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Kapitel 3: Die Schneiderin

Beschreibung: Evan und Leuven haben Ravensberg verlassen und setzen ihre Reise gen Norden fort. Ihr Weg führt sie durch ein Waldstück, das anfangs noch ruhig erscheint, doch plötzlich passiert etwas unerwartetes: Ein Mann fällt vom Himmel!

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Teil 4

Es war erst zum Morgengrauen, als sie das Dorf erreichten.

Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch den dichten Nebel, der sich über das Dorf gelegt hatte, und die Bewohner, die aufgeregt ihre neugierigen Blicke auf die Ankömmlinge richteten, beobachteten sie mit einer Mischung aus Angst und Ungeduld.

Als sie das Haus der Schneiderin betraten, blieb ein verstörtes Murmeln in der Luft zurück.

Die Dorfbewohner fragten sich, wo die anderen Männer geblieben waren, die in der Nacht zuvor zur Jagd aufgebrochen waren.

Ihre Fragen verblassten jedoch in der Stille des Morgens, als sie stumm zurückgelassen wurden.

Leana ließ mit einem dumpfen Geräusch einen Stapel verstaubter Bücher auf ihren Tisch fallen.

»Schau hier nach, ob du etwas finden kannst«, befahl sie, während sie Leuven ein altes, in abgewetztes grünes Leder gebundenes Buch reichte.

Leuven nahm das Buch mit zitternden Händen entgegen und betrachtete die goldene Verzierung auf dem Umschlag. »Dunkle Flüche und magische Aufhebungen«, murmelte er, als er den Titel las.

Er ließ sich auf einen alten, roten Sessel in einer Ecke der Schneidestube sinken, dessen Polsterung schon längst ihren Glanz verloren hatte.

Leana überreichte auch dem Halbdämon ein altes Buch. Der braune Einband trug die aufgedruckten Worte »Teuflisch magische Wesen und dämonische Flüche«.

»Du scheinst einige Werke über dunkle Magie zu besitzen«, bemerkte der Halbdämon mit einem schiefen Grinsen.

»Nun«, entgegnete Leana mit einem dunklen Blick, »es steht nicht geschrieben, wie man solche Magie anwendet. Das wäre die größte aller Sünden. Doch vielleicht finden wir einen Weg, diesen Fluch zu brechen.« Ihre Worte waren ein Versprechen von Hoffnung und Verzweiflung zugleich.

Leuven erhob seinen Kopf. »Also, um es richtig zu verstehen: Du willst diese Harpyie in einen Menschen zurückverwandeln? – Sie hat so vielen das Leben genommen. Warum tust du das?«

»Die Harpyie«, sagte Leana mit einem verfinsterten Gesichtsausdruck, »heißt Emilia. Ja, ich will sie zurückverwandeln. Sie ist ein unschuldiges Mädchen. Sie verdient nicht die Strafe für die Taten, die ihr angetan wurden. Die wahre Schuld liegt bei dem, der ihr dieses Unheil gebracht hat.«

»Also suchen wir nun den, der sie verwandelt hat?« Leuven runzelte die Stirn. »Irgendwie kommt mir das bekannt vor.«

Evan wandte sich an Leana, ignorierte Leuvens Gedanken und sprach mit ernster Miene. »Wir müssen uns jedoch darauf vorbereiten, dass wir, falls wir diesen Fluch nicht brechen können, andere Mittel in Betracht ziehen müssen.«

»Ich weiß«, erwiderte Leana. Sie war fest entschlossen, irgendwo in den unzähligen Seiten ihrer Bücher die Antwort zu finden, die sie so verzweifelt suchte.

Die Zauberin wandte sich einem großen, bereits geöffneten Buch auf ihrer Arbeitsplatte zu. Die Seiten flüsterten von längst vergessenen Geheimnissen, als sie sich über die fahlen Buchstaben beugte.

Die Stunden verstrichen in schwerer Stille. Nur das geduldige Rascheln der Buchseiten und gelegentliches Räuspern durchbrachen die drückende Ruhe.

Leuven kämpfte gegen die Schwere seiner Augenlider an, die ihn immer wieder ins Reich des Halbschlafs ziehen wollten.

»Das führt zu nichts«, brummte Evan schließlich und schlug das Buch mit einem dröhnenden Knall zu.

Leuven zuckte zusammen, fuhr wie vom Blitz getroffen auf und stand plötzlich kerzengerade vor dem Sessel. »Ich bin wach, ich bin wach«, sagte er aufgeschreckt.

Leana seufzte tief und ließ ihren Blick resigniert auf das Buch sinken. »Das Einzige, was ich gefunden habe, ist ein Ritual, bei dem wir einen Trank brauen müssen.«

»Das ist schon einmal etwas«, erwiderte Evan mit einem leichten Anflug von Hoffnung.

»Doch die Hälfte der benötigten Kräuter wächst hier nicht, und der Trank müsste fast dreißig Tage ziehen«, erklärte Leana müde. »Das können wir also wohl vergessen.«

»Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig, als die Klinge sprechen zu lassen«, schlug Evan vor.

»Wenn wir wüssten, wer den Fluch über Emilia verhängt hat, könnte uns das weiterhelfen«, entgegnete Leana. »Aber weder Albert noch Jakob noch jemand anderes aus dem Dorf hat das nötige Wissen dazu.«

»Und was würde uns das nützen?« Leuven runzelte die Stirn.

»Wir könnten es mit einem Entbannungszauber versuchen.« Leana blätterte in ihrem dicken Buch, dessen Seiten geheimnisvoll flüsterten. »Flüche können oft von der Person rückgängig gemacht werden, die sie ausgesprochen hat.«

»Es sei denn, es handelt sich um einen ewigen Fluch«, warf Evan ein.

»Was genau ist ein ewiger Fluch?« fragte Leuven mit besorgtem Blick.

Leana versuchte es ihm zu erklären. »Ein ewiger Fluch ist so mächtig, dass selbst derjenige, der ihn ausgesprochen hat, ihn nicht zurücknehmen kann. Solche Flüche sind die finstersten Überreste der dunklen Magie und werden aus purem Hass und Verzweiflung gewirkt.«

»Das klingt furchterregend«, murmelte Leuven. »Plötzlich wird man ohne Vorwarnung verflucht und findet sich mit Flügeln wieder. Ich hätte nie gedacht, dass solche Dinge wirklich existieren.«

»Die Welt birgt viele Geheimnisse, die sich nicht leicht erklären lassen«, sagte Evan und ließ einen nachdenklichen Blick durch den Raum gleiten. »Du hast doch selbst gesehen, welche Schrecken im Dunkeln lauern.«

Plötzlich klopfte es mit ungestümer Dringlichkeit an der Tür, und eine panische Stimme hallte durch das Haus.

»Leana! – Leana, bitte öffne die Tür!«, hallte es durch die Tür, durchdrungen von verzweifelter Angst.

Leana blickte erschrocken auf, als das hastige Klopfen durch den Raum hallte. Mit zitternden Händen öffnete sie die Tür, die laut knarrte.

Eine junge Frau, deren lockiges, dunkles Haar in wirren Strähnen um ihr Gesicht fiel, taumelte über die Schwelle. Ihre Augen suchten wild umher, und ihre Atmung war hastig und unregelmäßig.

»Nella?«, fragte Leana überrascht. »Was machst du hier?«

Die junge Frau trat in den Raum, die Panik in ihren Augen war unverkennbar. Sie wandte sich hastig an Leana. »Du warst im Wald, was ist passiert?«

Ihre Worte waren gepresst, ihre Körperhaltung war angespannt. Sie schritt verzweifelt auf Evan zu.

»Wo sind die Männer?« Ihre Stimme brach.

Leana versuchte, Nella zu beruhigen, doch die junge Frau war nicht zu bändigen. Ihre Hände griffen um sich, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Nun«, begann Evan mit einem tiefen Seufzer, der den Raum mit schwerer Last erfüllte. »Sie haben es nicht geschafft.«

Leuven sprang vom Sessel auf, um der jungen Frau Platz zu machen. Doch diese ignorierte seine Geste und ging wild im Raum auf und ab.

»Was ist mit Jakob?«, fragte Nella. Ihre Stimme zitterte vor schmerzhafter Angst. »Wie geht es ihm?«

Evan, der bis dahin ruhig und gelassen war, verzog das Gesicht. »Jakob? Warum interessiert dich ausgerechnet der junge Bauer?«

»Ich muss wissen, ob es ihm gut geht!« Nellas Stimme war von verzweifelter Hoffnung durchzogen, während ihre Augen wie versteinert auf Evan starrten. Die Stille, die dem Raum folgte, war drückend und schwer.

Das Schweigen war schmerzhaft. Nella wandte ihren Blick zu den verstreuten, alten Büchern auf dem Tisch.

Leanas Panik war dem Halbdämon nicht entgangen.

Die Zauberin, die sich immer nur als die örtliche Schneiderin präsentiert hatte, kämpfte jetzt mit einer Verzweiflung, die sie nicht mehr verbergen konnte. Ihre Augen verrieten mehr, als Worte es jemals könnten.

