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Kapitel 3: Die Schneiderin

Beschreibung: Evan und Leuven haben Ravensberg verlassen und setzen ihre Reise gen Norden fort. Ihr Weg führt sie durch ein Waldstück, das anfangs noch ruhig erscheint, doch plötzlich passiert etwas unerwartetes: Ein Mann fällt vom Himmel!

Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5


Teil 1

Es blitzte und regnete in Strömen.

Das laute, unaufhörliche Klopfen der Tropfen auf den Dachziegeln wurde nur durch das ferne Grollen des Donners übertönt.

Direkt am Wegesrand, an einer Kreuzung nahe der Grenze zwischen Brünnen und dem Cardíz-Imperium, stand sie: die kleine Taverne, fernab von einer größeren Stadt oder einem bewohnten Dorf.

Bei Reisenden war sie äußerst beliebt, so war sie doch die letzte Gelegenheit, noch einmal seine Vorräte aufzustocken, ein kühles Bier zu genießen oder in einem richtigen Bett zu schlafen, ehe man die Grenze gen Osten überschritt.

An diesem Abend war die Taverne besonders gut besucht, denn viele Reisende wollten vor dem herannahenden Sturm Schutz suchen, der sich durch den Regen und das Gewitter angekündigt hatte.

Allerdings war kaum einem der Besucher zum Feiern zumute.

Fast jeder von ihnen betrat die Taverne durchnässt und mit schlammigen Stiefeln.

Dem Wirt aber machte es nichts aus, des Öfteren kehrten Reisende ein, die vor Regen und Sturm Schutz bei ihm suchten.

Er stand hinter dem Tresen und wies seine Tochter, ein junges Mädchen von gerade einmal vierzehn Jahren, an, noch mehr Bier für die Gäste zu zapfen, während seine Frau an der Feuerstelle stand und eine Pilzsuppe aufkochte.

Es herrschte eine unangenehme Stimmung in dem Gasthaus.

Jeder Gast versuchte, den Blickkontakt mit den anderen zu vermeiden.

Die unzähligen Reisetaschen, die sie bei sich trugen, drückten sie mit ihren Beinen unter die Tische, aus Angst, sie könnten bestohlen werden.

Unweit von ihnen herrschte ein Konflikt.

An den Grenzen der beiden großen Reiche postierten sich bereits die Soldaten.

Einen offenen Kampf oder gar einen Krieg provozierte noch keine Seite, aber viele Menschen verließen bereits aus Angst ihre Heimat und wanderten allein oder mit ihren Familien in Richtung Westen.

Nachdem sich die Nachricht von dem Feuer in der Sankt-Tristanius-Kirche herumgesprochen hatte, fürchteten die Bewohner, dass die Lage an der Grenze in Kürze angespannter werden könnte, als sie ohnehin schon war.

Der König ließ verlauten, dass es sich dabei um einen feigen Angriff auf den Glauben aller Menschen in Brünnen handelte, verursacht durch einen alten Feind.

Auch wenn er es nicht offiziell verkünden ließ, wusste jeder, dass er damit indirekt das Cardíz-Imperium verantwortlich machte.

Was letzten Endes wirklich an jenem Abend geschehen war, davon wusste unter der einfachen Bevölkerung niemand Bescheid.

In den Gesichtern der Reisenden war die Furcht vor einem Krieg deutlich zu erkennen.

Kinder hängten sich an die Rockzipfel ihrer Mütter und schauten verängstigt in die Runde.

Sie erschraken. Jeder Gast erschrak, als es aus einer Ecke laut wurde.

»Verdammt noch eins!«, brüllte ein junger Mann mit dunklem, zerzaustem Haar in einer abgetragenen, blauen Tunika. »Wo bleibt denn mein Bier?«

Die Tochter des Wirtes zuckte zusammen, als sie gerade einen Krug unter dem Zapfhahn befüllte.

