch sie mit letzten Zügen festhalten.

Die Schreie, die zuvor durch Mark und Bein gingen, wurden leiser und leiser, bis sie schließlich verstummten.

Emilia, eben noch die gefürchtete Harpyie, begann sich zurückzuverwandeln.

Ihr Körper wurde von einem strahlenden Licht umhüllt, während sich ihre scharfen Klauen und gewaltigen Flügel zurückzogen.

Der Schrecken wich, und in der Stille erblühte die Menschlichkeit in ihr.

Leana sprang auf und eilte zu Emilia, die in ihre ursprüngliche Gestalt zurückkehrte.

»Bei den Göttern, geht es dir gut?«, fragte sie die junge Frau mit dem langen, blonden Haar, die zitternd am Boden lag.

Nella verstummte, ließ die Feder fallen und trat zurück.

Weinend und schluchzend setzte sich Emilia auf.

Erleichtert umarmte Leana sie. »Alles ist gut. Du bist wieder da.«

Albert kam hastig heran, vergaß seine Schmerzen und ließ die Axt fallen, um seine Tochter in die Arme zu schließen. »Emilia, du lebst!«

Evan konnte es kaum glauben. Leana hatte tatsächlich recht – der Fluch konnte gebrochen werden.

Doch auf einmal durchschnitt ein schriller Schrei die Luft.

Aufgeschreckt wandten sich die Blicke der Gruppe zu Nella, die sich beide Hände an den Kopf hielt und auf die Knie sank.

»Verdammt«, fluchte Leana, ließ von Emilia ab und sprintete zu der jungen Frau.

Auf Evans lautstarkes »Warte!« reagierte sie nicht.

Nellas Gliedmaßen zuckten unkontrolliert, ihr Körper krümmte sich in einem verzweifelten Kampf gegen die schrecklichen Schmerzen.

Aus ihren Armen sprossen lange, gefiederte Schwingen, und ihre Füße verwandelten sich in spitze Klauen – alles unter qualvollen Schreien.

»Nein, das kann nicht sein! Das kann einfach nicht wahr sein«, sagte Leana geschockt, als sie Nella erreichte.

Verzweifelt schaute sie Evan an. »Sie hat alles richtig gemacht. Der Fluch sollte gelöst sein!«

»Und hat sich nun ein neues Opfer gesucht«, gab der Halbdämon mit trockener Stimme zurück, die Emotionen hinter einer Maske verborgen.

Leana war fassungslos. Sie hatte fest daran geglaubt, dass der Umkehrungszauber wirken würde.

Evan sprintete los, das Schwert fest in der Hand.

Er wollte Nellas Leiden beenden, bevor sie zur tödlichen Gefahr werden konnte.

Es war zu spät.

Mit einem kreischenden Schrei breitete sie ihre Schwingen aus und stieß den Halbdämon zu Boden, bevor sie sich in die Luft erhob.

Ein paar Male kreiste sie über den Köpfen der Gruppe, dann nahm sie ihr erstes Ziel ins Visier.

Mit ihren scharfen Klauen voran setzte Nella zum Sturzflug an.

Erschrocken blickte Emilia zum Himmel, gelähmt von einer tiefen Angst.

Im letzten Moment stieß ihr Vater sie mit aller Kraft zur Seite, ein verzweifelter Akt, um ihr Leben zu retten – doch er selbst wurde nun zum Ziel des Angriffs.

»Nein!«, schrie Emilia. Die Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu, als sie sah, wie sich die langen, scharfen Klauen wie Messer in Alberts Körper bohrten.

Ein kurzer, quälender Schrei entrang sich seinen Lippen, doch er verstummte bald darauf.

Das Echo seines Schmerzes verhallte in der Stille des Augenblicks.

Einige Meter riss Nella den leblosen Körper mit sich, als wäre er nichts weiter als eine Puppe, ehe sie ihn in den Dreck fallen ließ.

Die Bestie erhob sich erneut in die Lüfte, wie ein unheimlicher Schatten am Himmel.

»Vater!«, schrie Emilia, ihre Stimme brüchig, während sie verzweifelt zu ihm rannte. »Was hast du getan?«

Leana sammelte all ihre verbleibende Kraft, visierte Nella mit ihren Händen an und sprach flüsternd einen Zauber.

Kurz konnte sie die Harpyie in ihren unsichtbaren Bann ziehen, doch schon einen Wimpernschlag später brach Nella aus der magischen Umklammerung, zog erneut ihre Kreise in der Luft und stürzte sich wieder auf Emilia.

Die Zauberin versuchte verzweifelt, einen weiteren Zauber zu wirken, doch das Leuchten ihres Rings erlosch, als sie die Harpyie auf die junge Frau zurasen sah.

Sie hatte keine Kraft mehr, um sich weiter gegen diesen mächtigen Fluch zu wehren.

Emilia kniete über dem Körper ihres Vaters, weinend und gebrochen, unfähig zu reagieren.

Doch in letzter Sekunde verfehlte Nella ihr Ziel.

Ein Schrei voller Schmerz entrang sich ihrer Kehle, während Blut spritzte und sie mit einem Knall auf dem Boden landete.

Verwirrte Blicke trafen sich in der Gruppe.

Die Harpyie lag regungslos auf dem Waldboden, nur ihre Gliedmaßen zuckten unkontrolliert.

Leana blickte sich irritiert um und erkannte Evan unweit von sich, seinen Arm in Richtung der Harpyie gestreckt.

Er hatte seinen Worten Taten folgen lassen und die Sache auf seine Art zu Ende gebracht.

Leana rannte verzweifelt zu Nella, die in der grotesken Fratze der Harpyie gefangen war, die nur noch schwach an die junge Frau erinnerte.

Tief in ihrer Brust steckte die Klinge von Alberts Axt.

Erschrocken beobachtete Leana, wie Evan die Axt mit einer schnellen Bewegung aus dem leblosen Körper zog.

Wortlos sahen sie sich in die Augen, Kälte spiegelte sich in Evans Blick.

»Ich weiß, was du sagen willst, aber ich hatte keine andere Wahl«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen.

»Es gibt immer eine andere Wahl«, schluchzte die Zauberin, der Schmerz in ihrer Stimme greifbar.

»Das wäre unser Tod gewesen.« Der Halbdämon betrachtete kurz die Axt, dann ließ er Leana allein.

Weiterhin kniete Emilia über dem Leichnam ihres Vaters. Sie blickte nur kurz erschrocken zu Nella hinüber.

Sie zitterte am ganzen Körper, der Kummer schloss sie ein wie ein dunkler Schleier.

Als sie aufblickte, sah sie Leuven, der mit aller Kraft versuchte, den verletzten Jakob aufrecht zu halten.

Ein Strahl heller Erleichterung durchfuhr Emilia auf einmal. Ihr Geliebter war am Leben!

»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, schluchzte sie und sprang in seine Arme.

Leuven verlor das Gleichgewicht und fiel dabei unsanft zu Boden.

Jakob kämpfte, um sich zu halten, doch als er sah, dass Emilia bei ihm war, schien auch sein Schmerz zu schwinden.

»Ich habe dich endlich gefunden«, stammelte er und biss sich auf die Lippen, als der Schmerz durch sein Bein zog.

Leuven beobachtete die beiden mit einem missgünstigen Blick.

»Na, die haben sich aber schnell gefangen«, schimpfte er leise.

Er bemerkte erst danach, dass Evan hinter ihm stand. Auch er schien mit dem Ausgang der Lage nicht vollends zufrieden.

Er reichte Leuven die Hand und half ihm wieder auf die Beine.

»Was erwartest du? Immerhin haben sich die Liebenden wiedergefunden«, sagte der Halbdämon schließlich, und ein Hauch von Sarkasmus schwang in seinen Worten mit.

»Nun«, fügte er an. »Wir haben alles getan, was wir konnten. Wir sollten uns wieder auf den Weg machen.«

Da war er wieder, der kalte Halbdämon, den Leuven nicht vermisst hatte, auf den er jedoch in gewisser Weise gewartet hatte.

Leuven schaute sich um.

Es war ein groteskes Bild. Auf der einen Seite die beiden Liebenden, die eng umschlungen ihr Wiedersehen genossen, auf der anderen die Opfer, Albert und Nella, deren Leben jäh beendet wurden.

Dann war da noch Leana, die sich selbst die Schuld dafür gab, dass der Fluch nicht gebrochen, sondern nur weitergegeben worden war.

Obwohl Leuven erahnen konnte, was in ihr vor sich ging, wollte er nicht länger in diesem Wald verweilen.

Die Zauberin kniete noch immer vor Nella, deren entstellter Körper reglos am Boden lag.

Ihre Hände zitterten, der Schweiß mischte sich mit den Tränen, die über ihre Wangen liefen.

Das Gefühl des Versagens drückte schwer auf ihrer Brust.

Sie hatte geglaubt, alles richtig gemacht zu haben – doch jetzt lag Nella tot vor ihr.

Der Fluch war nicht gebrochen, sondern hatte nur einen neuen Wirt gefunden, und die junge Frau hatte mit ihrem Leben bezahlt.

Evan trat leise hinter Leana. »Es ist Zeit zu gehen,« sagte er mit ernster Stimme.

Die Zauberin hob den Kopf nur leicht und sah ihn aus halb geschlossenen Augen an.

Für einen Moment schien es, als wolle sie widersprechen, doch dann wandte sich ihr Blick finster zu Jakob und Emilia, die sich freudestrahlend in den Armen lagen.

Ihre Erleichterung, sich wiedergefunden zu haben, stand in starkem Kontrast zu der Trauer, die Leana empfand.

»Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen. Wir müssen sie zumindest begraben,« flüsterte Leana, ihre Stimme brüchig, als sie wieder auf Nella herabschaute.

Evan sah sie an, seine Augen kalt und berechnend. »Und wie genau willst du das machen? Hast du eine Schaufel dabei?«

Leana biss die Zähne zusammen, ihre Augen glitzerten vor aufgestauter Wut und Trauer. »Nein.«

Eine bedrückende Stille senkte sich über die beiden. Der Wind raschelte durch die Bäume, und die Sonne warf lange Schatten über den Wald.

Leana überlegte.

Ihr Blick wanderte umher, suchte nach einer Lösung, nach einer Möglichkeit, Nella die letzte Ehre zu erweisen.

Dann fiel ihr Blick auf die Höhle in der Nähe, die Höhle, aus der sie Albert und Jakob befreit hatten.

»Dort,« murmelte sie leise, fast zu sich selbst. »Dort soll sie ihre letzte Ruhe finden.«

Evan folgte ihrem Blick zur Höhle, sagte jedoch nichts.

Schließlich nickte er knapp. »Wie du willst.«

Evan trat einen Schritt zurück und sah in Richtung Leuven.

Mit einer knappen Handbewegung winkte er ihn zu sich heran.

»Leuven, hilf mir,« sagte er ruhig.

Leuven eilte herbei, seine Augen weit vor Erschöpfung, doch ohne zu zögern half er Evan, den leblosen Körper der Harpyie vorsichtig anzuheben.

Gemeinsam hoben sie Nella auf, um sie in Richtung der Höhle zu tragen, die Leana als letzte Ruhestätte auserkoren hatte.

Doch plötzlich brach Emilia aus ihrer Umarmung mit Jakob los.

Ihre Augen glühten vor Zorn.

»Was tut ihr da?« schrie sie, ihre Stimme bebend vor Wut und Unverständnis. »Wieso sollte diese Kreatur eine Bestattung verdienen? Sie hat mich verflucht, mein Leben wollte sie zerstören! Ihr Tod ist nichts weiter als die gerechte Strafe für das, was sie mir angetan hat.«

Evan hielt inne und drehte sich langsam zu ihr um.

»Es spielt keine Rolle, wer sie war,« sagte er kühl. »Sie wird ihre letzte Ruhe finden.«

Emilia funkelte ihn an, ihre Hände zu Fäusten geballt. »Und mein Vater? Er ist auch tot! Hat er etwa keine würdige Bestattung verdient?« Ihre Stimme zitterte vor Anklage, als sie zwischen Evan und Leana hin und her blickte, verzweifelt auf eine Reaktion wartend.

Evan hob eine Augenbraue und sah sie mit seinem typischen emotionslosen Blick an. »Wir bringen euch ins Dorf zurück. Was ihr dann macht, kümmert mich nicht.«

Leana trat langsam vor, ihre Augen fest auf Emilia gerichtet. Ihr Gesicht war dunkel vor unterdrückter Wut und tiefer Enttäuschung.

»Vielleicht wäre das alles nicht passiert,« begann sie leise, doch jedes Wort war wie ein Dolchstoß, »wenn du Nella nicht so behandelt hättest, wie du es getan hast. Du bist auch nicht unschuldig. Deine Grausamkeit hat zu dieser Tragödie geführt.«

Emilia blinzelte überrascht und wich einen Schritt zurück, ihre Wut verwandelte sich in Unglauben.