»Was sind das alles für seltsame Bücher?«, fragte Nella mit kritischem Blick.

Leanas Lippen bebten, ihre Gedanken kreisten wild umher. Doch ehe sie einen Ton von sich geben konnte, sprang Evan ein. »Ich bin ein Zauberer«, sagte er trocken.

Die Schneiderin und der Kaufmann schauten ihn verdutzt an.

»Ihr seid ein Zauberer?«, fragte Nella und zog die Stirn kraus. »Ihr seht nicht aus, wie ein Zauberer.«

»Wie sieht denn ein Zauberer aus?«, stellte Evan stattdessen als Gegenfrage.

Die junge Frau antwortete nicht.

Genau wie schon an den Toren der Burg Haren versuchte der Halbdämon, mit einer ungewohnten Selbstverständlichkeit in seiner Stimme zu sprechen. Damals hatte es geklappt, wenn auch mit der Hilfe von Marie, die die Wachen am Tor überzeugen konnte.

»Nein«, gab Nella nach kurzer Überlegung zurück. »Ich glaube euch nicht.«

Mit einem schiefen Blick schaute Leuven den Halbdämon an. Er fand das Auftreten des Halbdämons vor den Toren der Burg bereits seltsam, doch in dieser Situation kam ihm das Ganze nur noch seltsamer vor.

Nella hingegen brauchte nicht lange zum Überlegen. Ihr Blick wanderte zu Leana hinüber. »Ich habe einige Gerüchte gehört. Manch einer im Dorf sagt, du bist eine Hexe. Dummes Gelaber, dachte ich. Aber sie scheinen wirklich Recht zu behalten.«

Leana zitterte am gesamten Körper. »Das ist doch Unsinn. Ich bin eine einfache Schneiderin.«

»Ach ja?«, Nella schaute sie scharf an. »Weshalb sind dann diese beiden Männer bei dir? Sind es überhaupt Dämonenjäger? – Außerdem brauchst du mich nicht für dumm halten. Ich sehe doch, dass diese Bücher aus deinem Regal stammen.«

Es fiel der Zauberin schwer, eine Antwort zu finden; die Gedanken kreisten wieder in ihrem Kopf.

Nella aber schien sie deswegen nicht anklagen zu wollen. »Du willst Emilia retten, oder?«

Es wurde still im Raum; man hätte einen Stecknadelkopf fallen hören können.

»Was hast du mit der Tochter des Müllers zu tun?«, fragte Evan misstrauisch.

Leana übernahm das Wort. »Nella ist eine Freundin von Emilia. Selbstverständlich macht sie sich Sorgen.«

Sorgen. Der Halbdämon erkannte zwar Sorge im Gesicht der jungen Frau, aber es schien noch etwas mehr dahinterzustecken.

»Und weiter?«, fragte Evan kalt.

Die Zauberin schaute ihn finster an.

Nella aber schien wirklich noch etwas zu verbergen.

»Nun«, begann sie mit zittriger Stimme zu sprechen. »Ich kann vielleicht helfen.«

Dann wandte sie sich wieder an Leana. »Mach mir nichts vor, du bist keine einfache Schneiderin.«

Na toll, dachte sich Leana. Da kam sie dem Halbdämon zur Hilfe und sogleich war ihre Tarnung aufgeflogen.

Sie seufzte. »Das stimmt. Ich bin aber auch keine Hexe. Ich bin eine Zauberin und war an der Akademie.«

Nellas Augen begannen zu leuchten. »Dann hatte ich Recht. Wirst du uns helfen?«

»Ich, ich versuche es zumindest«, gab die Zauberin stammelnd zurück.

Evan machte einen Schritt nach vorne und fixierte Nella mit einem fordernden Blick. »Aber zuerst musst du uns sagen, was du weißt.«

Nella seufzte und sah nervös im Raum umher, während ihre Finger unruhig an ihrer Hüfte tippten. Schließlich begann sie, die Ereignisse zu schildern.

Nella war deutlich unwohl, als sie die Stille im von Kerzenlicht erleuchteten Raum durchbrach. »Es gibt noch etwas, das ihr wissen müsst«, begann sie zögerlich. »Jakob und ich, wir waren ein Paar.«

Evan zog keine Augenbraue hoch und zeigte keine Reaktion. Sein Gesichtsausdruck blieb neutral, als ob ihn diese Information nicht besonders überraschte.

Leana und Leuven hingegen waren sichtbar überrascht.

Die Schneiderin starrte Nella mit offenem Mund an, während Leuven ungläubig die Augen weit aufriss.

»Jakob… und du?« fragte Leana, als ob sie sich vergewissern musste, dass sie sich nicht verhört hatte.

Nella nickte. »Ja. Seit mehreren Monaten. Wir wollten das Dorf verlassen. Gemeinsam ein neues Leben aufbauen.«

Evan stand weiterhin regungslos da. Nur sein neugieriger Gesichtsausdruck verriet sein Interesse. »Aber war er nicht mit Emilia verlobt?«

»Das stimmt«, seufzte Nella.

Sie vermied es, Blickkontakt mit jemandem im Raum aufzunehmen. »Aber Jakob wollte das nicht. Es war alles die Idee seines Vaters.«

»Und Emilia, wusste sie davon?«, fragte Leana neugierig.

Nella zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. Ihre Fäuste ballten sich. Nur der Halbdämon schien es bemerkt zu haben und beobachtete sie nun noch kritischer.

»Sie wusste es«, zischte Nella. »Diese Schlampe wusste es, aber es war ihr egal. Sie wollte Jakob für sich allein.«

Ihre Stimme änderte sich. Es lag jetzt etwas Unheilvolles darin. »Ich bereue nicht, was ihr passiert ist. Sie hat es verdient.«

Evan versuchte, ihre Worte zu deuten, aber Nella war geschickt darin, ihre Emotionen zu verbergen.

»Und was ist passiert?«, fragte Leana, obwohl sie bereits eine Ahnung hatte.

Der Halbdämon schien ebenfalls zu einer Schlussfolgerung gekommen zu sein. »Also hast du nach einem Weg gesucht, sie loszuwerden.«

Nellas Gesicht wurde blass. Ihre Wut verschwand und wurde von Angst ersetzt. »Wir… wir… es war nicht so«, stammelte sie.

»Wie war es dann?«, verlangte Evan nach einer Antwort, die Arme herausfordernd vor der Brust verschränkt.

Nella seufzte abermals. Ihr gesamter Körper entspannte sich. Sie schien zu wissen, dass sie aus dieser Sache nicht mehr herauskommen würde.

»Nun, es war so«, begann sie, und dieses Mal suchte sie den Blickkontakt zu den anderen. »Jakob und ich wollten lediglich, dass Emilia von ihm ablässt. Wir haben nach irgendeinem Grund gesucht, weshalb sie das Interesse an ihm verlieren würde. Er ignorierte sie, wies sie ab, doch alles half nichts. Da kam dieser Mann ins Dorf.«

»Welcher Mann?« Evan wurde hellhörig.

»Es war ein älterer Mann. Er schien auf der Durchreise zu sein. Jakob und ich tranken ein paar Bier in der Taverne; da schien er unser Gespräch belauscht zu haben. Er erzählte uns von seinen Reisen und letztendlich davon, dass er uns helfen könne. Mit einer Art Ritual; wir dürften es aber niemandem sagen. Er fürchtete wohl, als Hexer erkannt zu werden.«

»Ein dunkler Magier vielleicht«, überlegte Leana und zog nachdenklich die Stirn kraus. »Aber was hätte dieser davon?«

Evan schaltete sich wieder ein. »Und ihr zwei habt sofort zugestimmt, eure Freundin in eine Harpyie zu verwandeln? – Ich habe schon vieles gesehen und gehört, aber das erscheint mir doch zweifelhaft.«

»Nein!«, stieß Nella aus. »Wir wussten nicht, dass das passieren würde!«

Tränen rannen ihr Gesicht herunter. »Ich habe sie gehasst, aber das war nicht unsere Absicht. Er meinte, das Ritual würde dafür sorgen, dass Emilia das Interesse an Jakob verlieren würde, nicht, dass sie sich in ein Monster verwandeln würde. Ich schwöre, das ist die Wahrheit.«

»Wie genau lief das Ritual ab?«, fragte Leana aufgeregt. »Nella, ich muss genau wissen, was ihr getan habt. Gab es irgendwelche Zutaten, Formeln, besondere Gegenstände?«

»Nun, ähm, ja«, schluchzte Nella, und ihr war deutlich anzusehen, dass sie ihre Gedanken sammelte. »Der Mann gab uns ein Pulver. Ein bräunliches Pulver. Es roch nach… ich weiß nicht.«

»Bitte denk nach!«, prustete Leana und wanderte aufgeregt zu ihrem Bücherregal. Wild schien sie nach einem bestimmten Buch zu suchen.

»Es roch irgendwie nach Lavendel, aber auch leicht nussig. Außerdem gab er uns ein Stück Papier mit einem Spruch, den wir aufsagen sollten«, fuhr Nella fort.