»Herrje, jetzt sieh doch mal zu!«, folgte es schallend aus der Ecke.

Mit zittrigen Händen drehte sich das Mädchen herum und wanderte behutsam um den Tresen.

Der Schweiß rann ihr die Stirn hinunter, als sie auf den Tisch des jungen Mannes zuging.

Dieser schaute sie finster an.

Das Bier in ihren Händen schwappte im Krug von links nach rechts, als sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte.

Sie hatte Angst vor dem Mann. Das war ihr deutlich anzumerken.

Er sah aus wie ein verrückter Landstreicher, dem man am liebsten nicht zu nahe kommen sollte.

»Was ist denn jetzt, soll das Bier etwa warm werden?«, fragte der junge Mann giftig, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Das Mädchen wurde mit jedem Schritt nervöser. Das Bier schwappte bereits über den Rand.

Der ungeduldige Gast wurde zusehends wütender und spannte die Oberarme kräftig an.

Dann geschah es. Das junge Mädchen rutschte auf dem schlammigen Boden aus und landete mit einem Poltern auf dem Parkett.

Sie musste mit ansehen, wie das Bier aus dem Krug sich mit dem schwarzen Brei vermischte und in die Fugen des Holzbodens sickerte.

Innerlich erschauderte sie, nach außen hin aber war sie erstarrt.

Das Mädchen vernahm, wie der junge Mann von seinem Platz aufstand und dabei seinen Stuhl zur Seite warf.

»Bist du blöde?«, polterte er und spreizte die Finger der rechten Hand. Blaue Flammen begannen in dieser aufzuflackern. »Ich werde dir mal ordentlich den Kopf waschen.«

Aufgeregt rumpelte der Wirt hinter dem Tresen hervor, gefolgt von seiner erschrockenen Frau. »Bitte, Herr, es tut mir wirklich leid. Ich werde Euch sofort ein neues Bier bringen, aber bitte tut meiner Tochter nichts!«, flehte er.

Der junge Mann schaute ihn erbost an.

»Wenn du es nicht schaffst, deinem Kind Manieren beizubringen, dann muss ich es wohl tun«, fauchte er.

Die Gäste der Taverne wandten alle ihren Blick ab. Keiner von ihnen wagte es, auch nur einen Ton von sich zu geben.

Die Flamme in der Hand des jungen Mannes loderte wild auf. »Steh auf, ansonsten wird es nur umso unangenehmer für dich.«

Tränen rannen dem Mädchen über Nase und Wangen. Noch immer konnte sie sich nicht rühren. Ihre Augen waren weit geöffnet, sie wagte es nicht einmal zu blinzeln.

Ein leises Wimmern drang aus ihrem Mund, in der Erwartung, dass sogleich ein schrecklicher Schmerz über sie kommen würde.

Der unzufriedene Gast knirschte mit den Zähnen. Seine Mundwinkel wandelten sich zu einem boshaften Grinsen. Sein Blick wirkte irre.

Plötzlich schlug die Tür des Gasthauses auf, und alle Blicke wanderten zu ihr hinüber.

Regen und feuchtes Laub wurden ins Innere geweht. Der Wind pfiff durch den Schankraum.

Der Sturm hatte bereits zugenommen, sodass der gesamte Eingangsbereich vom Regen überschwemmt wurde.

Gebannt schauten die Gäste auf den Mann, der in einem schwarzen Umhang gehüllt die Taverne betrat.

Seine Stiefel gaben ein dumpfes Geräusch von sich, als sie auf dem modrigen Holzboden aufkamen.

Der junge Mann wischte mit seiner rechten Hand in der Luft umher, und die Flamme, die zuvor bedrohlich aufflackerte, erlosch.

Interessiert beobachtete er, wie der Mann die Tür hinter sich schloss und auf ihn zukam.

Der junge Mann blickte zu dem Mädchen hinunter.

»Verzieh dich endlich«, sagte er genervt.