»Ich war immer fair zu Nella,« behauptete sie trotzig. »Wenn sie sich so seltsam verhalten hat, war das ihre eigene Schuld. Sie war schon immer ein merkwürdiges Mädchen.«

Leana trat einen Schritt näher, ihre Augen blitzten vor unterdrücktem Zorn. »Fair?« Ihre Stimme war leise, doch voller Schärfe. »Ein wenig Menschlichkeit hätte genügt. Dann hätte sie den Fluch nicht als einzigen Ausweg gesehen.«

Während sich die Spannung zwischen den beiden Frauen verdichtete, schienen Evan und Leuven unbeirrt.

Sie trugen Nellas leblosen Körper in Richtung der Höhle, konzentriert und wortlos, ihre Schritte schwer von der Last, die sie trugen – nicht nur körperlich, sondern auch emotional.

Doch Emilia war nicht so leicht zu besänftigen. »Du hast keine Ahnung, Leana! Du weißt gar nicht, wie es im Dorf wirklich ist. Du kennst uns nicht und unsere Probleme auch nicht!«

Jakob legte eine Hand auf Emilias Schulter, versuchte, sie zu beruhigen. »Emilia, bitte…« murmelte er sanft, doch sie zuckte wütend mit den Schultern und trat einen Schritt von ihm weg.

»Und du!« fuhr sie fort und zeigte auf Leana. »Du hast doch selbst ein Geheimnis aus deiner Magie gemacht! Du schämst dich doch, eine Zauberin zu sein! Sonst hättest du es von Anfang an gesagt! Du versteckst dich hinter deiner Macht, weil du dich anders fühlst, nicht wahr?«

Die Worte hingen in der Luft, scharf wie Klingen. Leanas Miene veränderte sich nicht, doch in ihren Augen blitzte etwas auf – eine Mischung aus Schmerz und Wut.

Sie reagierte nicht auf Emilias Vorwürfe. Stattdessen zeigte sie mit einem kalten Blick auf Alberts leblosen Körper. »Ihr solltet euch besser überlegen, wie ihr ihn durch den Wald tragen wollt,« sagte sie schneidend, bevor sie sich umdrehte und in Richtung der Höhle ging, aus der Evan und Leuven gerade wieder herauskamen.

»Macht Platz,« zischte sie, als sie an ihnen vorbeischritt.

Leuven hob irritiert eine Augenbraue und sah Evan an. »Was ist denn in die gefahren?« murmelte er, doch Evan antwortete nicht. Stattdessen gab er Leana nur einen kurzen, bedeutungsschweren Blick und trat zur Seite.

Leuven zuckte mit den Schultern und folgte seinem Beispiel, beide entfernten sich ein Stück von der Höhle.

Leana blieb allein zurück und atmete tief durch, während ihre Hände zitterten. Doch sie konzentrierte sich.

Ihr Ring begann sanft, aber kraftvoll zu leuchten, als sie ihre Hände auf den Höhleneingang richtete.

Langsam spürte sie die Magie wieder in sich aufsteigen, fester und stärker werdend.

Der Boden unter ihren Füßen begann zu vibrieren, kleine Steinchen rollten den Hang hinab, und mit einem tiefen Grollen, das die Stille des Waldes zerriss, stürzte die Höhle vor ihr zusammen.

Der Eingang verschloss sich vollständig unter einer massiven Wand aus Felsen und Erde.

Leana senkte ihre Hände, während das Grollen verklang.

Nun fand Nella ihre letzte Ruhe, abgeschirmt von jenen, die sie einst verhöhnten.

Die Zauberin sagte kein Wort.

Ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, schritt sie an Evan und Leuven vorbei, ihr Gesicht war eine undurchdringliche Maske. Ihre Schritte trugen sie fest und zielgerichtet in Richtung des Waldes.

Jakob und Emilia schenkte sie keinerlei Beachtung, selbst als sie an ihnen vorbeikam, während die beiden heftig diskutierten.

»Wie sollen wir meinen Vater aus dem Wald rausschaffen?« erklang Emilias aufgebrachte Stimme.

Jakob versuchte, ruhig zu bleiben. »Wir könnten ins Dorf zurückgehen und ein paar Männer holen, dazu einen Karren. Damit bringen wir ihn ins Dorf.«

Doch Emilia war entsetzt. »Bis dahin reißen die wilden Tiere seinen Körper auseinander! Wir können ihn nicht einfach hier lassen!«

Leuven warf einen Blick in Richtung des streitenden Paares und dann zu Evan. Mit einem breiten Grinsen und großen Augen flüsterte er: »Man, da scheint sich ja eine harmonische Ehe anzubahnen.«

Evan, der selten auf solche Späße reagierte, schaute ihn an, und ein schwaches, kaum merkliches Schmunzeln huschte über sein Gesicht, bevor es wieder in seinen üblichen, finsteren Ausdruck zurückfiel.

Er ging wortlos an Jakob und Emilia vorbei, doch als er ihre hitzige Auseinandersetzung hörte, hielt er inne.

Sein düsterer Blick ruhte auf ihnen, und ihre Stimmen verstummten abrupt.

Ohne ein Wort zu verlieren, trat er an Alberts leblosen Körper heran, hob ihn mit scheinbarer Leichtigkeit auf seinen Rücken und setzte seinen Weg fort, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Jakob und Emilia sahen ihm verdutzt nach, unfähig, etwas zu sagen.

Leuven schlenderte an ihnen vorbei, warf einen flüchtigen Blick auf Evan und zuckte mit den Schultern. »So ist er halt,« murmelte er beiläufig und folgte dem Halbdämon in den Wald hinein.

Die Fahrt zurück ins Dorf verlief in angespannter Stille.

Leana saß mit verschränkten Armen im hinteren Teil des Wagens, starrte ins Leere und würdigte Jakob und Emilia keines Blickes.

Die beiden waren ungewöhnlich still. Ihr Unbehagen war merklich spürbar.

Obwohl es sich bei dem Leichnam vor ihnen, auf dem Boden des Karrens, um Emilias Vater handelte, fühlten sie sich unwohl in der Nähe seines toten Körpers.

Sie fürchteten, dass er aufspringen und als Wiedergänger von den Toten zurückkehren könnte – ein Gedanke, der ihnen selbst irrsinnig erschien, aber nicht irrsinnig genug, um sich nicht davor zu fürchten.

Evan warf Leana hin und wieder einen Blick vom Kutschbock aus zu und überlegte kurz, ob er ihr anbieten sollte, vorne neben Leuven Platz zu nehmen.

Doch er entschied sich dagegen. Er wollte ihr ihre Ruhe lassen und, das musste er sich selbst eingestehen, hatte er wenig Verlangen danach, sich in der Gegenwart von Emilia und Jakob zu befinden.

Nach einer Weile erreichten sie das Dorf.

Die Dorfbewohner strömten herbei, um Jakob und Emilia freudig zu begrüßen und über die Nachricht der erfolgreichen Jagd zu jubeln.

Doch als sie Alberts leblosen Körper sahen, legte sich schnell ein dunkler Schleier über das Dorf.

Während die einen trauerten und die anderen das Überleben des jungen Paares feierten, verlor niemand auch nur ein Wort über Nella.

Niemand schien sich daran zu erinnern, dass auch sie ein Opfer dieser Ereignisse gewesen war, selbst wenn sie nicht unschuldig war.

Leana, die das aus der Ferne beobachtete, spürte, wie die Wut wieder in ihr aufstieg.

Es war für sie unbegreiflich, dass Nella keine Bedeutung für diese Menschen hatte.

Ohne ein einziges Wort wandte sie sich ab und ging.

Evan bemerkte ihre Abwesenheit.

Sein Blick folgte ihr, und nach einem Moment des Zögerns stand er vom Kutschbock auf und ging ihr nach.

Dies wiederum entging Leuven nicht, der, neugierig wie er nun einmal war, ebenfalls beschloss, ihnen zu folgen.

Als Evan Leanas Schneiderei erreichte, beobachtete er, wie sie hastig ein paar Kleidungsstücke in einen Sack stopfte.

Die Stimmung im Raum war schwer und angespannt.

Vorsichtig trat er ein, gefolgt von Leuven, der sich hinter ihm befand, unsicher, ob er eintreten sollte oder nicht.

»Du verlässt das Dorf?« fragte Evan knapp, seine tiefe Stimme durchbrach die Stille.

Leana hielt kurz inne, ihr Rücken ihm zugewandt. »Was soll mich noch hier halten?«

Ihre Stimme war scharf, durchzogen von Enttäuschung und Wut. »Es wird sich schnell herumsprechen, dass ich keine talentierte Schneiderin bin, sondern eine Zauberin. Vielleicht werden sie mich sogar als Hexe beschimpfen oder mir die Schuld an diesem Fluch zuschieben. Ich kann das Verhalten dieser Menschen nicht länger ertragen.«

Mit zitternden Händen stopfte sie hastig weitere Kleidungsstücke in den Sack, getrieben von Frustration.

Plötzlich drehte sie sich herum und ging entschlossen zu ihrem Bücherregal.

Mit zielgerichteten Bewegungen griff sie nach einigen Büchern, die sie auf dem Nähtisch ausbreitete.

Einen kurzen Moment betrachtete sie die Seiten, als suche sie etwas Bestimmtes.

Dann stapelte sie die Bücher ordentlich und legte sie zu ihren restlichen Habseligkeiten.

Evan beobachtete sie still, seine Augen auf ihren Rücken gerichtet. »Ich verstehe dich,« sagte er ruhig. »Aber was ist dein Plan?«

Sie wandte sich langsam zu ihm um, ihre Augen müde und resigniert. »Ich habe keinen konkreten Plan. Ich will einfach nur schnell aus diesem Dorf verschwinden. Alles hier erdrückt mich.«

In diesem Moment meldete sich Leuven zu Wort, seine Stimme unauffällig, aber bestimmt. »Im Karren ist noch genug Platz,« sagte er. »Wir könnten vorerst zu dritt weiterreisen, bis zur nächsten Stadt. Es wäre sicherer, als alleine zu gehen.«

Evan und Leana sahen Leuven überrascht an. Seine Worte hingen einen Moment lang in der Luft.

Schließlich schüttelte die Zauberin ihren Kopf und sah die beiden entschlossen an. »Es ist das Beste, wenn ich allein gehe. Das sind meine Probleme.«

Sie band ihre Bücher fest mit einem Gürtel zusammen und wandte sich wieder Evan und Leuven zu. Doch als ihr Blick auf die Tür fiel, bemerkte sie eine weitere Person.

Es war die alte Dame, die Evan am Vortag zu Leana geschickt hatte.

Ihre Anwesenheit ließ die Zauberin überrascht aufblicken.

»Grete?« fragte Leana, ihre Stimme eine Mischung aus Verwirrung und Erstaunen.

Die alte Dame trat wortlos in die Schneiderei ein, ihr Blick ruhig und unbeirrt von den dreien.

Sie nahm die Szene um sich herum in Ruhe wahr, ohne sofort ein Wort zu verlieren.

»Was tust du hier?« fragte Leana verwundert, als sie die alte Dame ansah.

»Ich wollte mich verabschieden,« antwortete Grete mit einer besonnenen Stimme.

Leana war überrascht und fragte: »Verabschieden, woher wusstest du…?«

Grete lächelte sanft und streckte ihre Hand aus.

Plötzlich begann eine Rose aus ihrer Hand zu wachsen, ihre Blütenblätter öffneten sich langsam und verströmten einen feinen Duft.

Es wurde Leana sofort klar, dass Grete ebenfalls eine Zauberin war.

Die Erkenntnis ließ sie aufmerken, und sie beobachtete fasziniert, wie sich die Rose vollständig entfaltete.

»Es ist wichtig,« begann Grete mit ruhiger Stimme, »seine Kräfte für das Gute einzusetzen. Man sollte sich nicht verstecken und seine Fähigkeiten verkommen lassen. Andernfalls wird die eigene Magie schwächer, bis sie schließlich ganz erlischt.«

Die Blütenblätter schlossen sich wieder.

Leana sah Grete nachdenklich an. »Was würdest du an meiner Stelle tun?« fragte sie schließlich.

Grete überlegte kurz und antwortete dann: »Wenn ich noch einmal in deinem Alter wäre, würde ich das Abenteuer suchen und meine Kräfte nutzen, um anderen zu helfen. Es gibt da draußen genügend Menschen, die Hilfe brauchen.«

Leana warf einen kurzen Blick zu Evan und Leuven.

Ein Halbdämon und ein Kaufmann – das schrie für sie nicht nach Abenteuer, sondern nach Problemen.

»Ich kann das nicht,« sagte Leana schließlich zur alten Dame. »Ich werde mir einen anderen Ort suchen, an dem ich mich niederlassen kann.«

Grete schüttelte den Kopf. »Das ist kein Weg. Es wäre nur Flucht. Du hast das Potenzial, Gutes zu tun. Du solltest es nicht verschwenden.«

Leuven, der die Unterhaltung aufmerksam verfolgte, betonte: »Das Angebot steht noch. Wir haben Platz. Vielleicht hilft es dir, wenn du erst einmal mit uns kommst, zumindest bis du dir darüber im Klaren bist, was du tun möchtest.«

Evan zuckte mit den Schultern und schwieg, aber sein Blick verriet, dass er keine Einwände hatte.