Ein »Aha!« entfuhr Leana, und sie griff nach einem Buch mit ledernem Einband. »Ganz klar schwarze Magie, beziehungsweise ein Fluch. Leider einer, den man nicht leicht brechen kann.«

Die Zauberin blätterte durch die Buchseiten und ging dabei im Raum auf und ab. »Die Worte auf dem Zettel, in welcher Sprache waren sie geschrieben?«

»Das weiß ich nicht.« Nella schüttelte den Kopf. »Wir konnten die Worte kaum aussprechen. Sie klangen seltsam.«

Evan stöhnte genervt laut auf. »Ihr konntet die Worte kaum aussprechen und habt sie dennoch ausgesprochen?«

Nella blickte zu Boden, die Schamesröte in ihrem Gesicht.

»Wie dumm muss man sein?«, fügte der Halbdämon an und wurde schließlich von der Zauberin unterbrochen. »Genug jetzt. Das könnte uns vielleicht sogar helfen.«

»Wie denn das?«, mischte sich nun Leuven ein, der ansonsten still in der Ecke stand und die Situation mit einem Erstaunen im Gesicht beobachtete.

»Schlampig ausgeführte Flüche lassen sich leichter brechen«, fuhr Leana fort. »Wir haben es hier mit einem gefährlichen Fluch zu tun, für den man tief in die schwarze Magie eintauchen muss. Es macht schon einen Unterschied, ob ein gelernter Magier diesen ausübt oder ein Laie.«

Sie wandte sich wieder Nella zu. »Jakob und du, ihr seid keine Magier. Hat dieser Mann euch irgendeinen Gegenstand gegeben, der für das Ritual wichtig war?«

»Ähm, ja, tatsächlich«, gab diese zurück. »Eine Feder. Sie war seltsam.«

»Inwiefern?«

»Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas von ihr ausging. Sie pulsierte in meiner Hand. Aber vielleicht war das auch einfach meine Aufregung.«

Leana klappte das Buch vor ihrer Nase zu. Staub verteilte sich um ihr Gesicht herum. »Dann ist der Fall klar.«

Gebannt starrten die Anwesenden sie an.

»Hast du das Stück Papier und die Feder noch?«

Nella nickte zögerlich.

»Geh und bringe sie her. Wir werden diesen Fluch brechen.«

Abermals nickte Nella und machte sich geschwind auf den Weg.

Mit einem misstrauischen Blick wandte sich Evan an die Zauberin, die ihren Stolz kaum verbergen konnte. »Verrätst du mir, was los ist?«

»Tja, offenbar wurden Nella und Jakob übers Ohr gehauen. Nichtsahnend haben sie einen Fluch ausgelöst, der Emilia in eine Harpyie verwandelt hat, anstatt dass sich ihre Gefühle zu Jakob veränderten.«

»Das ist mir bereits klar, aber ich traue dem Ganzen nicht«, gab der Halbdämon zurück. »So dumm kann doch niemand sein, einen Fluch zu wirken, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen. Ich habe Jakob erlebt. Er hat nicht die Eier dazu, um so etwas durchzuführen.«

»Was meinst du?«, fragte Leana verwirrt.

»Meinem Gefühl nach hat er sich ernsthafte Sorgen um Emilia gemacht. Weshalb sollte er sich sonst der Suche nach ihr angeschlossen haben? – Allerdings wirkte er auf mich auch sehr ängstlich.«

»Er wusste die ganze Zeit, was mit Emilia passiert war. Er hatte Schuldgefühle, wollte es wieder gutmachen, und das man Angst hat, wenn man einer Harpyie begegnet, sollte nicht verwundern«, wandte die Zauberin ein.

»Irgendetwas ist hier total faul. Ich traue dem Mädchen nicht«, grummelte Evan.

»Ich im Übrigen auch nicht«, warf Leuven ein und hob einen Finger, um zu signalisieren, dass er ebenfalls anwesend war.

Leana schüttelte ihren Kopf, als wolle sie die Worte gar nicht hören. »Emilia hat sich in die Beziehung der beiden eingemischt. Ich sage ja nicht, dass es klug war, was sie getan haben, aber vielleicht sahen sie es als die einzige Möglichkeit, nachdem sie alles andere versucht haben. Es ist grausam, was passiert ist und unentschuldbar, aber wir haben die Möglichkeit, es wieder gutzumachen.«

»Wiedergutzumachen?« Evan schaute sie ungläubig an. »Unschuldige Menschen sind gestorben. Wie soll man das wiedergutmachen?«

»Nun«, Leana blieb kurz die Luft weg, dann explodierte es aus ihr heraus. »Was sollen wir denn sonst tun? – Wenn wir nur untätig herumsitzen, dann wird es nur noch schlimmer.«

»Ich sage ja auch nicht, dass wir untätig sein sollen«, gab der Halbdämon grimmig zurück. »Ich sagte nur, dass ich dem Mädchen nicht traue. Ich glaube, dass sie uns nicht die ganze Wahrheit gesagt hat, und wenn du dich irrst, dann werden wir die nächsten auf der Speiseliste der Harpyie sein.«

»Warum sollte sie uns anlügen? – Sie will, genau wie alle anderen, dass der Spuk endlich ein Ende hat. Um ihre Strafe müssen wir uns nicht sorgen.«

»Weißt du denn, wie wir den Fluch brechen können? – Ein Fehler, und es könnte unser Ende sein.«

Die Zauberin schaute ihn finster an. »Ich bin eine ausgebildete Zauberin. Natürlich weiß ich, wie wir diesen Fluch brechen können.«

Sie war sichtlich verärgert darüber, dass der Halbdämon an ihren Fähigkeiten zweifelte, auch wenn dieser nur sicher gehen wollte.

Aufgeregt beobachtete Leuven die Szene. Für ihn kamen die beiden Streithähne eher wie ein altes Ehepaar vor.

»Gut!«, spuckte Evan schließlich. »Dann verrate mir deinen Plan.«

Die Zauberin atmete tief durch. »Also, der Fluch basiert letztendlich nur auf wenig Magie. Die Feder, die Nella erwähnt hat, wird hierbei als Katalysator eingesetzt worden sein. Da weder sie noch Jakob über magische Fähigkeiten verfügen.«

»Die Feder hat also Magie gespeichert?«, fragte Evan nach.

»Richtig«, gab Leana zurück und erhob ihre Hand. Der Ring an ihrer Hand begann schwach blau aufzuleuchten. »Auch wir Zauberer nutzen Gegenstände, die sie mit Magie antreiben können. Das erlaubt es uns, diese gezielt einzusetzen, ansonsten könnte es zu einer Katastrophe kommen, wenn wir versuchen, diese einzusetzen. Magie ohne Katalysator ist unberechenbar.«

Leuven runzelte die Stirn. »Das enttäuscht mich jetzt ein wenig. Ich dachte immer, Zauberer selbst würden die Magie in sich tragen.«

»Dem ist ja auch so«, stöhnte Leana auf. »Aber wie ich bereits erwähnte, könnte es katastrophale Folgen haben, wenn man versucht, Magie ohne Katalysator einzusetzen. Würde ich zum Beispiel versuchen, einen Feuerball zu erschaffen, dann könnte ich mir nicht gewiss sein, wie viel Energie dieser gerade von meiner Magie zieht und wie groß er wird. Letztendlich könnte er mein gesamtes Haus abbrennen. Dafür habe ich meinen Ring. Er dosiert die Magie.«

»Ich bin immer noch enttäuscht«, gab Leuven zurück. »Das klingt in den Büchern immer spektakulärer.«

»Es geht bei Magie aber nicht um Spektakel. Es geht darum, es richtig einzusetzen, um daraus seinen Nutzen zu ziehen. Es gibt aber auch einige wenige, die Magie so sehr im Griff haben, dass sie keinen Katalysator benötigen. Diese sind mit den göttlichen Händen gesegnet.«

»Also die wirklich guten Zauberer?«, hakte der junge Mann noch einmal nach.

»Nun, so würde ich das nicht ganz sagen, aber ja, nur die mächtigsten Zauberer haben diese Fähigkeit. Viele sind daran gescheitert, sie zu erlernen.«

»Also bist du keine mächtige Zauberin?«

In Leanas Blick war deutlich zu erkennen, wie die Wut in ihr aufstieg, doch sie biss sich auf die Lippen, als sie fortfuhr. »Wie ich bereits sagte, nur wenige können diese Fähigkeit erlernen.«

Leuven tippte nachdenklich mit seinem Zeigefinger an seinem Kinn. »Also ich für meinen Teil bin noch nicht überzeugt.«

»Du hast doch gesehen, welche Zauber ich wirken kann!«, brüllte sie auf einmal los.

»Es reicht«, sagte Evan in einem gelassenen Ton. »Ich bin schon einigen Zauberern begegnet. Ich weiß, zu was sie fähig sein können. Leana, sprich weiter. Die Feder dient in diesem Fall also als Katalysator. Aber wie konnten die beiden die Magie nutzen, wenn sie keine Zauberer sind?«

Leana räusperte sich und sprach dann in ruhigem Ton weiter. »Genau. Die meisten Flüche benötigen nur wenig Magie, da sie auf Formeln basieren. Die wenige Magie, die benötigt wird, wirkt eher wie ein Feuerstein. Es gibt einen Funken ab, wenn man so möchte. Auch Personen, die nicht magiebegabt sind, können zumindest solch einen Funken erzeugen. Dennoch ist es sehr gefährlich. So ein Fluch kann auch Nebenwirkungen verursachen.«

»Was für Nebenwirkungen?«, wollte der Halbdämon wissen.

»Es kann auch auf einen selbst zurückfallen oder andere nicht gewünschte Effekte hervorrufen.«

»Könnte es dann sein«, begann Leuven und überdachte noch einmal seine Worte, »könnte es sein, dass sie dann doch einen Zauber gewirkt haben, der Emilia von Jakob trennen sollte, und dieser ist schiefgelaufen? – Das würde zumindest für Nella sprechen.«

»Hmm.« Leana wirkte nachdenklich. »Möglich, wenn auch unwahrscheinlich.«

»Weshalb?«

»Es wäre eher der Fall gewesen, dass der Fluch auf die beiden zurückfallen würde, als dass so etwas passiert. Außerdem denke ich, dass bewusst eine Feder als Katalysator genutzt wurde. Ich bleibe dabei, dass die beiden hereingelegt wurden, auch wenn ich nicht wüsste, weshalb jemand dies tun sollte«, fuhr die Zauberin fort.

»Wir sollten uns erst einmal um das eine Problem kümmern«, wandte Evan ein. »Wenn wir die Sache mit der Harpyie geklärt haben, dann können wir uns um diesen Unbekannten kümmern.«

»Vielleicht hast du recht«, gestand Leana. »Wir brauchen aber Nella dafür. Am besten wäre es, wenn wir Nella und Jakob hätten. Aber es sollte auch ohne ihn gehen. Wir dürfen uns nur keine Fehler erlauben.«

»Also«, sprach der Halbdämon, »wie sieht der Plan denn nun aus?«

Leana blickte ihn ernst an. »Wir müssen das Ritual wiederholen, allerdings müssen wir es etwas abwandeln. Stellt es euch ein wenig vor, als würden wir jemanden einen Zahn ziehen wollen. Wir ziehen den Fluch wieder aus Emilia heraus, allerdings müssen wir ihn dann einfangen.«

Leuven war die Irritation ins Gesicht geschrieben. »Den Fluch einfangen. Wie fängt man denn einen Fluch ein?«

»Wir benötigen dafür ein magisches Gefäß. Es würde sich in diesem Fall anbieten, den Fluch in die Feder einzuschließen, da diese bereits mit Magie durchzogen ist«, erklärte die junge Zauberin.

»Und wenn es nicht funktioniert?«, fragte Evan ernst.

»Es wird funktionieren.« Leana atmete tief durch. »Nun, ich bin davon überzeugt, dass es funktionieren wird.«

Evan verstand. Sie wollte einfach nicht über andere Möglichkeiten nachdenken. »In der Not bleibt uns nur Emilia von ihrem Leid zu erlösen.«

Leana schaute ihn geschockt an. »Darüber brauchen wir uns keine Gedanken machen!«

»Doch, das müssen wir. Ich gebe dir die Gelegenheit, es auf deine Art zu erledigen. Wenn das aber nicht klappt, dann löse ich es auf meine«, gab Evan trocken zurück.

»Du brauchst dir darüber keinerlei Gedanken machen!«, schimpfte die Zauberin. »Ich weiß, was ich tue. Ich werde nicht versagen.«

Kurz schwiegen sich die drei an. Leana hatte sich noch nicht vollends beruhigt, da erhob sie wieder das Wort. »Ihr solltet gehen. Ich brauche noch etwas Schlaf. Wir treffen uns bei Sonnenaufgang bei eurem Wagen.«

Evan nickte, während Leuven ihm still vor die Tür folgte.

»Was hältst du von der Sache?«, fragte der junge Kaufmann unentschlossen.

»Gar nichts«, gab der Halbdämon knurrend zurück. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt.«

Wortlos folgte Leuven seinen Begleiter in die finstere Nacht.


Am nächsten Morgen versammelte sich die Gruppe wie verabredet am Wagen.

Leuven striegelte Ida behutsam und schob ihr ein paar Möhren zu. »Ich weiß, die ganze Last liegt immer auf dir«, murmelte er leise, während er zärtlich über ihren Nacken strich. »Aber du machst das wirklich gut.«

Ida schnaubte aufgeregt, als hätte sie seine Worte verstanden.

Evan stand abseits, die Arme verschränkt, und starrte ungeduldig in die Ferne.

Dort, am Horizont, tauchten die beiden Frauen auf.

»Guten Morgen«, sagte Leana und unterdrückte ein Gähnen. »Seid ihr bereit?«

»Schon lange«, knurrte Evan, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich ab und schwang sich routiniert als Erster auf den Kutschbock.

Seine Kiefer mahlten, die übliche Anspannung lag auf ihm wie ein drückender Schatten.

Leana zog die Augenbrauen zusammen und blickte ihm irritiert hinterher. Sie waren doch pünktlich, wie verabredet. Woher kam nur diese schroffe Laune?

Leuven bemerkte ihren verwirrten Blick und lächelte entschuldigend. »So ist er eben«, flüsterte er ihr zu, während er sich etwas unbeholfen auf den Kutschbock zog, seine Bewegungen weniger elegant als die von Evan.

Leana stieß einen leisen Seufzer aus. Am liebsten wäre sie jetzt in ihrer Schneiderei, in der stillen Routine ihrer Arbeit. Ohne den ständig gereizten Halbdämon an ihrer Seite und das Ungeheuer, das in der Gegend wütete. Aber solange die Dinge nun einmal so standen, blieb ihr nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen.

Sie wandte sich zu Nella, die still neben ihr stand, ihre Augen starr und abwesend, als hätte sie die Welt um sich herum völlig vergessen.

»Hast du alles dabei?«, fragte Leana leise, ihre Stimme sanft, aber fordernd.

Keine Antwort.

Nellas Blick wirkte leer, wie der einer Puppe, der jegliches Leben entzogen worden war.

»Nella?« Leana wiederholte ihre Frage, dieses Mal eindringlicher.

Nella zuckte leicht, als erwache sie aus einem düsteren Traum. »Äh… was?«

»Hast du alles für das Ritual dabei?« Leana hielt den Blick auf ihr Gesicht gerichtet.

»Ja, natürlich«, kam die unsichere Antwort, während Nella einen kleinen Stoffbeutel hervorzog und ihn der Zauberin überreichte.

Leana öffnete den Beutel und durchsuchte ihn mit geübten Fingern. Schließlich zog sie die Feder hervor – schwarz wie die Nacht, durchzogen von roten Sprenkeln, die glühten wie winzige Funken.

Selbst bei genauer Betrachtung konnte Leana nicht sagen, von welchem Wesen die Feder stammte.

Sie warf einen Blick auf das Papier mit dem Fluch, und ihre Vermutung verhärtete sich. »Ja, es handelt sich definitiv um schwarze Magie. Ich kann den Spruch nicht entziffern, aber das hier ist eindeutig etwas Dunkles.«

Evan unterbrach sie ungeduldig. »Kommt ihr endlich?«

Leana rollte mit den Augen. »Wir sind ja schon unterwegs!«, fauchte sie, genervt von seiner ständigen Drängelei.

Leana und Nella stiegen auf den Karren. Mit einem Ruck setzte dieser sich in Bewegung.

Während die Räder über den holprigen Boden ratterten, erklärte Leana Nella jedes Detail, das sie für das Ritual wissen musste.

Immer wieder blätterte Leana in einem abgenutzten Buch, schrieb Worte auf ein Pergament, strich diese wieder, fügte neue hinzu. Ihre Stirn dabei in tiefe Falten gelegt.

»So müsste es funktionieren«, murmelte sie schließlich und reichte Nella das Stück Papier.

Nella nahm es an sich, doch ihre Gedanken schienen weit entfernt.

»Es ist wichtig, dass du genau das tust, was ich dir gesagt habe«, drängte Leana. »Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben. Hast du mich verstanden?«

Nella nickte zaghaft, vermied es jedoch, Leana in die Augen zu sehen.

Leana spürte die Beklemmung in der Luft. »Was ist los?«, fragte sie vorsichtig.

Nella zögerte, ihre Lippen bebten leicht. »Ich habe so viele Menschen in Gefahr gebracht.«

In Gefahr gebracht, dachte Leana und unterdrückte ein bitteres Lächeln. Das war wohl mehr als untertrieben. Aber sie schwieg, erleichtert, dass Nella endlich zu sprechen begann.

»Ich wollte doch nur, dass diese Hexe uns in Ruhe lässt«, fuhr Nella fort und biss sich auf die Lippen. »Sie sollte einfach verschwinden…«

Ein Hauch von Zorn lag in ihrer Stimme, ein Ton, den Leana nicht recht einordnen konnte. Und plötzlich verstand sie, warum Evan Nella gegenüber so misstrauisch war.