Leana überlegte einen Moment und wandte sich dann erneut an Grete. »Ist das wirklich die richtige Entscheidung für mich?«

Grete lächelte sanft. »Es ist deine Entscheidung, aber ich gebe dir diesen Rat: Verschwende deine Fähigkeiten nicht.«

Leanas Gedanken wirbelten durcheinander, während sie über die Worte der alten Dame nachdachte.

Schließlich nickte sie und sagte: »In Ordnung. Ich werde mit euch bis zur nächsten Stadt reisen. Danach werde ich sehen, wie es weitergeht.«

Leuven lachte auf und meinte schmunzelnd: »Das habe ich schon einmal gehört.«

Dabei warf er einen Blick auf Evan, der mit einem finsteren Ausdruck antwortete.

Leana wandte sich an Grete. »Danke für deinen Rat. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde, aber ich werde mir die Zeit nehmen, es herauszufinden.«

Gemeinsam mit Evan und Leuven verließ Leana die Schneiderei, aber nicht, ohne sich noch einmal mit einem warmen Lächeln von der alten Dame zu verabschieden.

Sie hatte nur das Nötigste dabei; den Rest ihrer Besitztümer ließ sie zurück, da sie für sie keinen Wert mehr hatten.

Grete beobachtete sie aufmerksam, während sie sich entfernten, blieb jedoch in der Schneiderei stehen und ließ ihre Gedanken schweifen.

Langsam schlenderte sie durch den Raum, ihre Finger strichen über die Stoffe, die auf den Kleiderpuppen im Vorraum hingen.

Sie betrachtete die eleganten Kleidungsstücke mit einem Lächeln, das jedoch zunehmend finsterer wurde.

Schließlich verwandelte sich das Lächeln in ein wildes Grinsen, das sich bald in lautes Lachen steigerte.

Das Gesicht der alten Dame begann zu zucken und zu wabern; ihre Körpergröße wuchs, und ihr Haar wurde dunkler.

Grete verschwand, und an ihrer Stelle stand ein junger Mann mit einem verrückten Blick.

»O Rikard, was hast du hier nur für ein Chaos angestellt? Dabei hättest du mir doch auch ein wenig Spaß lassen können,« murmelte er, während eine Fensterluke einen Spalt öffnete und auf Leana, Evan und Leuven schaute, die zum Dorfplatz zurückgingen.

_________________


Es war Abend geworden, und das Lagerfeuer knisterte sanft, während über den Flammen ein paar Fische brutzelten.

Ein ruhiger Bach plätscherte in der Nähe, und Ida, Leuvens Stute, war vom Karren abgespannt worden, damit sie in der Nähe grasen konnte.

Leuven schob sich ein Stück Fisch in den Mund und bemerkte schmatzend: »Es war wirklich nett von den Dörflern, dass sie uns Proviant mitgegeben haben, obwohl sie selbst nicht viel hatten. Ich war schon am Verhungern.«

Leana nickte kurz, ging jedoch nicht weiter auf seine Bemerkung ein. Sie starrte gedankenverloren auf ihren Teller, auf dem ein gegrillter Fisch lag, während Evan sie aufmerksam beobachtete. Schließlich wandte er sich an sie.

»Was sind deine weiteren Pläne?«, fragte er.

Leana sah ihn an und schüttelte leicht den Kopf. »Ich weiß es noch nicht.«

Evan überlegte kurz. »Viele Zauberer zieht es nach Cadeira oder Brilonia. Vielleicht findest du dort etwas, das dir zusagt.«

Leana zog eine Augenbraue hoch. »Das interessiert mich nicht. Ich möchte in Brünnen bleiben.«

»Was hält dich an Brünnen?«, fragte Evan neugierig.

Leana antwortete kurz und bündig: »Das geht nur mich etwas an.«

Evan nickte verstehend, obwohl er die Antwort nicht ganz nachvollziehen konnte. Es war offensichtlich, dass Leana ihre Gründe für den Wunsch, in Brünnen zu bleiben, nicht teilen wollte.

Mit vollem Mund schmatzte Leuven. »Naja, wir sind auf dem Weg zur Küste. Vielleicht findest du dort einen Ort, an dem du bleiben kannst.«

Die Zauberin sah ihn an und antwortete ruhig: »Vielleicht. Es könnte eine Möglichkeit sein.«

Leuven nickte und fügte hinzu: »Aber du bist nicht mitgekommen, um dich wieder zu verstecken. Du wolltest anderen helfen. Das kannst du am besten, wenn du deine Kräfte voll nutzt.«

Dann verfiel Leuven in Albernheit. »Übrigens, die Lichtkugel, die du in der Höhle erschaffen hast, war echt beeindruckend. Vielleicht könntest du nachts als Laterne arbeiten!«

Leana warf ihm einen bösen Blick zu, der Leuven jedoch nicht zu stören schien.

»Du musst dich daran gewöhnen oder es einfach ignorieren. Das versuche ich jedenfalls«, gab Evan schmunzelnd zurück.

Leuven war empört. »Wenn du die Kathedrale von Ravensberg nicht in Flammen gesteckt hättest, müssten wir jetzt nicht flüchten!«

Die Zauberin erstarrte, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Du hast was?« fragte sie und fürchtete, dass sie durch ihre Reise mit den beiden möglicherweise selbst zur Zielscheibe werden würde.

Evan versuchte, sie zu beruhigen. »Ich habe die Kathedrale nicht in Flammen gesteckt«, sagte er.

Doch die Zauberin war nicht überzeugt, besonders als Leuven schmatzend hinzufügte: »Die Stadtwache denkt das jedoch. Da ich dir zur Flucht verholfen habe, sind wir jetzt beide Kriminelle.«

Leana schnaubte und wandte sich ab. Der Gedanke, nun auch noch als Kriminelle gejagt zu werden, verstärkte nur ihre Besorgnis. Sie war sich unsicher, ob sie den neuen Entwicklungen gewachsen war.

Evan sah Leana mit einem beruhigenden Blick an. »Mach dir keine Sorgen, bisher haben wir keine Wachen gesehen, die uns verfolgen.«

Leana war jedoch nicht zu beruhigen. Mit einem tiefen Seufzer stellte sie ihren Teller mit dem halb gegessenen Fisch auf den Boden und stand frustriert auf. »Ich werde jetzt schlafen gehen«, erklärte sie und wandte sich entschlossen vom Lagerfeuer ab.

Leuven beobachtete sie und dachte kurz darüber nach, dass ihr Verhalten übertrieben wirkte. Doch dann überdachte er seine Worte noch einmal und kam selbst zu dem Schluss, dass sie abschreckend wirken, selbst auf ihn, nachdem er sie in Gedanken wiederholte.

Plötzlich hörten Evan und er seltsame Geräusche.

Sie horchten auf und bemerkten, dass Leana gerade ihre Schlafrollen aus dem Karren geworfen hatte.

Sie schien entschlossen, sich ein kleines Areal für sich allein zu schaffen.

Leuven sah zum Karren hinüber und war sichtlich verärgert. »Was soll das denn jetzt werden?«, fragte er.

Leana, die kurz ihren Kopf aus der Plane streckte, antwortete ruhig, aber bestimmt: »Ich brauche meine Privatsphäre und Ruhe. Das hier ist kein Gastzimmer, aber ich muss wenigstens einen Ort haben, an dem ich mich ungestört fühlen kann.«

Leuven konnte seinen Unmut nicht verbergen. »Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas. Wir haben andere Probleme, als uns mit deinen Schlafgewohnheiten auseinanderzusetzen! Wir müssen uns beeilen, und du machst es nur komplizierter.«

Evan, der das Schlafen unter freiem Himmel gewohnt war, nahm die Situation eher gelassen zur Kenntnis.

Er lehnte sich zurück und starrte in den klaren Sternenhimmel.

Der Streit zwischen Leana und Leuven entbrannte währenddessen weiter.

Leana versuchte, sich in ihrer Schlafrolle gemütlich einzurichten und wandte dem Gespräch den Rücken zu, während Leuven lauter wurde und seine Frustration kundtat.

Evan beobachtete die beiden mit einem milden Schmunzeln, während er seine Gedanken auf die Reise richtete.

Trotz der Unannehmlichkeiten und der Streitigkeiten hoffte er, dass sie ihre Reise fortsetzen und bald ihr Ziel erreichen würden.

Es war ihm klar, dass es noch viele Herausforderungen geben würde, aber er war entschlossen, den Weg bis zum Ende zu gehen – auch wenn es bedeutete, sich mit gelegentlichen Konflikten auseinanderzusetzen.

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Kapitel 3
Die Schneiderin

Beschreibung: Evan und Leuven haben Ravensberg verlassen und setzen ihre Reise gen Norden fort. Ihr Weg führt sie durch ein Waldstück, das anfangs noch ruhig erscheint, doch plötzlich passiert etwas unerwartetes: Ein Mann fällt vom Himmel!

Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5

Teil 5

Gegen Mittag erreichten sie das Waldstück, in dem Evan der Harpyie begegnet war.

Schweigend folgten sie dem Weg bis zu der Stelle, an der Albert und Jakob von der Bestie angegriffen worden waren.

Der Boden war ein einziges Ödland aus Staub und Asche; verbrannte Baumstümpfe ragten wie Mahnmale in die Höhe.

Ohne Leanas Eingreifen in der letzten Nacht wäre das Verderben noch weitaus größer gewesen.

Evan ließ keinen noch so kleinen Hinweis unbeachtet. Jedes abgeknickte Geäst, jeder Fußabdruck im schwarzen Boden, selbst der schwächste Geruch lag ihm sofort offen.

»Sie hat sich zuerst Albert geschnappt«, sagte er mit kalter Stimme. »Dann ist sie nach Norden geflogen. Kurz darauf hat sie sich Jakob geholt… und auch ihn dorthin verschleppt.«

Leana musterte ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Denkst du, sie hat dort irgendwo einen Unterschlupf?«

»Davon gehe ich aus«, erwiderte Evan trocken. »Wahrscheinlich eine Höhle oder ein verlassenes Gebäude. Ein Ort, an den sie ihre Opfer verschleppt.«

»Eine Höhle?« Nellas Stimme zitterte leicht, als wäre sie aus tiefen Gedanken aufgeschreckt. »Nördlich von hier… da gibt es tatsächlich eine Höhle. Die Leute im Dorf sagen, dass dort Schmuggler ihr Versteck hatten. Das haben wir nie geglaubt, aber ich weiß, welche Höhle gemeint sein könnte.«

Evan wandte sich ihr zu, die Augen schmal. »Kannst du uns dorthin führen?«

»Ich… ich denke schon.« Nella wirkte plötzlich klein und eingeschüchtert. »Aber glaubt ihr wirklich, dass wir dort auf Emilia stoßen?«

Evan starrte sie irritiert an. »Das hoffe ich doch. Dafür sind wir schließlich hier.«

Die junge Frau zögerte. Ihre Augen huschten von einem zum anderen, und der Blick ihrer Begleiter ruhte schwer auf ihr, fordernd und wartend.

Man konnte Nella die Beklommenheit deutlich ansehen, und doch setzte sie zögernd einen Fuß vor den anderen und führte die Gruppe weiter.

Misstrauisch warf Evan einen Blick zur Seite, hinüber zu Leana. Die Zauberin wich seinem durchdringenden Blick aus.

Nach einer Weile erreichten sie eine Anhöhe. Die Sonne stand hoch und blendete sie, als sie über den Kamm traten.

Es war still. Nur das leise Rascheln der Blätter im Wind durchbrach die unheimliche Ruhe.

»Wir sind da«, flüsterte Nella mit trockener Kehle.

Die Gruppe folgte ihrem Blick, und tatsächlich offenbarte sich hinter einem dichten Vorhang aus Gestrüpp der dunkle Eingang einer Höhle.

Evan schritt ohne zu zögern an Nella vorbei, doch Leana griff nach seinem Arm. »Warte. Du weißt nicht, was uns da drin erwartet. Wir sollten vorsichtig sein.«

Evan schnaubte abfällig. »Vorsichtig? Das ist nicht meine Art.«

Ohne ein weiteres Wort schob er sich los und ging weiter.

Leana seufzte und warf einen schnellen Blick zu Leuven, der verlegen die Schultern hob. »So ist er eben.«

Mit einem leisen Fluch folgte die Zauberin dem Halbdämon, dicht gefolgt von Leuven und Nella, die nur zögerlich hinterhergingen.

Ein kalter, feuchter Wind kam ihnen aus dem Höhleneingang entgegen. Das Sonnenlicht verschwand hinter ihnen, verschluckt von der Finsternis.

Leana hob ihre linke Hand, und der Ring an ihrem Finger begann sanft zu glühen.

Eine kleine, helle Kugel formte sich über ihrer Handfläche und tauchte die Umgebung in ein mildes Licht.

»Beeindruckend«, murmelte Leuven ehrfürchtig. »Dein Ring ist wirklich praktisch.«

Leana warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Ich habe es bereits erklärt: Der Ring ist ein Katalysator für meine Magie.«

Leuven grinste schief. »Also macht dein Ring die meiste Arbeit.«

Leanas Kiefer spannte sich, eine Reihe von bissigen Kommentaren lagen ihr auf der Zunge, doch sie behielt ihre Fassung.