Trotz allem konnte Leana ihre Seite nachvollziehen. Liebe war eine starke Kraft, aber sie entschuldigte nichts von dem, was Nella und Jakob getan hatten.

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Es war erst zum Morgengrauen, als sie das Dorf erreichten.

Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch den dichten Nebel, der sich über das Dorf gelegt hatte, und die Bewohner, die aufgeregt ihre neugierigen Blicke auf die Ankömmlinge richteten, beobachteten sie mit einer Mischung aus Angst und Ungeduld.

Als sie das Haus der Schneiderin betraten, blieb ein verstörtes Murmeln in der Luft zurück.

Die Dorfbewohner fragten sich, wo die anderen Männer geblieben waren, die in der Nacht zuvor zur Jagd aufgebrochen waren.

Ihre Fragen verblassten jedoch in der Stille des Morgens, als sie stumm zurückgelassen wurden.

Leana ließ mit einem dumpfen Geräusch einen Stapel verstaubter Bücher auf ihren Tisch fallen.

»Schau hier nach, ob du etwas finden kannst«, befahl sie, während sie Leuven ein altes, in abgewetztes grünes Leder gebundenes Buch reichte.

Leuven nahm das Buch mit zitternden Händen entgegen und betrachtete die goldene Verzierung auf dem Umschlag. »Dunkle Flüche und magische Aufhebungen«, murmelte er, als er den Titel las.

Er ließ sich auf einen alten, roten Sessel in einer Ecke der Schneidestube sinken, dessen Polsterung schon längst ihren Glanz verloren hatte.

Leana überreichte auch dem Halbdämon ein altes Buch. Der braune Einband trug die aufgedruckten Worte »Teuflisch magische Wesen und dämonische Flüche«.

»Du scheinst einige Werke über dunkle Magie zu besitzen«, bemerkte der Halbdämon mit einem schiefen Grinsen.

»Nun«, entgegnete Leana mit einem dunklen Blick, »es steht nicht geschrieben, wie man solche Magie anwendet. Das wäre die größte aller Sünden. Doch vielleicht finden wir einen Weg, diesen Fluch zu brechen.« Ihre Worte waren ein Versprechen von Hoffnung und Verzweiflung zugleich.

Leuven erhob seinen Kopf. »Also, um es richtig zu verstehen: Du willst diese Harpyie in einen Menschen zurückverwandeln? – Sie hat so vielen das Leben genommen. Warum tust du das?«

»Die Harpyie«, sagte Leana mit einem verfinsterten Gesichtsausdruck, »heißt Emilia. Ja, ich will sie zurückverwandeln. Sie ist ein unschuldiges Mädchen. Sie verdient nicht die Strafe für die Taten, die ihr angetan wurden. Die wahre Schuld liegt bei dem, der ihr dieses Unheil gebracht hat.«

»Also suchen wir nun den, der sie verwandelt hat?« Leuven runzelte die Stirn. »Irgendwie kommt mir das bekannt vor.«

Evan wandte sich an Leana, ignorierte Leuvens Gedanken und sprach mit ernster Miene. »Wir müssen uns jedoch darauf vorbereiten, dass wir, falls wir diesen Fluch nicht brechen können, andere Mittel in Betracht ziehen müssen.«

»Ich weiß«, erwiderte Leana. Sie war fest entschlossen, irgendwo in den unzähligen Seiten ihrer Bücher die Antwort zu finden, die sie so verzweifelt suchte.

Die Zauberin wandte sich einem großen, bereits geöffneten Buch auf ihrer Arbeitsplatte zu. Die Seiten flüsterten von längst vergessenen Geheimnissen, als sie sich über die fahlen Buchstaben beugte.

Die Stunden verstrichen in schwerer Stille. Nur das geduldige Rascheln der Buchseiten und gelegentliches Räuspern durchbrachen die drückende Ruhe.

Leuven kämpfte gegen die Schwere seiner Augenlider an, die ihn immer wieder ins Reich des Halbschlafs ziehen wollten.

»Das führt zu nichts«, brummte Evan schließlich und schlug das Buch mit einem dröhnenden Knall zu.

Leuven zuckte zusammen, fuhr wie vom Blitz getroffen auf und stand plötzlich kerzengerade vor dem Sessel. »Ich bin wach, ich bin wach«, sagte er aufgeschreckt.

Leana seufzte tief und ließ ihren Blick resigniert auf das Buch sinken. »Das Einzige, was ich gefunden habe, ist ein Ritual, bei dem wir einen Trank brauen müssen.«

»Das ist schon einmal etwas«, erwiderte Evan mit einem leichten Anflug von Hoffnung.

»Doch die Hälfte der benötigten Kräuter wächst hier nicht, und der Trank müsste fast dreißig Tage ziehen«, erklärte Leana müde. »Das können wir also wohl vergessen.«

»Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig, als die Klinge sprechen zu lassen«, schlug Evan vor.

»Wenn wir wüssten, wer den Fluch über Emilia verhängt hat, könnte uns das weiterhelfen«, entgegnete Leana. »Aber weder Albert noch Jakob noch jemand anderes aus dem Dorf hat das nötige Wissen dazu.«

»Und was würde uns das nützen?« Leuven runzelte die Stirn.

»Wir könnten es mit einem Entbannungszauber versuchen.« Leana blätterte in ihrem dicken Buch, dessen Seiten geheimnisvoll flüsterten. »Flüche können oft von der Person rückgängig gemacht werden, die sie ausgesprochen hat.«

»Es sei denn, es handelt sich um einen ewigen Fluch«, warf Evan ein.

»Was genau ist ein ewiger Fluch?« fragte Leuven mit besorgtem Blick.

Leana versuchte es ihm zu erklären. »Ein ewiger Fluch ist so mächtig, dass selbst derjenige, der ihn ausgesprochen hat, ihn nicht zurücknehmen kann. Solche Flüche sind die finstersten Überreste der dunklen Magie und werden aus purem Hass und Verzweiflung gewirkt.«

»Das klingt furchterregend«, murmelte Leuven. »Plötzlich wird man ohne Vorwarnung verflucht und findet sich mit Flügeln wieder. Ich hätte nie gedacht, dass solche Dinge wirklich existieren.«

»Die Welt birgt viele Geheimnisse, die sich nicht leicht erklären lassen«, sagte Evan und ließ einen nachdenklichen Blick durch den Raum gleiten. »Du hast doch selbst gesehen, welche Schrecken im Dunkeln lauern.«

Plötzlich klopfte es mit ungestümer Dringlichkeit an der Tür, und eine panische Stimme hallte durch das Haus.

»Leana! – Leana, bitte öffne die Tür!«, hallte es durch die Tür, durchdrungen von verzweifelter Angst.

Leana blickte erschrocken auf, als das hastige Klopfen durch den Raum hallte. Mit zitternden Händen öffnete sie die Tür, die laut knarrte.

Eine junge Frau, deren lockiges, dunkles Haar in wirren Strähnen um ihr Gesicht fiel, taumelte über die Schwelle. Ihre Augen suchten wild umher, und ihre Atmung war hastig und unregelmäßig.

»Nella?«, fragte Leana überrascht. »Was machst du hier?«

Die junge Frau trat in den Raum, die Panik in ihren Augen war unverkennbar. Sie wandte sich hastig an Leana. »Du warst im Wald, was ist passiert?«

Ihre Worte waren gepresst, ihre Körperhaltung war angespannt. Sie schritt verzweifelt auf Evan zu.

»Wo sind die Männer?« Ihre Stimme brach.

Leana versuchte, Nella zu beruhigen, doch die junge Frau war nicht zu bändigen. Ihre Hände griffen um sich, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Nun«, begann Evan mit einem tiefen Seufzer, der den Raum mit schwerer Last erfüllte. »Sie haben es nicht geschafft.«

Leuven sprang vom Sessel auf, um der jungen Frau Platz zu machen. Doch diese ignorierte seine Geste und ging wild im Raum auf und ab.

»Was ist mit Jakob?«, fragte Nella. Ihre Stimme zitterte vor schmerzhafter Angst. »Wie geht es ihm?«

Evan, der bis dahin ruhig und gelassen war, verzog das Gesicht. »Jakob? Warum interessiert dich ausgerechnet der junge Bauer?«

»Ich muss wissen, ob es ihm gut geht!« Nellas Stimme war von verzweifelter Hoffnung durchzogen, während ihre Augen wie versteinert auf Evan starrten. Die Stille, die dem Raum folgte, war drückend und schwer.

Das Schweigen war schmerzhaft. Nella wandte ihren Blick zu den verstreuten, alten Büchern auf dem Tisch.

Leanas Panik war dem Halbdämon nicht entgangen.

Die Zauberin, die sich immer nur als die örtliche Schneiderin präsentiert hatte, kämpfte jetzt mit einer Verzweiflung, die sie nicht mehr verbergen konnte. Ihre Augen verrieten mehr, als Worte es jemals könnten.

»Was sind das alles für seltsame Bücher?«, fragte Nella mit kritischem Blick.