»Seid still«, zischte Evan plötzlich. Seine Augen schimmerten in der Dunkelheit noch bedrohlicher, als er den Kopf in die Tiefe der Höhle neigte.

Nella, die starr und ängstlich hinter ihnen stand, schien noch kleiner zu werden. Sie bewegte sich nicht, als wäre sie in Stein verwandelt worden.

»Was ist los?«, flüsterte Leuven.

»Ruhe!«, fauchte Evan leise. »Ich höre etwas.«

Alle lauschten gebannt in die Dunkelheit. Tatsächlich drang ein leises, verzerrtes Stöhnen aus der Tiefe der Höhle an ihr Ohr.

Leuven schluckte nervös den bitteren Speichel hinunter, der sich in seinem trockenen Mund angesammelt hatte. »Das… das ist doch nicht etwa die Harpyie, oder?«

»So klingt keine Harpyie«, erwiderte Evan schroff und verschwand ohne Zögern in der Finsternis.

Leana folgte ihm sofort.

Leuven hingegen zögerte. Unbehagen nagte an ihm, doch er konnte nicht zulassen, dass sein Mut ihn im Stich ließ.

Mit klopfendem Herzen und weichen Knien setzte er den ersten Schritt in die dunkle Höhle. Nella blieb zurück, reglos und unentschlossen, doch schließlich trat auch sie zaghaft hinterher.

Das unheilvolle Stöhnen hallte immer lauter durch die Felswände. Selbst der Halbdämon, dessen Augen sonst durch jede Dunkelheit schnitten, konnte hier kaum mehr als schemenhafte Umrisse ausmachen. Diese Finsternis schien anders, als wäre sie lebendig, und versperrte selbst ihm die Sicht.

Leana holte rasch auf. Ihre Lichtkugel glitt über ihre Hand, sanft, doch kraftvoll, und durchbrach die allgegenwärtige Dunkelheit.

Sie reichte Evan das nötige Licht, um die Quelle der Geräusche endlich auszumachen.

An der kalten Höhlenwand erkannte er eine gebeugte Gestalt – die Silhouette von Albert.

Der Mann lebte, doch sein Körper war schwer gezeichnet. Drei tiefe Wunden klafften in seiner Schulter, aus denen kein Blut mehr rann.

Leana kniete sich zu ihm nieder, ihre Augen glitten über die Verletzungen. »Sie bluten nicht mehr. Das ist ein gutes Zeichen.«

»Also wird er überleben?«, fragte Evan, ohne den Blick von den dunklen Schatten in der Höhle abzuwenden.

»Wenn wir ihn von hier wegbringen, dann ja«, entgegnete die Zauberin ruhig.

Albert stöhnte auf, als Leana die Wunden weiter untersuchte. Ihr Blick war konzentriert und ihre Worte waren sanft. »Es wird alles gut. Ich werde die Wunden verschließen, und die Schmerzen werden bald nachlassen.«

Die Lichtkugel löste sich sanft von ihrer Hand und schwebte tiefer in die Höhle, als hätte sie einen eigenen Willen.

Ihr Licht offenbarte das Grauen, das die Dunkelheit bis dahin verborgen hatte.

»Verdammt…«, murmelte Evan leise, seine Stimme klang gefährlich ruhig.

Während Leana leise Worte flüsterte und ihre Magie sich wie ein wärmender Schleier um Alberts Wunden legte, entfaltete sich vor dem Halbdämon ein Anblick des Schreckens.

Knochen, abgenagte Schädel, verstümmelte Leichenteile, die achtlos in der Höhle verteilt lagen – dies war ohne Zweifel das Nest der Harpyie. Und zugleich ihr Schlachthaus.

In einer Ecke regte sich etwas.

Blitzschnell legte Evan die Hand auf den Griff seines Schwertes; seine Augen blitzten in der Finsternis auf, doch es war kein Feind, der dort lauerte.

Zwischen den abgenagten Knochen, halb verborgen im Schatten, lag Jakob, keuchend und dem Tode nahe.

»Was ist los?« Leanas Stimme war ruhig, aber bestimmt, während sie sich von Albert abwandte, dessen Wunden nun geschlossen waren.

Die tiefen Narben auf seiner Schulter zeugten noch von der Grausamkeit der Harpyie, doch zu seiner eigenen Überraschung fühlte er sich fast wieder bei vollen Kräften.

»Das wird schon wieder«, sagte die junge Zauberin mit einem aufmunternden Lächeln, während Albert sie mit großen Augen anstarrte.

»Leana?« Er sprach ihren Namen aus, als könne er kaum glauben, was gerade geschehen war. »Wie hast du das gemacht?«

»Das tut nichts zur Sache«, murmelte sie knapp und verzog leicht das Gesicht. »Kannst du aufstehen?«

Zögernd stemmte Albert seine Hände gegen den kalten Höhlenboden. Ein stechender Schmerz durchzog seinen geschundenen Körper, aber er schaffte es, sich auf die Beine zu kämpfen.

»Ich… ich danke dir«, stammelte er, sein Gesicht blass wie die Knochen um ihn herum, als hätte er einen Geist gesehen.

Plötzlich ertönte Evans Stimme, schneidend und fordernd: »Leana, komm her.«

Mit einem flüchtigen Nicken wandte sie sich Jakob zu, der schwer verletzt am Boden lag. Seine Atmung war flach, das Gesicht bleich und mit Dreck und Blut beschmiert.

Eine offene Wunde an seinem Bein und Schürfwunden an Armen und Gesicht ließen keinen Zweifel an seinem Zustand. Leana kniete sich zu ihm hinunter, hielt ihre Hände über seinen Körper, als würde sie tief in sein Inneres blicken.

»Er wird es schaffen«, sagte sie schließlich, nach einem tiefen Atemzug. »Das Bein sieht schlimm aus. Ich kann es nicht vollends heilen, aber ich kann den Heilungsprozess beschleunigen.«

»Tu das«, befahl Evan ohne zu zögern. »Wir müssen sie hier rausbringen, bevor das Biest zurückkehrt.«

»Emilia!«, rief Albert plötzlich, seine Stimme zitterte vor Verzweiflung. »Meine Tochter! Sie ist noch da draußen, in diesem Ding gefangen!«

Evan sah ihn hart an. »Das wissen wir«, sagte er kalt. »Aber viel von ihr ist nicht mehr übrig in dieser Bestie.«

»Hör auf, so über meine Tochter zu reden!« Alberts Schrei hallte durch die Höhle, doch die Wut ließ seine Schmerzen nur noch unerträglicher werden, und er sank auf die Knie, keuchend vor Anstrengung.

»Sie ist noch da«, fügte er gepresst hinzu. »Ich habe sie erkannt… und sie hat mich erkannt.«

Evan runzelte die Stirn, sein Gesichtsausdruck verriet tiefe Zweifel. »Sie hat euch erkannt?« Seine Stimme klang fast ungläubig.

»Ja«, flüsterte Albert. »Sie hat zu mir gesprochen… sie ist noch nicht verloren.«

Evan zögerte, seine Augen verengten sich, als er die Worte des Müllers abwog. Leana jedoch nickte leise, ihre Augen funkelten nachdenklich.

»Es ergibt Sinn«, sagte sie schließlich. »Die Harpyie hat all ihre anderen Opfer ohne Zögern getötet, aber sowohl ihr Vater als auch Jakob leben noch. Wenn noch etwas von Emilia in ihr steckt, dann haben wir eine Chance, den Fluch zu brechen. Vor allem, wenn Jakob lebt. Zusammen mit Nella könnte er der Schlüssel sein.«

»Nella?« Albert sah sie verwirrt an, doch in diesem Moment tauchte eben jene Nella auf. Neben ihr stand Leuven, der sichtlich aufgewühlt und völlig außer Atem war.

Hektisch wedelte Leuven mit den Armen. »Wir haben ein kleines Problemchen.«

»Sag schon, was los ist«, knurrte Evan ungeduldig.

Leuven deutete nach oben, seine Stimme zitterte leicht. »Sie scheint nach Hause zu kommen. Sie zieht gerade ihre Kreise über uns.«

Evan warf einen schnellen Blick zu Leana. »Wir sitzen hier wie auf einem Präsentierteller. Wir sollten uns beeilen.«

Leana nickte zustimmend, ihre Augen huschten nervös von einem zum anderen. »Du musst aber Jakob nehmen. Er kann nicht allein laufen.«

Evan schnaubte, doch nach einem kurzen Moment des Zögerns willigte er ein.

Mit einem ruppigen Ruck half er dem jungen Mann auf die Beine.

Jakob stöhnte vor Schmerzen, wirkte aber wie in Trance. Er war kaum bei Bewusstsein, schaffte es jedoch, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während Evan ihn stützte.

Nella sagte kein Wort. Ihr Gesicht war starr vor Schock, als sie ihn lebend sah.

Alberts Gesicht hingegen war von finsterer Überraschung gezeichnet, als er Nella erblickte.

»Was tust du hier?« Seine Stimme war scharf wie ein Messer, als er die junge Frau mit einem bösen Blick fixierte.

»Ich… ich hatte gehofft, dass ihr noch am Leben seid«, stammelte Nella, ihre Augen suchten vergeblich nach einer Antwort in Alberts hasserfülltem Blick.

»Das soll ich dir glauben?«, fauchte der Müller, seine Zähne gebleckt.

»Das könnt ihr später klären«, schnitt Evan ihm das Wort ab, während er mit dem verletzten Jakob unter dem Arm an den beiden vorbeiging. »Wir müssen hier raus.«

Der Müller starrte Nella noch einen Moment an, seine Augen voller Groll, bevor er demonstrativ seine Axt aus dem Dreck hob und humpelnd hinter Evan herging.

Kaum hatten sie den Höhlenausgang erreicht, durchbrachen markerschütternde Schreie die Umgebung.

Über ihnen kreiste die Harpyie, ihr wütendes Kreischen hallte durch den Wald und ließ die Luft um sie herum erzittern.

»Ich hoffe, wir haben einen weiteren Plan, falls das hier schiefgeht«, murmelte Leuven, seine Augen weit vor Angst.

Leana schüttelte den Kopf, ihr Gesicht war entschlossen. »Den werden wir nicht brauchen. Nella und Jakob sind der Schlüssel. Den Göttern sei Dank hat Jakob überlebt. Beide zusammen können das Ritual brechen.«

»Ritual?« Alberts Augen weiteten sich vor Überraschung. »Was für ein Ritual?«

Evan antwortete. »Kurz gesagt, Nella und euer lieber Fastschwiegersohn haben dieses Dilemma verursacht.«

»Was!?« Alberts Gesicht verzerrte sich. Trotz seiner Schmerzen hob er drohend seine Axt und richtete sie auf Nella. »Du hast meine Emilia in dieses Monster verwandelt?«

Nella trat einige Schritte zurück, ihre Augen füllten sich mit Angst. »Ich… ich…«

»Und du!« Alberts Stimme überschlug sich vor Wut, als er Jakob anstarrte, der noch immer benommen an Evan lehnte. »Ihr habt euch geliebt! Wie konntest du ihr so etwas antun?«

Leana trat hastig zwischen die beiden. »Beruhigt euch!«, versuchte sie beschwichtigend. »Kurz gesagt, Nella und Jakob waren ein Paar. Emilia stand ihrer jungen Liebe im Weg. Das erklärt zwar ihre Tat, aber gutheißen kann man das natürlich nicht.«

»Ein Paar?« Alberts Stimme war voller Unglauben, als er den Kopf schüttelte. »Sie waren nie ein Paar. Emilia und Jakob sind seit Kindertagen unzertrennlich! Nella ist nur die Tochter des Dorfsäufers. Die hat in ihrem Leben nichts zustande gebracht.«

Leanas Augen weiteten sich vor Schock. »Was redest du da?« Sie drehte sich zu Nella um, ihre Stimme bebte. »Nella war doch immer ein liebes Mädchen.«

Albert knurrte verächtlich. »Mag sein, aber sie hat nichts auf die Reihe bekommen.« Er spuckte auf den Boden, seine Verachtung war unverkennbar. »Genau wie ihr Vater.«

Die Blicke der Gruppe ruhten nun auf Nella, die nervös und schuldbewusst in die Augen der anderen blickte.

Sie machte einen weiteren Schritt zurück, ihre Augen weit aufgerissen, als ob sie nach einer Fluchtmöglichkeit suchte. Ihre Lippen bebten, doch kein Ton kam heraus.

Jakob hingegen hob seinen Kopf, seine Lippen formten stumme Worte, ehe er schließlich flüsterte: »Wir waren… kein Paar.«

Die Luft war gespannt, als alle auf Nellas Antwort warteten.

»Was hast du getan?« Leanas Stimme klang wie ein scharfes Messer, gespickt mit einer Mischung aus Erschrockenheit und Zweifel.

Nella stammelte, während sie noch einen weiteren Schritt nach hinten trat. »Ich… ich…«

Albert, der immer noch von Zorn getrieben war, fletschte die Zähne. »Raus mit der Sprache, du Miststück!«, bellte er und richtete erneut seine Axt drohend in die Richtung der jungen Frau.

Doch bevor er etwas Unüberlegtes tun konnte, stellte sich Leana zwischen die beiden, ihre Augen funkelten entschlossen. »Lasst das arme Mädchen erst einmal reden! Rohe Gewalt und Beleidigungen bringen uns nicht weiter.«

Albert funkelte sie an, seine Finger umklammerten den Griff seiner Axt. »Sie hat etwas mit meiner Tochter gemacht, und ich will wissen, was es war!«

»Gib ihr einen Moment zum Atmen!« Leana wich nicht zurück, ihre Entschlossenheit war ungebrochen.

Die beiden sahen sich finster an, ein stiller Kampf der Willensstärke entbrannte zwischen ihnen, bis Leuven sich nervös einmischte. »Ich will euch ja nicht stören, aber falls ihr es vergessen habt: Emilia kreist immer noch über uns, und vielleicht sollten wir… etwas unternehmen?«

Leana atmete tief durch und löste den Blick von Albert. »Du hast recht, wir sollten uns beeilen. Aber zuerst müssen wir Emilia aus der Luft holen. Evan, ich brauche deine Hilfe. Du musst sie ablenken, und ich werde versuchen, sie mit meiner Magie zu bannen, während Nella das Ritual vollzieht.«

Evan zog eine Augenbraue hoch, seine Stimme war gereizt. »Ich soll sie ablenken? Das ist doch ein Scherz.«

Leana hob eine Augenbraue und konterte: »Du hast genügend Erfahrung mit Monstern jeglicher Art. Hast du eine bessere Idee?«

Bevor Evan antworten konnte, meldete sich Albert. »Ich werde es machen. Es ist schließlich meine Tochter.«

Leana zögerte, doch sie schüttelte schließlich den Kopf. »Dass sie euch noch am Leben gelassen hat, ist zwar ein gutes Zeichen, aber der Fluch verwandelt sie mehr und mehr in eine Bestie. Wir wissen nicht, wie viel Menschlichkeit noch in ihr steckt. Es ist besser, wenn ihr euch zurückhaltet.«

Albert starrte finster, aber er sagte nichts mehr.

»Gut, sind alle bereit?«, fragte Leana und ließ ihren Blick durch die Runde schweifen. Dann wandte sie sich an Nella. »Es ist nicht einfach, das weiß ich. Aber auf dich kommt es jetzt an. Du musst dich konzentrieren und darfst keine Angst haben.«

Doch Nella wich noch einen Schritt zurück, ihr Kopf schüttelte sich wie in einem unkontrollierten Reflex. »Nein, ich kann das nicht.«

Leana trat einen Schritt näher, ihre Stimme drängend. »Nella, du musst! Ohne dich schaffen wir das nicht.«

Plötzlich stoppte Nella, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ihr Gesicht verzog sich in eine hässliche Fratze. »Nein. Diese Schlampe hat genau das bekommen, was sie verdient hat.«

Ungläubige Blicke trafen sie von allen Seiten. Die Stimmung kippte augenblicklich.

»Seht ihr!«, polterte Albert, seine Zähne knirschten vor Wut und Schmerz. »Ich habe doch gesagt, dass sie ein Miststück ist. Spuck’s endlich aus! Was hast du getan?«

Nella setzte ein diabolisches Lächeln auf, ihre Augen funkelten bösartig. »Ihr habt ja keine Ahnung. Ich bin hier nicht das Miststück. Das ist Emilia.«

Leanas Gesicht wurde kreidebleich, die Enttäuschung war deutlich zu sehen.

Sie hatte Nella geglaubt, an ihre Reue. Jetzt stand sie da, entsetzt und verloren.

Evan hingegen fühlte sich nun in seinem Misstrauen bestätigt.

»Aber du hast doch gesagt…« begann Leana, die Enttäuschung in ihrer Stimme deutlich spürbar. »Du sagtest, du und Jakob wärt ein Paar. Was ist denn nun die Wahrheit?«

»Die Wahrheit?« Nella schaute sie zähneknirschend an, ihre Augen voller Bitterkeit. »Die Wahrheit ist, dass Emilia bekommen hat, was sie verdient hat. Innerlich war sie schon immer hässlich, nun kann es jeder sehen.«

Evan unterbrach ungeduldig: »Komm endlich zur Sache. Sonst bringt uns das eine Biest gleich um.«

»Sie hat mich verspottet, schon immer hat sie mich lächerlich gemacht«, brach es aus Nella heraus. »Sie hat mich jahrelang schikaniert, mir Haare ausgerissen, mich und meinen Vater zutiefst beleidigt.«

Tränen rannen ihr über die Wangen. »Ich habe ihr nichts getan, aber sie konnte nicht von mir ablassen!«

»Dein Vater war ein Taugenichts. Kein Wunder, dass deine Mutter ihn verlassen hat. Ohne ihn ist sie besser dran!«, warf Albert scharf ein, ohne auf ihre Tränen zu achten.

Leana wollte ihn gerade zurechtweisen, doch Nella sprach erneut, diesmal schärfer: »Ach ja? Ich wette, du weißt nicht einmal, dass er tot ist.«

Albert verstummte, seine Augen weiteten sich für einen Moment. Er stammelte: »Er… er ist tot?«

»Schon seit Wochen«, sagte Nella bitter. »Und niemand im Dorf hat es gekümmert. Für euch war er ja nur ein Säufer. Aber niemand hat sich die Mühe gemacht herauszufinden, wer er wirklich war. Niemand, außer mir!«

Leana versuchte, ihre Stimme beruhigend klingen zu lassen. »Es tut mir schrecklich leid, Nella. Aber wir müssen den Fluch von Emilia lösen, sonst sind wir und das ganze Dorf verloren.«

»Das Dorf ist schon lange dem Untergang geweiht!«, fauchte Nella. »Sie haben meinen Vater und mich verspottet, aber was ist mit den anderen? Was ist mit dir, Albert?« Sie fixierte den Müller mit eisigem Blick.

»Was soll mit mir sein?« Albert wirkte nervös, versuchte aber, es zu verbergen.

»Wusste deine Frau, als sie auf dem Sterbebett lag, dass du es mit der Frau vom Hufschmied getrieben hast? Oder mit der Nachbarin?«

»Du kleines, verlogenes Biest!«, brüllte Albert, als er wutentbrannt mit erhobener Axt auf Nella losging. »Ich stopf dir das dreckige Maul!«

Doch plötzlich blieb er stehen, als wäre er versteinert. Es war kein Schock, der ihn lähmte, sondern etwas Übernatürliches. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Ein blaues Licht glomm auf, ausgehend von Leanas Ring. Die magische Aura hielt Albert fest in ihrem Griff.

»Keiner von uns ist ohne Schuld«, sagte Leana mit ernster und ebenso enttäuschter Stimme. »Aber wir können aus unseren Fehlern lernen und Verantwortung übernehmen.«

Die Anwesenden schwiegen, gebannt von ihren Worten.

»Albert, hör auf, mit Drohungen um dich zu werfen. Denk an deine Tochter. Wir haben noch eine Chance, sie zu retten. Und du, Nella… ich spüre deinen Schmerz. Aber in diesem Moment musst du über deinen eigenen Schatten springen. Nur gemeinsam können wir diesen Schrecken beenden.«

Leana ließ den Bann um Albert los. Seine Muskeln erschlafften, die Axt fiel mit einem dumpfen Klirren zu Boden. Er selbst sank auf die Knie, Tränen strömten über sein Gesicht.

»Ich will doch nur meine Tochter zurück!«, schluchzte er. »Bringt mir meine Emilia zurück…«

Leana sah Nella eindringlich an. »Bitte… hilf uns.«

Für einen Moment herrschte eine angespannte Stille. Dann seufzte Nella und sagte kalt: »Nein.«

Die Überraschung stand allen ins Gesicht geschrieben.

»Diese Schlampe hat genau das bekommen, was sie verdient hat. Es gibt für mich keinen Grund, sie zu retten. Endlich sehen alle, wie sie wirklich ist, endlich gleicht ihr Äußeres auch ihrem Inneren.«

Evan trat vor, seine Stimme ruhig, aber angespannt. »War es das für dich wert?«

Während des Streits war es keinem aufgefallen, doch Emilia war verstummt.

Die grotesken Schreie, die eben noch über ihnen hallten, waren verklungen.

Stattdessen hörten sie nur noch das Rascheln der Bäume und ein unheimliches, sich wiederholendes Flügelschlagen.

Evan übergab den schwer verletzten Jakob an Leuven, der sichtlich Mühe hatte, ihn zu halten, ohne selbst zu straucheln.

»Was hast du vor?«, fragte Leana besorgt.

»Wenn wir das überleben wollen, bleibt uns keine Wahl. Du hattest deine Chance, jetzt machen wir es auf meine Weise«, erwiderte Evan kühl.

»Auf seine Weise?«, wiederholte Albert, sichtlich nervös. »Was soll das heißen?«

Leuven, der noch immer gegen das Gewicht von Jakob ankämpfte, konnte sich ein trockenes Lächeln nicht verkneifen. »In der Regel nichts Gutes. Wir sollten uns darauf einstellen, dass er den halben Wald niederbrennen könnte. Mit Feuer hat er gerade so seine Probleme.«

Leana folgte dem Halbdämon, ihre Schritte hastig und entschlossen. »Das war nicht der Plan!«

Dieser hielt inne, warf ihr einen stechenden Blick zu. »Ich lasse mich sicher nicht von diesem Monster umbringen, nur weil wir in ein Nest voller Narren gestolpert sind.«

»Narren?«, fragte Leana, ihre Augen schmal. Ihr Ton forderte eine Antwort.

»Du weißt, was ich meine. Hilf mir oder lass es sein, aber die Zeit für Diskussionen ist vorbei«, sagte er und zog sein Schwert mit einem metallischen Zischen aus der Scheide heraus.

Das Flügelschlagen wurde lauter, kam dichter.

Evan konnte jetzt genau ausmachen, wo sich Emilia befand.

Vor der Höhle erblickte er sie: ruhig, in der Luft schwebend, ihre Flügel schlugen im gleichmäßigen Rhythmus des Windes. Für einen Augenblick sah sie unantastbar aus.

Ihre Augen trafen die seinen, beide blickten sich voller Bedrohung und doch mit einer Art gelassener Entschlossenheit an.

Dann stieß Emilia einen schrillen, markerschütternden Schrei aus und schoss wie ein Pfeil auf Evan zu.

Er konnte ihr gerade noch rechtzeitig ausweichen, landete jedoch unsanft auf dem Waldboden.

»Verdammt!«, knurrte er, als er sich aufrappelte.

Diese Geschwindigkeit hatte er nicht erwartet.

Zwar erinnerte er sich gut an ihren Angriff in der vergangenen Nacht, aber dort hatte sie offenbar nicht ihre volle Kraft eingesetzt.

Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, denn die Harpyie griff erneut an.

Ihre scharfen Krallen zielten direkt auf ihn.

Mit einer Rolle entkam Evan diesem nur knapp.

Er sprang auf, seine Augen fixierten jede Bewegung der Bestie, aber selbst seine geschärften Sinne konnten mit ihrer Geschwindigkeit kaum mithalten.

Ein gezielter Flügelschlag erwischte ihn und warf ihn erneut zu Boden.

Für einen Sekundenbruchteil war er wehrlos.

Die Krallen der Harpyie blitzten im Sonnenlicht auf; sie näherten sich seinem Gesicht.

Das hätte sein Ende sein können, wenn nicht etwas Unerwartetes geschehen wäre.

Plötzlich schien Emilia wie gefangen; ihre Bewegungen wurden abrupt gestoppt, als wäre sie in einem unsichtbaren Käfig gefangen. Verwirrt beobachtete Evan, wie die Kreatur über ihm hin und her zappelte.

Er wusste, wem er das zu verdanken hatte. Sein Blick wanderte zur Höhle.

Leana stand dort, beide Arme nach vorn gestreckt. In ihrem Gesicht zeichnete sich die Anstrengung ab. Der Schweiß tropfte ihr von der Stirn.

»Danke!«, rief Evan ihr zu, als er hastig aufsprang.

»Ich kann sie nur für einen Moment halten«, rief sie keuchend. »Ihre Kraft ist enorm!«

»Das reicht mir«, antwortete Evan entschlossen.

Noch lebte er und war bereit, zum Gegenangriff überzugehen.

Doch Emilia ließ sich nicht so leicht in Schach halten.

Mit einem kräftigen Flügelschlag erhob sie sich in die Lüfte; Evans Schwerthieb ging ins Leere.

Leana versuchte es erneut mit einem Zauber.

Diesmal schleuderte sie einen Windstoß auf die Harpyie, doch diese wich mühelos aus.

In der Nähe lehnte Leuven Jakob behutsam gegen die Höhlenwand und wandte sich an Nella, die abseits stand, voller Bitterkeit.

»Hör mal«, begann er vorsichtig.