Leanas Lippen bebten, ihre Gedanken kreisten wild umher. Doch ehe sie einen Ton von sich geben konnte, sprang Evan ein. »Ich bin ein Zauberer«, sagte er trocken.

Die Schneiderin und der Kaufmann schauten ihn verdutzt an.

»Ihr seid ein Zauberer?«, fragte Nella und zog die Stirn kraus. »Ihr seht nicht aus, wie ein Zauberer.«

»Wie sieht denn ein Zauberer aus?«, stellte Evan stattdessen als Gegenfrage.

Die junge Frau antwortete nicht.

Genau wie schon an den Toren der Burg Haren versuchte der Halbdämon, mit einer ungewohnten Selbstverständlichkeit in seiner Stimme zu sprechen. Damals hatte es geklappt, wenn auch mit der Hilfe von Marie, die die Wachen am Tor überzeugen konnte.

»Nein«, gab Nella nach kurzer Überlegung zurück. »Ich glaube euch nicht.«

Mit einem schiefen Blick schaute Leuven den Halbdämon an. Er fand das Auftreten des Halbdämons vor den Toren der Burg bereits seltsam, doch in dieser Situation kam ihm das Ganze nur noch seltsamer vor.

Nella hingegen brauchte nicht lange zum Überlegen. Ihr Blick wanderte zu Leana hinüber. »Ich habe einige Gerüchte gehört. Manch einer im Dorf sagt, du bist eine Hexe. Dummes Gelaber, dachte ich. Aber sie scheinen wirklich Recht zu behalten.«

Leana zitterte am gesamten Körper. »Das ist doch Unsinn. Ich bin eine einfache Schneiderin.«

»Ach ja?«, Nella schaute sie scharf an. »Weshalb sind dann diese beiden Männer bei dir? Sind es überhaupt Dämonenjäger? – Außerdem brauchst du mich nicht für dumm halten. Ich sehe doch, dass diese Bücher aus deinem Regal stammen.«

Es fiel der Zauberin schwer, eine Antwort zu finden; die Gedanken kreisten wieder in ihrem Kopf.

Nella aber schien sie deswegen nicht anklagen zu wollen. »Du willst Emilia retten, oder?«

Es wurde still im Raum; man hätte einen Stecknadelkopf fallen hören können.

»Was hast du mit der Tochter des Müllers zu tun?«, fragte Evan misstrauisch.

Leana übernahm das Wort. »Nella ist eine Freundin von Emilia. Selbstverständlich macht sie sich Sorgen.«

Sorgen. Der Halbdämon erkannte zwar Sorge im Gesicht der jungen Frau, aber es schien noch etwas mehr dahinterzustecken.

»Und weiter?«, fragte Evan kalt.

Die Zauberin schaute ihn finster an.

Nella aber schien wirklich noch etwas zu verbergen.

»Nun«, begann sie mit zittriger Stimme zu sprechen. »Ich kann vielleicht helfen.«

Dann wandte sie sich wieder an Leana. »Mach mir nichts vor, du bist keine einfache Schneiderin.«

Na toll, dachte sich Leana. Da kam sie dem Halbdämon zur Hilfe und sogleich war ihre Tarnung aufgeflogen.

Sie seufzte. »Das stimmt. Ich bin aber auch keine Hexe. Ich bin eine Zauberin und war an der Akademie.«

Nellas Augen begannen zu leuchten. »Dann hatte ich Recht. Wirst du uns helfen?«

»Ich, ich versuche es zumindest«, gab die Zauberin stammelnd zurück.

Evan machte einen Schritt nach vorne und fixierte Nella mit einem fordernden Blick. »Aber zuerst musst du uns sagen, was du weißt.«

Nella seufzte und sah nervös im Raum umher, während ihre Finger unruhig an ihrer Hüfte tippten. Schließlich begann sie, die Ereignisse zu schildern.

Nella war deutlich unwohl, als sie die Stille im von Kerzenlicht erleuchteten Raum durchbrach. »Es gibt noch etwas, das ihr wissen müsst«, begann sie zögerlich. »Jakob und ich, wir waren ein Paar.«

Evan zog keine Augenbraue hoch und zeigte keine Reaktion. Sein Gesichtsausdruck blieb neutral, als ob ihn diese Information nicht besonders überraschte.

Leana und Leuven hingegen waren sichtbar überrascht.

Die Schneiderin starrte Nella mit offenem Mund an, während Leuven ungläubig die Augen weit aufriss.

»Jakob… und du?« fragte Leana, als ob sie sich vergewissern musste, dass sie sich nicht verhört hatte.

Nella nickte. »Ja. Seit mehreren Monaten. Wir wollten das Dorf verlassen. Gemeinsam ein neues Leben aufbauen.«

Evan stand weiterhin regungslos da. Nur sein neugieriger Gesichtsausdruck verriet sein Interesse. »Aber war er nicht mit Emilia verlobt?«

»Das stimmt«, seufzte Nella.

Sie vermied es, Blickkontakt mit jemandem im Raum aufzunehmen. »Aber Jakob wollte das nicht. Es war alles die Idee seines Vaters.«

»Und Emilia, wusste sie davon?«, fragte Leana neugierig.

Nella zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. Ihre Fäuste ballten sich. Nur der Halbdämon schien es bemerkt zu haben und beobachtete sie nun noch kritischer.

»Sie wusste es«, zischte Nella. »Diese Schlampe wusste es, aber es war ihr egal. Sie wollte Jakob für sich allein.«

Ihre Stimme änderte sich. Es lag jetzt etwas Unheilvolles darin. »Ich bereue nicht, was ihr passiert ist. Sie hat es verdient.«

Evan versuchte, ihre Worte zu deuten, aber Nella war geschickt darin, ihre Emotionen zu verbergen.

»Und was ist passiert?«, fragte Leana, obwohl sie bereits eine Ahnung hatte.

Der Halbdämon schien ebenfalls zu einer Schlussfolgerung gekommen zu sein. »Also hast du nach einem Weg gesucht, sie loszuwerden.«

Nellas Gesicht wurde blass. Ihre Wut verschwand und wurde von Angst ersetzt. »Wir… wir… es war nicht so«, stammelte sie.

»Wie war es dann?«, verlangte Evan nach einer Antwort, die Arme herausfordernd vor der Brust verschränkt.

Nella seufzte abermals. Ihr gesamter Körper entspannte sich. Sie schien zu wissen, dass sie aus dieser Sache nicht mehr herauskommen würde.

»Nun, es war so«, begann sie, und dieses Mal suchte sie den Blickkontakt zu den anderen. »Jakob und ich wollten lediglich, dass Emilia von ihm ablässt. Wir haben nach irgendeinem Grund gesucht, weshalb sie das Interesse an ihm verlieren würde. Er ignorierte sie, wies sie ab, doch alles half nichts. Da kam dieser Mann ins Dorf.«

»Welcher Mann?« Evan wurde hellhörig.

»Es war ein älterer Mann. Er schien auf der Durchreise zu sein. Jakob und ich tranken ein paar Bier in der Taverne; da schien er unser Gespräch belauscht zu haben. Er erzählte uns von seinen Reisen und letztendlich davon, dass er uns helfen könne. Mit einer Art Ritual; wir dürften es aber niemandem sagen. Er fürchtete wohl, als Hexer erkannt zu werden.«

»Ein dunkler Magier vielleicht«, überlegte Leana und zog nachdenklich die Stirn kraus. »Aber was hätte dieser davon?«

Evan schaltete sich wieder ein. »Und ihr zwei habt sofort zugestimmt, eure Freundin in eine Harpyie zu verwandeln? – Ich habe schon vieles gesehen und gehört, aber das erscheint mir doch zweifelhaft.«

»Nein!«, stieß Nella aus. »Wir wussten nicht, dass das passieren würde!«

Tränen rannen ihr Gesicht herunter. »Ich habe sie gehasst, aber das war nicht unsere Absicht. Er meinte, das Ritual würde dafür sorgen, dass Emilia das Interesse an Jakob verlieren würde, nicht, dass sie sich in ein Monster verwandeln würde. Ich schwöre, das ist die Wahrheit.«

»Wie genau lief das Ritual ab?«, fragte Leana aufgeregt. »Nella, ich muss genau wissen, was ihr getan habt. Gab es irgendwelche Zutaten, Formeln, besondere Gegenstände?«

»Nun, ähm, ja«, schluchzte Nella, und ihr war deutlich anzusehen, dass sie ihre Gedanken sammelte. »Der Mann gab uns ein Pulver. Ein bräunliches Pulver. Es roch nach… ich weiß nicht.«

»Bitte denk nach!«, prustete Leana und wanderte aufgeregt zu ihrem Bücherregal. Wild schien sie nach einem bestimmten Buch zu suchen.

»Es roch irgendwie nach Lavendel, aber auch leicht nussig. Außerdem gab er uns ein Stück Papier mit einem Spruch, den wir aufsagen sollten«, fuhr Nella fort.