Nella schaute ihn gekränkt an. »Ich schulde niemandem etwas.«

»Das stimmt nicht ganz«, sagte Leuven ruhig. »Du schuldest es dir selbst.«

»Mir?«, sie verzog das Gesicht und schaute trotzig weg. »Was schulde ich mir schon? Sieh sie dir an. Für mich war sie schon immer ein Monster. Jetzt kann es jeder sehen. Das ist das einzige, was ich mir schuldig war, jedem zu zeigen, wer sie wirklich ist.«

»Das glaube ich dir«, sagte Leuven sanft. »Aber wie viele Unschuldige mussten bereits sterben? Welchen Sinn hat das alles? Du willst Emilia bestrafen, aber du bestrafst Menschen, die nichts damit zu tun haben.«

Für einen Moment huschte so etwas wie Reue über Nellas Gesicht, aber sie verwandelte es schnell wieder in den trotzigen Blick eines Kindes. »Es ist mir egal. Es ist mir auch egal, ob ich heute sterbe. Sie alle haben mein Leben zerstört; sollen sie sehen, wie ihres in Flammen aufgeht.«

»Du kennst den Schmerz«, fuhr Leuven fort. »Ich weiß, wie es sich anfühlt, allein zu sein. Aber deswegen gebe ich nicht auf. Vor ein paar Wochen hätte ich beinahe mein Leben verloren, und dann tauchte Evan auf und rettete mich, aus dem Nichts.«

»Und jetzt denkst du, er kann auch mich retten?«, fragte sie spöttisch.

»Nein. Wirklich, nein. Es war eher ein Zufall, dass wir aufeinandergestoßen sind«, der junge Kaufmann überlegte kurz. »Es war tatsächlich ein Zufall. Aber Evan gibt alles für Menschen, die er nicht kennt, und das, obwohl er nach außen hin so tut, als wären ihm alle egal. Und weißt du, wer noch hier ist? Jemand, der immer das Gute in dir gesehen hat?«

Nella sah ihn mit interessierten Augen an.

»Na, Leana!«, sagte er, als wäre es offensichtlich. »Sie hat sich für dich eingesetzt, und jetzt willst du sie sterben lassen? Schau sie dir an. Sie wird nicht mehr lange durchhalten, wenn wir nicht schnell handeln.«

Nellas Gesichtsausdruck wandelte sich in leichte Besorgnis, als sie die Zauberin und den Halbdämon beobachtete, die verzweifelt gegen die Harpyie kämpften.

»Nella«, sagte Albert mit schmerzerfüllter Stimme, als er sich unter Schmerzen aufrichtete. »Es tut mir leid, wie wir dich und deinen Vater behandelt haben. Du kennst den Schmerz, den solch ein Verlust verursachen kann. Bitte hilf uns.«

Sein Zorn wandelte sich in pure Verzweiflung.

Währenddessen kämpften Evan und Leana einen erbitterten Kampf gegen die Harpyie.

»Ich kann nicht mehr lange!«, stöhnte die junge Zauberin. Ihr Ring begann zu leuchten, während Emilia sich in der Luft wand. Sie stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus.

Evan musste sich eingestehen, dass alle seine Angriffe vergeblich waren. Jedes Mal, wenn er zuschlug, stieg die Harpyie wieder in die Lüfte.

Sein Blick fiel auf den Dolch, den er an seinem Stiefelschaft trug.

Der Dolch aus Obsidian, der ihm geholfen hatte, den Hintz auf der Burg Haren zu besiegen.

Er zögerte. Dieser Dolch entfesselte sein volles dämonisches Potenzial, kostete ihn aber auch Lebenskraft.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Leana und fiel zu Boden. »Ich habe keine Kraft mehr.«

Keuchend beobachtete sie, wie sich der Bann um Emilia löste und die Harpyie ihre gewaltigen Schwingen ausbreitete.

Mit bedrohlichem Blick richtete sich ihr Fokus auf die Zauberin.

Kreischend stürzte sie sich auf Leana.

Doch plötzlich durchbrach ein schmerzerfüllter Schrei die Luft.

Evan und Leana sahen entsetzt zu, wie die Harpyie auf den Boden fiel und sich hin und her wand.

Dann erkannten sie, was geschehen war.

Nella trat langsam auf die Harpyie zu, in ihrer Hand die leuchtend rote Feder, die wie ein blutrotes Herz pulsierte.

»Ares la turnas!«, rief sie mit dröhnender Stimme, gefolgt von weiteren Worten, die wie ein uralter Zauber durch die Luft schwebten.

Leana hielt den Atem an; ihr Herz raste vor Erleichterung und Staunen.

Nella hatte sich entschieden, ihnen zu helfen.

Mit jedem Schritt, den Nella näher kam, erstrahlte die Feder in einem blendenden Licht, und Emilia krümmte sich verzweifelt auf dem Boden, als würde der Fluch sie mit letzten Zügen festhalten.

Die Schreie, die zuvor durch Mark und Bein gingen, wurden leiser und leiser, bis sie schließlich verstummten.

Emilia, eben noch die gefürchtete Harpyie, begann sich zurückzuverwandeln.

Ihr Körper wurde von einem strahlenden Licht umhüllt, während sich ihre scharfen Klauen und gewaltigen Flügel zurückzogen.

Der Schrecken wich, und in der Stille erblühte die Menschlichkeit in ihr.

Leana sprang auf und eilte zu Emilia, die in ihre ursprüngliche Gestalt zurückkehrte.

»Bei den Göttern, geht es dir gut?«, fragte sie die junge Frau mit dem langen, blonden Haar, die zitternd am Boden lag.

Nella verstummte, ließ die Feder fallen und trat zurück.

Weinend und schluchzend setzte sich Emilia auf.

Erleichtert umarmte Leana sie. »Alles ist gut. Du bist wieder da.«

Albert kam hastig heran, vergaß seine Schmerzen und ließ die Axt fallen, um seine Tochter in die Arme zu schließen. »Emilia, du lebst!«

Evan konnte es kaum glauben. Leana hatte tatsächlich recht – der Fluch konnte gebrochen werden.

Doch auf einmal durchschnitt ein schriller Schrei die Luft.

Aufgeschreckt wandten sich die Blicke der Gruppe zu Nella, die sich beide Hände an den Kopf hielt und auf die Knie sank.

»Verdammt«, fluchte Leana, ließ von Emilia ab und sprintete zu der jungen Frau.

Auf Evans lautstarkes »Warte!« reagierte sie nicht.

Nellas Gliedmaßen zuckten unkontrolliert, ihr Körper krümmte sich in einem verzweifelten Kampf gegen die schrecklichen Schmerzen.

Aus ihren Armen sprossen lange, gefiederte Schwingen, und ihre Füße verwandelten sich in spitze Klauen – alles unter qualvollen Schreien.

»Nein, das kann nicht sein! Das kann einfach nicht wahr sein«, sagte Leana geschockt, als sie Nella erreichte.

Verzweifelt schaute sie Evan an. »Sie hat alles richtig gemacht. Der Fluch sollte gelöst sein!«

»Und hat sich nun ein neues Opfer gesucht«, gab der Halbdämon mit trockener Stimme zurück, die Emotionen hinter einer Maske verborgen.

Leana war fassungslos. Sie hatte fest daran geglaubt, dass der Umkehrungszauber wirken würde.

Evan sprintete los, das Schwert fest in der Hand.

Er wollte Nellas Leiden beenden, bevor sie zur tödlichen Gefahr werden konnte.

Es war zu spät.

Mit einem kreischenden Schrei breitete sie ihre Schwingen aus und stieß den Halbdämon zu Boden, bevor sie sich in die Luft erhob.

Ein paar Male kreiste sie über den Köpfen der Gruppe, dann nahm sie ihr erstes Ziel ins Visier.

Mit ihren scharfen Klauen voran setzte Nella zum Sturzflug an.

Erschrocken blickte Emilia zum Himmel, gelähmt von einer tiefen Angst.

Im letzten Moment stieß ihr Vater sie mit aller Kraft zur Seite, ein verzweifelter Akt, um ihr Leben zu retten – doch er selbst wurde nun zum Ziel des Angriffs.

»Nein!«, schrie Emilia. Die Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu, als sie sah, wie sich die langen, scharfen Klauen wie Messer in Alberts Körper bohrten.

Ein kurzer, quälender Schrei entrang sich seinen Lippen, doch er verstummte bald darauf.

Das Echo seines Schmerzes verhallte in der Stille des Augenblicks.

Einige Meter riss Nella den leblosen Körper mit sich, als wäre er nichts weiter als eine Puppe, ehe sie ihn in den Dreck fallen ließ.

Die Bestie erhob sich erneut in die Lüfte, wie ein unheimlicher Schatten am Himmel.

»Vater!«, schrie Emilia, ihre Stimme brüchig, während sie verzweifelt zu ihm rannte. »Was hast du getan?«

Leana sammelte all ihre verbleibende Kraft, visierte Nella mit ihren Händen an und sprach flüsternd einen Zauber.

Kurz konnte sie die Harpyie in ihren unsichtbaren Bann ziehen, doch schon einen Wimpernschlag später brach Nella aus der magischen Umklammerung, zog erneut ihre Kreise in der Luft und stürzte sich wieder auf Emilia.

Die Zauberin versuchte verzweifelt, einen weiteren Zauber zu wirken, doch das Leuchten ihres Rings erlosch, als sie die Harpyie auf die junge Frau zurasen sah.

Sie hatte keine Kraft mehr, um sich weiter gegen diesen mächtigen Fluch zu wehren.

Emilia kniete über dem Körper ihres Vaters, weinend und gebrochen, unfähig zu reagieren.

Doch in letzter Sekunde verfehlte Nella ihr Ziel.

Ein Schrei voller Schmerz entrang sich ihrer Kehle, während Blut spritzte und sie mit einem Knall auf dem Boden landete.

Verwirrte Blicke trafen sich in der Gruppe.

Die Harpyie lag regungslos auf dem Waldboden, nur ihre Gliedmaßen zuckten unkontrolliert.

Leana blickte sich irritiert um und erkannte Evan unweit von sich, seinen Arm in Richtung der Harpyie gestreckt.

Er hatte seinen Worten Taten folgen lassen und die Sache auf seine Art zu Ende gebracht.

Leana rannte verzweifelt zu Nella, die in der grotesken Fratze der Harpyie gefangen war, die nur noch schwach an die junge Frau erinnerte.

Tief in ihrer Brust steckte die Klinge von Alberts Axt.

Erschrocken beobachtete Leana, wie Evan die Axt mit einer schnellen Bewegung aus dem leblosen Körper zog.

Wortlos sahen sie sich in die Augen, Kälte spiegelte sich in Evans Blick.

»Ich weiß, was du sagen willst, aber ich hatte keine andere Wahl«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen.

»Es gibt immer eine andere Wahl«, schluchzte die Zauberin, der Schmerz in ihrer Stimme greifbar.

»Das wäre unser Tod gewesen.« Der Halbdämon betrachtete kurz die Axt, dann ließ er Leana allein.

Weiterhin kniete Emilia über dem Leichnam ihres Vaters. Sie blickte nur kurz erschrocken zu Nella hinüber.

Sie zitterte am ganzen Körper, der Kummer schloss sie ein wie ein dunkler Schleier.

Als sie aufblickte, sah sie Leuven, der mit aller Kraft versuchte, den verletzten Jakob aufrecht zu halten.

Ein Strahl heller Erleichterung durchfuhr Emilia auf einmal. Ihr Geliebter war am Leben!

»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, schluchzte sie und sprang in seine Arme.

Leuven verlor das Gleichgewicht und fiel dabei unsanft zu Boden.

Jakob kämpfte, um sich zu halten, doch als er sah, dass Emilia bei ihm war, schien auch sein Schmerz zu schwinden.

»Ich habe dich endlich gefunden«, stammelte er und biss sich auf die Lippen, als der Schmerz durch sein Bein zog.

Leuven beobachtete die beiden mit einem missgünstigen Blick.

»Na, die haben sich aber schnell gefangen«, schimpfte er leise.

Er bemerkte erst danach, dass Evan hinter ihm stand. Auch er schien mit dem Ausgang der Lage nicht vollends zufrieden.

Er reichte Leuven die Hand und half ihm wieder auf die Beine.

»Was erwartest du? Immerhin haben sich die Liebenden wiedergefunden«, sagte der Halbdämon schließlich, und ein Hauch von Sarkasmus schwang in seinen Worten mit.

»Nun«, fügte er an. »Wir haben alles getan, was wir konnten. Wir sollten uns wieder auf den Weg machen.«

Da war er wieder, der kalte Halbdämon, den Leuven nicht vermisst hatte, auf den er jedoch in gewisser Weise gewartet hatte.

Leuven schaute sich um.

Es war ein groteskes Bild. Auf der einen Seite die beiden Liebenden, die eng umschlungen ihr Wiedersehen genossen, auf der anderen die Opfer, Albert und Nella, deren Leben jäh beendet wurden.

Dann war da noch Leana, die sich selbst die Schuld dafür gab, dass der Fluch nicht gebrochen, sondern nur weitergegeben worden war.

Obwohl Leuven erahnen konnte, was in ihr vor sich ging, wollte er nicht länger in diesem Wald verweilen.