Ein »Aha!« entfuhr Leana, und sie griff nach einem Buch mit ledernem Einband. »Ganz klar schwarze Magie, beziehungsweise ein Fluch. Leider einer, den man nicht leicht brechen kann.«

Die Zauberin blätterte durch die Buchseiten und ging dabei im Raum auf und ab. »Die Worte auf dem Zettel, in welcher Sprache waren sie geschrieben?«

»Das weiß ich nicht.« Nella schüttelte den Kopf. »Wir konnten die Worte kaum aussprechen. Sie klangen seltsam.«

Evan stöhnte genervt laut auf. »Ihr konntet die Worte kaum aussprechen und habt sie dennoch ausgesprochen?«

Nella blickte zu Boden, die Schamesröte in ihrem Gesicht.

»Wie dumm muss man sein?«, fügte der Halbdämon an und wurde schließlich von der Zauberin unterbrochen. »Genug jetzt. Das könnte uns vielleicht sogar helfen.«

»Wie denn das?«, mischte sich nun Leuven ein, der ansonsten still in der Ecke stand und die Situation mit einem Erstaunen im Gesicht beobachtete.

»Schlampig ausgeführte Flüche lassen sich leichter brechen«, fuhr Leana fort. »Wir haben es hier mit einem gefährlichen Fluch zu tun, für den man tief in die schwarze Magie eintauchen muss. Es macht schon einen Unterschied, ob ein gelernter Magier diesen ausübt oder ein Laie.«

Sie wandte sich wieder Nella zu. »Jakob und du, ihr seid keine Magier. Hat dieser Mann euch irgendeinen Gegenstand gegeben, der für das Ritual wichtig war?«

»Ähm, ja, tatsächlich«, gab diese zurück. »Eine Feder. Sie war seltsam.«

»Inwiefern?«

»Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas von ihr ausging. Sie pulsierte in meiner Hand. Aber vielleicht war das auch einfach meine Aufregung.«

Leana klappte das Buch vor ihrer Nase zu. Staub verteilte sich um ihr Gesicht herum. »Dann ist der Fall klar.«

Gebannt starrten die Anwesenden sie an.

»Hast du das Stück Papier und die Feder noch?«

Nella nickte zögerlich.

»Geh und bringe sie her. Wir werden diesen Fluch brechen.«

Abermals nickte Nella und machte sich geschwind auf den Weg.

Mit einem misstrauischen Blick wandte sich Evan an die Zauberin, die ihren Stolz kaum verbergen konnte. »Verrätst du mir, was los ist?«

»Tja, offenbar wurden Nella und Jakob übers Ohr gehauen. Nichtsahnend haben sie einen Fluch ausgelöst, der Emilia in eine Harpyie verwandelt hat, anstatt dass sich ihre Gefühle zu Jakob veränderten.«

»Das ist mir bereits klar, aber ich traue dem Ganzen nicht«, gab der Halbdämon zurück. »So dumm kann doch niemand sein, einen Fluch zu wirken, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen. Ich habe Jakob erlebt. Er hat nicht die Eier dazu, um so etwas durchzuführen.«

»Was meinst du?«, fragte Leana verwirrt.

»Meinem Gefühl nach hat er sich ernsthafte Sorgen um Emilia gemacht. Weshalb sollte er sich sonst der Suche nach ihr angeschlossen haben? – Allerdings wirkte er auf mich auch sehr ängstlich.«

»Er wusste die ganze Zeit, was mit Emilia passiert war. Er hatte Schuldgefühle, wollte es wieder gutmachen, und das man Angst hat, wenn man einer Harpyie begegnet, sollte nicht verwundern«, wandte die Zauberin ein.

»Irgendetwas ist hier total faul. Ich traue dem Mädchen nicht«, grummelte Evan.

»Ich im Übrigen auch nicht«, warf Leuven ein und hob einen Finger, um zu signalisieren, dass er ebenfalls anwesend war.

Leana schüttelte ihren Kopf, als wolle sie die Worte gar nicht hören. »Emilia hat sich in die Beziehung der beiden eingemischt. Ich sage ja nicht, dass es klug war, was sie getan haben, aber vielleicht sahen sie es als die einzige Möglichkeit, nachdem sie alles andere versucht haben. Es ist grausam, was passiert ist und unentschuldbar, aber wir haben die Möglichkeit, es wieder gutzumachen.«

»Wiedergutzumachen?« Evan schaute sie ungläubig an. »Unschuldige Menschen sind gestorben. Wie soll man das wiedergutmachen?«

»Nun«, Leana blieb kurz die Luft weg, dann explodierte es aus ihr heraus. »Was sollen wir denn sonst tun? – Wenn wir nur untätig herumsitzen, dann wird es nur noch schlimmer.«

»Ich sage ja auch nicht, dass wir untätig sein sollen«, gab der Halbdämon grimmig zurück. »Ich sagte nur, dass ich dem Mädchen nicht traue. Ich glaube, dass sie uns nicht die ganze Wahrheit gesagt hat, und wenn du dich irrst, dann werden wir die nächsten auf der Speiseliste der Harpyie sein.«

»Warum sollte sie uns anlügen? – Sie will, genau wie alle anderen, dass der Spuk endlich ein Ende hat. Um ihre Strafe müssen wir uns nicht sorgen.«

»Weißt du denn, wie wir den Fluch brechen können? – Ein Fehler, und es könnte unser Ende sein.«

Die Zauberin schaute ihn finster an. »Ich bin eine ausgebildete Zauberin. Natürlich weiß ich, wie wir diesen Fluch brechen können.«

Sie war sichtlich verärgert darüber, dass der Halbdämon an ihren Fähigkeiten zweifelte, auch wenn dieser nur sicher gehen wollte.

Aufgeregt beobachtete Leuven die Szene. Für ihn kamen die beiden Streithähne eher wie ein altes Ehepaar vor.

»Gut!«, spuckte Evan schließlich. »Dann verrate mir deinen Plan.«

Die Zauberin atmete tief durch. »Also, der Fluch basiert letztendlich nur auf wenig Magie. Die Feder, die Nella erwähnt hat, wird hierbei als Katalysator eingesetzt worden sein. Da weder sie noch Jakob über magische Fähigkeiten verfügen.«

»Die Feder hat also Magie gespeichert?«, fragte Evan nach.

»Richtig«, gab Leana zurück und erhob ihre Hand. Der Ring an ihrer Hand begann schwach blau aufzuleuchten. »Auch wir Zauberer nutzen Gegenstände, die sie mit Magie antreiben können. Das erlaubt es uns, diese gezielt einzusetzen, ansonsten könnte es zu einer Katastrophe kommen, wenn wir versuchen, diese einzusetzen. Magie ohne Katalysator ist unberechenbar.«

Leuven runzelte die Stirn. »Das enttäuscht mich jetzt ein wenig. Ich dachte immer, Zauberer selbst würden die Magie in sich tragen.«

»Dem ist ja auch so«, stöhnte Leana auf. »Aber wie ich bereits erwähnte, könnte es katastrophale Folgen haben, wenn man versucht, Magie ohne Katalysator einzusetzen. Würde ich zum Beispiel versuchen, einen Feuerball zu erschaffen, dann könnte ich mir nicht gewiss sein, wie viel Energie dieser gerade von meiner Magie zieht und wie groß er wird. Letztendlich könnte er mein gesamtes Haus abbrennen. Dafür habe ich meinen Ring. Er dosiert die Magie.«

»Ich bin immer noch enttäuscht«, gab Leuven zurück. »Das klingt in den Büchern immer spektakulärer.«

»Es geht bei Magie aber nicht um Spektakel. Es geht darum, es richtig einzusetzen, um daraus seinen Nutzen zu ziehen. Es gibt aber auch einige wenige, die Magie so sehr im Griff haben, dass sie keinen Katalysator benötigen. Diese sind mit den göttlichen Händen gesegnet.«

»Also die wirklich guten Zauberer?«, hakte der junge Mann noch einmal nach.

»Nun, so würde ich das nicht ganz sagen, aber ja, nur die mächtigsten Zauberer haben diese Fähigkeit. Viele sind daran gescheitert, sie zu erlernen.«

»Also bist du keine mächtige Zauberin?«

In Leanas Blick war deutlich zu erkennen, wie die Wut in ihr aufstieg, doch sie biss sich auf die Lippen, als sie fortfuhr. »Wie ich bereits sagte, nur wenige können diese Fähigkeit erlernen.«

Leuven tippte nachdenklich mit seinem Zeigefinger an seinem Kinn. »Also ich für meinen Teil bin noch nicht überzeugt.«

»Du hast doch gesehen, welche Zauber ich wirken kann!«, brüllte sie auf einmal los.

»Es reicht«, sagte Evan in einem gelassenen Ton. »Ich bin schon einigen Zauberern begegnet. Ich weiß, zu was sie fähig sein können. Leana, sprich weiter. Die Feder dient in diesem Fall also als Katalysator. Aber wie konnten die beiden die Magie nutzen, wenn sie keine Zauberer sind?«

Leana räusperte sich und sprach dann in ruhigem Ton weiter. »Genau. Die meisten Flüche benötigen nur wenig Magie, da sie auf Formeln basieren. Die wenige Magie, die benötigt wird, wirkt eher wie ein Feuerstein. Es gibt einen Funken ab, wenn man so möchte. Auch Personen, die nicht magiebegabt sind, können zumindest solch einen Funken erzeugen. Dennoch ist es sehr gefährlich. So ein Fluch kann auch Nebenwirkungen verursachen.«

»Was für Nebenwirkungen?«, wollte der Halbdämon wissen.