Die Zauberin kniete noch immer vor Nella, deren entstellter Körper reglos am Boden lag.

Ihre Hände zitterten, der Schweiß mischte sich mit den Tränen, die über ihre Wangen liefen.

Das Gefühl des Versagens drückte schwer auf ihrer Brust.

Sie hatte geglaubt, alles richtig gemacht zu haben – doch jetzt lag Nella tot vor ihr.

Der Fluch war nicht gebrochen, sondern hatte nur einen neuen Wirt gefunden, und die junge Frau hatte mit ihrem Leben bezahlt.

Evan trat leise hinter Leana. »Es ist Zeit zu gehen,« sagte er mit ernster Stimme.

Die Zauberin hob den Kopf nur leicht und sah ihn aus halb geschlossenen Augen an.

Für einen Moment schien es, als wolle sie widersprechen, doch dann wandte sich ihr Blick finster zu Jakob und Emilia, die sich freudestrahlend in den Armen lagen.

Ihre Erleichterung, sich wiedergefunden zu haben, stand in starkem Kontrast zu der Trauer, die Leana empfand.

»Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen. Wir müssen sie zumindest begraben,« flüsterte Leana, ihre Stimme brüchig, als sie wieder auf Nella herabschaute.

Evan sah sie an, seine Augen kalt und berechnend. »Und wie genau willst du das machen? Hast du eine Schaufel dabei?«

Leana biss die Zähne zusammen, ihre Augen glitzerten vor aufgestauter Wut und Trauer. »Nein.«

Eine bedrückende Stille senkte sich über die beiden. Der Wind raschelte durch die Bäume, und die Sonne warf lange Schatten über den Wald.

Leana überlegte.

Ihr Blick wanderte umher, suchte nach einer Lösung, nach einer Möglichkeit, Nella die letzte Ehre zu erweisen.

Dann fiel ihr Blick auf die Höhle in der Nähe, die Höhle, aus der sie Albert und Jakob befreit hatten.

»Dort,« murmelte sie leise, fast zu sich selbst. »Dort soll sie ihre letzte Ruhe finden.«

Evan folgte ihrem Blick zur Höhle, sagte jedoch nichts.

Schließlich nickte er knapp. »Wie du willst.«

Evan trat einen Schritt zurück und sah in Richtung Leuven.

Mit einer knappen Handbewegung winkte er ihn zu sich heran.

»Leuven, hilf mir,« sagte er ruhig.

Leuven eilte herbei, seine Augen weit vor Erschöpfung, doch ohne zu zögern half er Evan, den leblosen Körper der Harpyie vorsichtig anzuheben.

Gemeinsam hoben sie Nella auf, um sie in Richtung der Höhle zu tragen, die Leana als letzte Ruhestätte auserkoren hatte.

Doch plötzlich brach Emilia aus ihrer Umarmung mit Jakob los.

Ihre Augen glühten vor Zorn.

»Was tut ihr da?« schrie sie, ihre Stimme bebend vor Wut und Unverständnis. »Wieso sollte diese Kreatur eine Bestattung verdienen? Sie hat mich verflucht, mein Leben wollte sie zerstören! Ihr Tod ist nichts weiter als die gerechte Strafe für das, was sie mir angetan hat.«

Evan hielt inne und drehte sich langsam zu ihr um.

»Es spielt keine Rolle, wer sie war,« sagte er kühl. »Sie wird ihre letzte Ruhe finden.«

Emilia funkelte ihn an, ihre Hände zu Fäusten geballt. »Und mein Vater? Er ist auch tot! Hat er etwa keine würdige Bestattung verdient?« Ihre Stimme zitterte vor Anklage, als sie zwischen Evan und Leana hin und her blickte, verzweifelt auf eine Reaktion wartend.

Evan hob eine Augenbraue und sah sie mit seinem typischen emotionslosen Blick an. »Wir bringen euch ins Dorf zurück. Was ihr dann macht, kümmert mich nicht.«

Leana trat langsam vor, ihre Augen fest auf Emilia gerichtet. Ihr Gesicht war dunkel vor unterdrückter Wut und tiefer Enttäuschung.

»Vielleicht wäre das alles nicht passiert,« begann sie leise, doch jedes Wort war wie ein Dolchstoß, »wenn du Nella nicht so behandelt hättest, wie du es getan hast. Du bist auch nicht unschuldig. Deine Grausamkeit hat zu dieser Tragödie geführt.«

Emilia blinzelte überrascht und wich einen Schritt zurück, ihre Wut verwandelte sich in Unglauben.

»Ich war immer fair zu Nella,« behauptete sie trotzig. »Wenn sie sich so seltsam verhalten hat, war das ihre eigene Schuld. Sie war schon immer ein merkwürdiges Mädchen.«

Leana trat einen Schritt näher, ihre Augen blitzten vor unterdrücktem Zorn. »Fair?« Ihre Stimme war leise, doch voller Schärfe. »Ein wenig Menschlichkeit hätte genügt. Dann hätte sie den Fluch nicht als einzigen Ausweg gesehen.«

Während sich die Spannung zwischen den beiden Frauen verdichtete, schienen Evan und Leuven unbeirrt.

Sie trugen Nellas leblosen Körper in Richtung der Höhle, konzentriert und wortlos, ihre Schritte schwer von der Last, die sie trugen – nicht nur körperlich, sondern auch emotional.

Doch Emilia war nicht so leicht zu besänftigen. »Du hast keine Ahnung, Leana! Du weißt gar nicht, wie es im Dorf wirklich ist. Du kennst uns nicht und unsere Probleme auch nicht!«

Jakob legte eine Hand auf Emilias Schulter, versuchte, sie zu beruhigen. »Emilia, bitte…« murmelte er sanft, doch sie zuckte wütend mit den Schultern und trat einen Schritt von ihm weg.

»Und du!« fuhr sie fort und zeigte auf Leana. »Du hast doch selbst ein Geheimnis aus deiner Magie gemacht! Du schämst dich doch, eine Zauberin zu sein! Sonst hättest du es von Anfang an gesagt! Du versteckst dich hinter deiner Macht, weil du dich anders fühlst, nicht wahr?«

Die Worte hingen in der Luft, scharf wie Klingen. Leanas Miene veränderte sich nicht, doch in ihren Augen blitzte etwas auf – eine Mischung aus Schmerz und Wut.

Sie reagierte nicht auf Emilias Vorwürfe. Stattdessen zeigte sie mit einem kalten Blick auf Alberts leblosen Körper. »Ihr solltet euch besser überlegen, wie ihr ihn durch den Wald tragen wollt,« sagte sie schneidend, bevor sie sich umdrehte und in Richtung der Höhle ging, aus der Evan und Leuven gerade wieder herauskamen.

»Macht Platz,« zischte sie, als sie an ihnen vorbeischritt.

Leuven hob irritiert eine Augenbraue und sah Evan an. »Was ist denn in die gefahren?« murmelte er, doch Evan antwortete nicht. Stattdessen gab er Leana nur einen kurzen, bedeutungsschweren Blick und trat zur Seite.

Leuven zuckte mit den Schultern und folgte seinem Beispiel, beide entfernten sich ein Stück von der Höhle.

Leana blieb allein zurück und atmete tief durch, während ihre Hände zitterten. Doch sie konzentrierte sich.

Ihr Ring begann sanft, aber kraftvoll zu leuchten, als sie ihre Hände auf den Höhleneingang richtete.

Langsam spürte sie die Magie wieder in sich aufsteigen, fester und stärker werdend.

Der Boden unter ihren Füßen begann zu vibrieren, kleine Steinchen rollten den Hang hinab, und mit einem tiefen Grollen, das die Stille des Waldes zerriss, stürzte die Höhle vor ihr zusammen.

Der Eingang verschloss sich vollständig unter einer massiven Wand aus Felsen und Erde.

Leana senkte ihre Hände, während das Grollen verklang.

Nun fand Nella ihre letzte Ruhe, abgeschirmt von jenen, die sie einst verhöhnten.

Die Zauberin sagte kein Wort.

Ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, schritt sie an Evan und Leuven vorbei, ihr Gesicht war eine undurchdringliche Maske. Ihre Schritte trugen sie fest und zielgerichtet in Richtung des Waldes.

Jakob und Emilia schenkte sie keinerlei Beachtung, selbst als sie an ihnen vorbeikam, während die beiden heftig diskutierten.

»Wie sollen wir meinen Vater aus dem Wald rausschaffen?« erklang Emilias aufgebrachte Stimme.

Jakob versuchte, ruhig zu bleiben. »Wir könnten ins Dorf zurückgehen und ein paar Männer holen, dazu einen Karren. Damit bringen wir ihn ins Dorf.«

Doch Emilia war entsetzt. »Bis dahin reißen die wilden Tiere seinen Körper auseinander! Wir können ihn nicht einfach hier lassen!«

Leuven warf einen Blick in Richtung des streitenden Paares und dann zu Evan. Mit einem breiten Grinsen und großen Augen flüsterte er: »Man, da scheint sich ja eine harmonische Ehe anzubahnen.«

Evan, der selten auf solche Späße reagierte, schaute ihn an, und ein schwaches, kaum merkliches Schmunzeln huschte über sein Gesicht, bevor es wieder in seinen üblichen, finsteren Ausdruck zurückfiel.

Er ging wortlos an Jakob und Emilia vorbei, doch als er ihre hitzige Auseinandersetzung hörte, hielt er inne.

Sein düsterer Blick ruhte auf ihnen, und ihre Stimmen verstummten abrupt.

Ohne ein Wort zu verlieren, trat er an Alberts leblosen Körper heran, hob ihn mit scheinbarer Leichtigkeit auf seinen Rücken und setzte seinen Weg fort, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Jakob und Emilia sahen ihm verdutzt nach, unfähig, etwas zu sagen.

Leuven schlenderte an ihnen vorbei, warf einen flüchtigen Blick auf Evan und zuckte mit den Schultern. »So ist er halt,« murmelte er beiläufig und folgte dem Halbdämon in den Wald hinein.

Die Fahrt zurück ins Dorf verlief in angespannter Stille.

Leana saß mit verschränkten Armen im hinteren Teil des Wagens, starrte ins Leere und würdigte Jakob und Emilia keines Blickes.

Die beiden waren ungewöhnlich still. Ihr Unbehagen war merklich spürbar.

Obwohl es sich bei dem Leichnam vor ihnen, auf dem Boden des Karrens, um Emilias Vater handelte, fühlten sie sich unwohl in der Nähe seines toten Körpers.

Sie fürchteten, dass er aufspringen und als Wiedergänger von den Toten zurückkehren könnte – ein Gedanke, der ihnen selbst irrsinnig erschien, aber nicht irrsinnig genug, um sich nicht davor zu fürchten.

Evan warf Leana hin und wieder einen Blick vom Kutschbock aus zu und überlegte kurz, ob er ihr anbieten sollte, vorne neben Leuven Platz zu nehmen.

Doch er entschied sich dagegen. Er wollte ihr ihre Ruhe lassen und, das musste er sich selbst eingestehen, hatte er wenig Verlangen danach, sich in der Gegenwart von Emilia und Jakob zu befinden.

Nach einer Weile erreichten sie das Dorf.

Die Dorfbewohner strömten herbei, um Jakob und Emilia freudig zu begrüßen und über die Nachricht der erfolgreichen Jagd zu jubeln.

Doch als sie Alberts leblosen Körper sahen, legte sich schnell ein dunkler Schleier über das Dorf.

Während die einen trauerten und die anderen das Überleben des jungen Paares feierten, verlor niemand auch nur ein Wort über Nella.

Niemand schien sich daran zu erinnern, dass auch sie ein Opfer dieser Ereignisse gewesen war, selbst wenn sie nicht unschuldig war.

Leana, die das aus der Ferne beobachtete, spürte, wie die Wut wieder in ihr aufstieg.

Es war für sie unbegreiflich, dass Nella keine Bedeutung für diese Menschen hatte.

Ohne ein einziges Wort wandte sie sich ab und ging.

Evan bemerkte ihre Abwesenheit.

Sein Blick folgte ihr, und nach einem Moment des Zögerns stand er vom Kutschbock auf und ging ihr nach.

Dies wiederum entging Leuven nicht, der, neugierig wie er nun einmal war, ebenfalls beschloss, ihnen zu folgen.

Als Evan Leanas Schneiderei erreichte, beobachtete er, wie sie hastig ein paar Kleidungsstücke in einen Sack stopfte.

Die Stimmung im Raum war schwer und angespannt.

Vorsichtig trat er ein, gefolgt von Leuven, der sich hinter ihm befand, unsicher, ob er eintreten sollte oder nicht.

»Du verlässt das Dorf?« fragte Evan knapp, seine tiefe Stimme durchbrach die Stille.

Leana hielt kurz inne, ihr Rücken ihm zugewandt. »Was soll mich noch hier halten?«

Ihre Stimme war scharf, durchzogen von Enttäuschung und Wut. »Es wird sich schnell herumsprechen, dass ich keine talentierte Schneiderin bin, sondern eine Zauberin. Vielleicht werden sie mich sogar als Hexe beschimpfen oder mir die Schuld an diesem Fluch zuschieben. Ich kann das Verhalten dieser Menschen nicht länger ertragen.«

Mit zitternden Händen stopfte sie hastig weitere Kleidungsstücke in den Sack, getrieben von Frustration.