»Es kann auch auf einen selbst zurückfallen oder andere nicht gewünschte Effekte hervorrufen.«

»Könnte es dann sein«, begann Leuven und überdachte noch einmal seine Worte, »könnte es sein, dass sie dann doch einen Zauber gewirkt haben, der Emilia von Jakob trennen sollte, und dieser ist schiefgelaufen? – Das würde zumindest für Nella sprechen.«

»Hmm.« Leana wirkte nachdenklich. »Möglich, wenn auch unwahrscheinlich.«

»Weshalb?«

»Es wäre eher der Fall gewesen, dass der Fluch auf die beiden zurückfallen würde, als dass so etwas passiert. Außerdem denke ich, dass bewusst eine Feder als Katalysator genutzt wurde. Ich bleibe dabei, dass die beiden hereingelegt wurden, auch wenn ich nicht wüsste, weshalb jemand dies tun sollte«, fuhr die Zauberin fort.

»Wir sollten uns erst einmal um das eine Problem kümmern«, wandte Evan ein. »Wenn wir die Sache mit der Harpyie geklärt haben, dann können wir uns um diesen Unbekannten kümmern.«

»Vielleicht hast du recht«, gestand Leana. »Wir brauchen aber Nella dafür. Am besten wäre es, wenn wir Nella und Jakob hätten. Aber es sollte auch ohne ihn gehen. Wir dürfen uns nur keine Fehler erlauben.«

»Also«, sprach der Halbdämon, »wie sieht der Plan denn nun aus?«

Leana blickte ihn ernst an. »Wir müssen das Ritual wiederholen, allerdings müssen wir es etwas abwandeln. Stellt es euch ein wenig vor, als würden wir jemanden einen Zahn ziehen wollen. Wir ziehen den Fluch wieder aus Emilia heraus, allerdings müssen wir ihn dann einfangen.«

Leuven war die Irritation ins Gesicht geschrieben. »Den Fluch einfangen. Wie fängt man denn einen Fluch ein?«

»Wir benötigen dafür ein magisches Gefäß. Es würde sich in diesem Fall anbieten, den Fluch in die Feder einzuschließen, da diese bereits mit Magie durchzogen ist«, erklärte die junge Zauberin.

»Und wenn es nicht funktioniert?«, fragte Evan ernst.

»Es wird funktionieren.« Leana atmete tief durch. »Nun, ich bin davon überzeugt, dass es funktionieren wird.«

Evan verstand. Sie wollte einfach nicht über andere Möglichkeiten nachdenken. »In der Not bleibt uns nur Emilia von ihrem Leid zu erlösen.«

Leana schaute ihn geschockt an. »Darüber brauchen wir uns keine Gedanken machen!«

»Doch, das müssen wir. Ich gebe dir die Gelegenheit, es auf deine Art zu erledigen. Wenn das aber nicht klappt, dann löse ich es auf meine«, gab Evan trocken zurück.

»Du brauchst dir darüber keinerlei Gedanken machen!«, schimpfte die Zauberin. »Ich weiß, was ich tue. Ich werde nicht versagen.«

Kurz schwiegen sich die drei an. Leana hatte sich noch nicht vollends beruhigt, da erhob sie wieder das Wort. »Ihr solltet gehen. Ich brauche noch etwas Schlaf. Wir treffen uns bei Sonnenaufgang bei eurem Wagen.«

Evan nickte, während Leuven ihm still vor die Tür folgte.

»Was hältst du von der Sache?«, fragte der junge Kaufmann unentschlossen.

»Gar nichts«, gab der Halbdämon knurrend zurück. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt.«

Wortlos folgte Leuven seinen Begleiter in die finstere Nacht.


Am nächsten Morgen versammelte sich die Gruppe wie verabredet am Wagen.

Leuven striegelte Ida behutsam und schob ihr ein paar Möhren zu. »Ich weiß, die ganze Last liegt immer auf dir«, murmelte er leise, während er zärtlich über ihren Nacken strich. »Aber du machst das wirklich gut.«

Ida schnaubte aufgeregt, als hätte sie seine Worte verstanden.

Evan stand abseits, die Arme verschränkt, und starrte ungeduldig in die Ferne.

Dort, am Horizont, tauchten die beiden Frauen auf.

»Guten Morgen«, sagte Leana und unterdrückte ein Gähnen. »Seid ihr bereit?«

»Schon lange«, knurrte Evan, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich ab und schwang sich routiniert als Erster auf den Kutschbock.

Seine Kiefer mahlten, die übliche Anspannung lag auf ihm wie ein drückender Schatten.

Leana zog die Augenbrauen zusammen und blickte ihm irritiert hinterher. Sie waren doch pünktlich, wie verabredet. Woher kam nur diese schroffe Laune?

Leuven bemerkte ihren verwirrten Blick und lächelte entschuldigend. »So ist er eben«, flüsterte er ihr zu, während er sich etwas unbeholfen auf den Kutschbock zog, seine Bewegungen weniger elegant als die von Evan.

Leana stieß einen leisen Seufzer aus. Am liebsten wäre sie jetzt in ihrer Schneiderei, in der stillen Routine ihrer Arbeit. Ohne den ständig gereizten Halbdämon an ihrer Seite und das Ungeheuer, das in der Gegend wütete. Aber solange die Dinge nun einmal so standen, blieb ihr nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen.

Sie wandte sich zu Nella, die still neben ihr stand, ihre Augen starr und abwesend, als hätte sie die Welt um sich herum völlig vergessen.

»Hast du alles dabei?«, fragte Leana leise, ihre Stimme sanft, aber fordernd.

Keine Antwort.

Nellas Blick wirkte leer, wie der einer Puppe, der jegliches Leben entzogen worden war.

»Nella?« Leana wiederholte ihre Frage, dieses Mal eindringlicher.

Nella zuckte leicht, als erwache sie aus einem düsteren Traum. »Äh… was?«

»Hast du alles für das Ritual dabei?« Leana hielt den Blick auf ihr Gesicht gerichtet.

»Ja, natürlich«, kam die unsichere Antwort, während Nella einen kleinen Stoffbeutel hervorzog und ihn der Zauberin überreichte.

Leana öffnete den Beutel und durchsuchte ihn mit geübten Fingern. Schließlich zog sie die Feder hervor – schwarz wie die Nacht, durchzogen von roten Sprenkeln, die glühten wie winzige Funken.

Selbst bei genauer Betrachtung konnte Leana nicht sagen, von welchem Wesen die Feder stammte.

Sie warf einen Blick auf das Papier mit dem Fluch, und ihre Vermutung verhärtete sich. »Ja, es handelt sich definitiv um schwarze Magie. Ich kann den Spruch nicht entziffern, aber das hier ist eindeutig etwas Dunkles.«

Evan unterbrach sie ungeduldig. »Kommt ihr endlich?«

Leana rollte mit den Augen. »Wir sind ja schon unterwegs!«, fauchte sie, genervt von seiner ständigen Drängelei.

Leana und Nella stiegen auf den Karren. Mit einem Ruck setzte dieser sich in Bewegung.

Während die Räder über den holprigen Boden ratterten, erklärte Leana Nella jedes Detail, das sie für das Ritual wissen musste.

Immer wieder blätterte Leana in einem abgenutzten Buch, schrieb Worte auf ein Pergament, strich diese wieder, fügte neue hinzu. Ihre Stirn dabei in tiefe Falten gelegt.

»So müsste es funktionieren«, murmelte sie schließlich und reichte Nella das Stück Papier.

Nella nahm es an sich, doch ihre Gedanken schienen weit entfernt.

»Es ist wichtig, dass du genau das tust, was ich dir gesagt habe«, drängte Leana. »Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben. Hast du mich verstanden?«

Nella nickte zaghaft, vermied es jedoch, Leana in die Augen zu sehen.

Leana spürte die Beklemmung in der Luft. »Was ist los?«, fragte sie vorsichtig.

Nella zögerte, ihre Lippen bebten leicht. »Ich habe so viele Menschen in Gefahr gebracht.«

In Gefahr gebracht, dachte Leana und unterdrückte ein bitteres Lächeln. Das war wohl mehr als untertrieben. Aber sie schwieg, erleichtert, dass Nella endlich zu sprechen begann.

»Ich wollte doch nur, dass diese Hexe uns in Ruhe lässt«, fuhr Nella fort und biss sich auf die Lippen. »Sie sollte einfach verschwinden…«

Ein Hauch von Zorn lag in ihrer Stimme, ein Ton, den Leana nicht recht einordnen konnte. Und plötzlich verstand sie, warum Evan Nella gegenüber so misstrauisch war.

Trotz allem konnte Leana ihre Seite nachvollziehen. Liebe war eine starke Kraft, aber sie entschuldigte nichts von dem, was Nella und Jakob getan hatten.

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