Plötzlich drehte sie sich herum und ging entschlossen zu ihrem Bücherregal.

Mit zielgerichteten Bewegungen griff sie nach einigen Büchern, die sie auf dem Nähtisch ausbreitete.

Einen kurzen Moment betrachtete sie die Seiten, als suche sie etwas Bestimmtes.

Dann stapelte sie die Bücher ordentlich und legte sie zu ihren restlichen Habseligkeiten.

Evan beobachtete sie still, seine Augen auf ihren Rücken gerichtet. »Ich verstehe dich,« sagte er ruhig. »Aber was ist dein Plan?«

Sie wandte sich langsam zu ihm um, ihre Augen müde und resigniert. »Ich habe keinen konkreten Plan. Ich will einfach nur schnell aus diesem Dorf verschwinden. Alles hier erdrückt mich.«

In diesem Moment meldete sich Leuven zu Wort, seine Stimme unauffällig, aber bestimmt. »Im Karren ist noch genug Platz,« sagte er. »Wir könnten vorerst zu dritt weiterreisen, bis zur nächsten Stadt. Es wäre sicherer, als alleine zu gehen.«

Evan und Leana sahen Leuven überrascht an. Seine Worte hingen einen Moment lang in der Luft.

Schließlich schüttelte die Zauberin ihren Kopf und sah die beiden entschlossen an. »Es ist das Beste, wenn ich allein gehe. Das sind meine Probleme.«

Sie band ihre Bücher fest mit einem Gürtel zusammen und wandte sich wieder Evan und Leuven zu. Doch als ihr Blick auf die Tür fiel, bemerkte sie eine weitere Person.

Es war die alte Dame, die Evan am Vortag zu Leana geschickt hatte.

Ihre Anwesenheit ließ die Zauberin überrascht aufblicken.

»Grete?« fragte Leana, ihre Stimme eine Mischung aus Verwirrung und Erstaunen.

Die alte Dame trat wortlos in die Schneiderei ein, ihr Blick ruhig und unbeirrt von den dreien.

Sie nahm die Szene um sich herum in Ruhe wahr, ohne sofort ein Wort zu verlieren.

»Was tust du hier?« fragte Leana verwundert, als sie die alte Dame ansah.

»Ich wollte mich verabschieden,« antwortete Grete mit einer besonnenen Stimme.

Leana war überrascht und fragte: »Verabschieden, woher wusstest du…?«

Grete lächelte sanft und streckte ihre Hand aus.

Plötzlich begann eine Rose aus ihrer Hand zu wachsen, ihre Blütenblätter öffneten sich langsam und verströmten einen feinen Duft.

Es wurde Leana sofort klar, dass Grete ebenfalls eine Zauberin war.

Die Erkenntnis ließ sie aufmerken, und sie beobachtete fasziniert, wie sich die Rose vollständig entfaltete.

»Es ist wichtig,« begann Grete mit ruhiger Stimme, »seine Kräfte für das Gute einzusetzen. Man sollte sich nicht verstecken und seine Fähigkeiten verkommen lassen. Andernfalls wird die eigene Magie schwächer, bis sie schließlich ganz erlischt.«

Die Blütenblätter schlossen sich wieder.

Leana sah Grete nachdenklich an. »Was würdest du an meiner Stelle tun?« fragte sie schließlich.

Grete überlegte kurz und antwortete dann: »Wenn ich noch einmal in deinem Alter wäre, würde ich das Abenteuer suchen und meine Kräfte nutzen, um anderen zu helfen. Es gibt da draußen genügend Menschen, die Hilfe brauchen.«

Leana warf einen kurzen Blick zu Evan und Leuven.

Ein Halbdämon und ein Kaufmann – das schrie für sie nicht nach Abenteuer, sondern nach Problemen.

»Ich kann das nicht,« sagte Leana schließlich zur alten Dame. »Ich werde mir einen anderen Ort suchen, an dem ich mich niederlassen kann.«

Grete schüttelte den Kopf. »Das ist kein Weg. Es wäre nur Flucht. Du hast das Potenzial, Gutes zu tun. Du solltest es nicht verschwenden.«

Leuven, der die Unterhaltung aufmerksam verfolgte, betonte: »Das Angebot steht noch. Wir haben Platz. Vielleicht hilft es dir, wenn du erst einmal mit uns kommst, zumindest bis du dir darüber im Klaren bist, was du tun möchtest.«

Evan zuckte mit den Schultern und schwieg, aber sein Blick verriet, dass er keine Einwände hatte.

Leana überlegte einen Moment und wandte sich dann erneut an Grete. »Ist das wirklich die richtige Entscheidung für mich?«

Grete lächelte sanft. »Es ist deine Entscheidung, aber ich gebe dir diesen Rat: Verschwende deine Fähigkeiten nicht.«

Leanas Gedanken wirbelten durcheinander, während sie über die Worte der alten Dame nachdachte.

Schließlich nickte sie und sagte: »In Ordnung. Ich werde mit euch bis zur nächsten Stadt reisen. Danach werde ich sehen, wie es weitergeht.«

Leuven lachte auf und meinte schmunzelnd: »Das habe ich schon einmal gehört.«

Dabei warf er einen Blick auf Evan, der mit einem finsteren Ausdruck antwortete.

Leana wandte sich an Grete. »Danke für deinen Rat. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde, aber ich werde mir die Zeit nehmen, es herauszufinden.«

Gemeinsam mit Evan und Leuven verließ Leana die Schneiderei, aber nicht, ohne sich noch einmal mit einem warmen Lächeln von der alten Dame zu verabschieden.

Sie hatte nur das Nötigste dabei; den Rest ihrer Besitztümer ließ sie zurück, da sie für sie keinen Wert mehr hatten.

Grete beobachtete sie aufmerksam, während sie sich entfernten, blieb jedoch in der Schneiderei stehen und ließ ihre Gedanken schweifen.

Langsam schlenderte sie durch den Raum, ihre Finger strichen über die Stoffe, die auf den Kleiderpuppen im Vorraum hingen.

Sie betrachtete die eleganten Kleidungsstücke mit einem Lächeln, das jedoch zunehmend finsterer wurde.

Schließlich verwandelte sich das Lächeln in ein wildes Grinsen, das sich bald in lautes Lachen steigerte.

Das Gesicht der alten Dame begann zu zucken und zu wabern; ihre Körpergröße wuchs, und ihr Haar wurde dunkler.

Grete verschwand, und an ihrer Stelle stand ein junger Mann mit einem verrückten Blick.

»O Rikard, was hast du hier nur für ein Chaos angestellt? Dabei hättest du mir doch auch ein wenig Spaß lassen können,« murmelte er, während eine Fensterluke einen Spalt öffnete und auf Leana, Evan und Leuven schaute, die zum Dorfplatz zurückgingen.

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Es war Abend geworden, und das Lagerfeuer knisterte sanft, während über den Flammen ein paar Fische brutzelten.

Ein ruhiger Bach plätscherte in der Nähe, und Ida, Leuvens Stute, war vom Karren abgespannt worden, damit sie in der Nähe grasen konnte.

Leuven schob sich ein Stück Fisch in den Mund und bemerkte schmatzend: »Es war wirklich nett von den Dörflern, dass sie uns Proviant mitgegeben haben, obwohl sie selbst nicht viel hatten. Ich war schon am Verhungern.«

Leana nickte kurz, ging jedoch nicht weiter auf seine Bemerkung ein. Sie starrte gedankenverloren auf ihren Teller, auf dem ein gegrillter Fisch lag, während Evan sie aufmerksam beobachtete. Schließlich wandte er sich an sie.

»Was sind deine weiteren Pläne?«, fragte er.

Leana sah ihn an und schüttelte leicht den Kopf. »Ich weiß es noch nicht.«

Evan überlegte kurz. »Viele Zauberer zieht es nach Cadeira oder Brilonia. Vielleicht findest du dort etwas, das dir zusagt.«

Leana zog eine Augenbraue hoch. »Das interessiert mich nicht. Ich möchte in Brünnen bleiben.«

»Was hält dich an Brünnen?«, fragte Evan neugierig.

Leana antwortete kurz und bündig: »Das geht nur mich etwas an.«

Evan nickte verstehend, obwohl er die Antwort nicht ganz nachvollziehen konnte. Es war offensichtlich, dass Leana ihre Gründe für den Wunsch, in Brünnen zu bleiben, nicht teilen wollte.

Mit vollem Mund schmatzte Leuven. »Naja, wir sind auf dem Weg zur Küste. Vielleicht findest du dort einen Ort, an dem du bleiben kannst.«

Die Zauberin sah ihn an und antwortete ruhig: »Vielleicht. Es könnte eine Möglichkeit sein.«

Leuven nickte und fügte hinzu: »Aber du bist nicht mitgekommen, um dich wieder zu verstecken. Du wolltest anderen helfen. Das kannst du am besten, wenn du deine Kräfte voll nutzt.«

Dann verfiel Leuven in Albernheit. »Übrigens, die Lichtkugel, die du in der Höhle erschaffen hast, war echt beeindruckend. Vielleicht könntest du nachts als Laterne arbeiten!«

Leana warf ihm einen bösen Blick zu, der Leuven jedoch nicht zu stören schien.

»Du musst dich daran gewöhnen oder es einfach ignorieren. Das versuche ich jedenfalls«, gab Evan schmunzelnd zurück.

Leuven war empört. »Wenn du die Kathedrale von Ravensberg nicht in Flammen gesteckt hättest, müssten wir jetzt nicht flüchten!«

Die Zauberin erstarrte, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Du hast was?« fragte sie und fürchtete, dass sie durch ihre Reise mit den beiden möglicherweise selbst zur Zielscheibe werden würde.

Evan versuchte, sie zu beruhigen. »Ich habe die Kathedrale nicht in Flammen gesteckt«, sagte er.

Doch die Zauberin war nicht überzeugt, besonders als Leuven schmatzend hinzufügte: »Die Stadtwache denkt das jedoch. Da ich dir zur Flucht verholfen habe, sind wir jetzt beide Kriminelle.«

Leana schnaubte und wandte sich ab. Der Gedanke, nun auch noch als Kriminelle gejagt zu werden, verstärkte nur ihre Besorgnis. Sie war sich unsicher, ob sie den neuen Entwicklungen gewachsen war.

Evan sah Leana mit einem beruhigenden Blick an. »Mach dir keine Sorgen, bisher haben wir keine Wachen gesehen, die uns verfolgen.«

Leana war jedoch nicht zu beruhigen. Mit einem tiefen Seufzer stellte sie ihren Teller mit dem halb gegessenen Fisch auf den Boden und stand frustriert auf. »Ich werde jetzt schlafen gehen«, erklärte sie und wandte sich entschlossen vom Lagerfeuer ab.

Leuven beobachtete sie und dachte kurz darüber nach, dass ihr Verhalten übertrieben wirkte. Doch dann überdachte er seine Worte noch einmal und kam selbst zu dem Schluss, dass sie abschreckend wirken, selbst auf ihn, nachdem er sie in Gedanken wiederholte.

Plötzlich hörten Evan und er seltsame Geräusche.

Sie horchten auf und bemerkten, dass Leana gerade ihre Schlafrollen aus dem Karren geworfen hatte.

Sie schien entschlossen, sich ein kleines Areal für sich allein zu schaffen.

Leuven sah zum Karren hinüber und war sichtlich verärgert. »Was soll das denn jetzt werden?«, fragte er.

Leana, die kurz ihren Kopf aus der Plane streckte, antwortete ruhig, aber bestimmt: »Ich brauche meine Privatsphäre und Ruhe. Das hier ist kein Gastzimmer, aber ich muss wenigstens einen Ort haben, an dem ich mich ungestört fühlen kann.«

Leuven konnte seinen Unmut nicht verbergen. »Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas. Wir haben andere Probleme, als uns mit deinen Schlafgewohnheiten auseinanderzusetzen! Wir müssen uns beeilen, und du machst es nur komplizierter.«

Evan, der das Schlafen unter freiem Himmel gewohnt war, nahm die Situation eher gelassen zur Kenntnis.

Er lehnte sich zurück und starrte in den klaren Sternenhimmel.

Der Streit zwischen Leana und Leuven entbrannte währenddessen weiter.

Leana versuchte, sich in ihrer Schlafrolle gemütlich einzurichten und wandte dem Gespräch den Rücken zu, während Leuven lauter wurde und seine Frustration kundtat.

Evan beobachtete die beiden mit einem milden Schmunzeln, während er seine Gedanken auf die Reise richtete.

Trotz der Unannehmlichkeiten und der Streitigkeiten hoffte er, dass sie ihre Reise fortsetzen und bald ihr Ziel erreichen würden.

Es war ihm klar, dass es noch viele Herausforderungen geben würde, aber er war entschlossen, den Weg bis zum Ende zu gehen – auch wenn es bedeutete, sich mit gelegentlichen Konflikten auseinanderzusetzen.

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