Das Mädchen ließ sich nicht zweimal bitten. Sie schnappte sich den heruntergefallenen Krug und sprang auf. Jammernd lief sie in die Arme ihrer Eltern.

Der junge Mann stellte seinen Stuhl wieder auf und setzte sich mit lockerer Körperhaltung nieder.

Das dumpfe Geräusch von nassen Stiefeln auf dem Holzboden hallte durch die Gaststätte.

»Ihr müsst Rikard sein«, sagte der aufbrausende junge Mann und zeigte mit seiner Hand auf den freien Platz gegenüber von sich. »Ich hatte schon fast gedacht, ihr würdet gar nicht mehr aufkreuzen. Ich mag es nicht, wenn man mich warten lässt. Schreibt euch das gefälligst hinter die Ohren.«

Der Fremde setzte sich. Wasser tropfte von seinem Umhang, als er die Kapuze nach hinten fallen ließ.

Es präsentierte sich das faltige Gesicht eines alten Mannes.

»Ihr seid also Valentin Gillis«, sprach er mit heiserer Stimme. »Verzeiht mir meine Verspätung. Der Sturm hat mich aufgehalten.«

»Das ist mir vollkommen egal“, polterte der junge Mann. »Ihr habt meine Zeit verschwendet.«

»Ich verspreche Euch, dass sich dieses Treffen für Euch auszahlen wird. Ich habe ein großzügiges Angebot für Euch«, versprach der Alte und wischte sich über sein nasses Gesicht.

»Euer Angebot muss wirklich gut sein. Meine Dienste sind nicht günstig, das muss Euch bewusst sein, alter Mann. Aber wenn ich mich Euch ansehe, so wage ich doch zu bezweifeln, dass Ihr mir etwas anzubieten habt.«

»Ihr ward ein aufstrebender Student an der Zauberakademie, nicht wahr?«, fragte Rikard blinzelnd.

»Das war ich, aber worauf wollt Ihr hinaus? – Sind wir etwa nur hier, um zu quatschen? – Welche eine Vergeudung meiner wertvollen Zeit.«

»Natürlich nicht«, warf der Alte ein. »Ich bin gewiss nicht hier, um Eure Zeit zu vergeuden. Aber dennoch frage ich mich, weshalb der Enkel eines einstigen Mitglieds des Zauberrates von der Akademie geworfen wurde.«

Valentin Gillis stöhnte laut auf und rollte die eisblauen Augen. »Ich bin diese Frage leid. Was habe ich mit meinem Großvater zu schaffen? – Wollt Ihr mir etwa einreden, dass ich eine Schande für meine Familie sei? – Tja, da kommt Ihr leider etwas zu spät. Das haben mir schon andere gesagt. Valentin Gillis, die Schande der gesamten Familie. Seid Ihr jetzt glücklich alter Mann?«

Rikard fuhr sich über die weißen Bartstoppeln an seinem Kinn. »Das steht mir nicht zu. Ich bin im Auftrag meines Meisters hier.«

»Und was will er von mir?«

»Bevor Ihr die Akademie verlassen musstet, habt Ihr einige verbotene Zauber erlernt.«

Valentin lachte auf. »Und Euer Meister möchte, dass ich ihm diese beibringe.«

»Keineswegs«, entgegnete der Alte. »Mein Meister möchte Euch dabei helfen, Eure Fähigkeiten noch weiter auszubauen.«

Der junge Zauberer spreizte abermals die Finger und ließ eine blaue Flamme in seiner Hand tänzeln. »Ich denke nicht, dass Euer Meister mir noch etwas beibringen kann.«

Rikard erhob eine seiner buschigen Augenbrauen und blies mit einem eiskalten Hauch die Flamme aus.

Die Finger des Zauberers wurden steif und schmerzten, als hätte er die Nacht in eisiger Kälte verbracht.

»Wie habt Ihr das gemacht?«, fragte er erbost.

»Mit Euren Taschenspielertricks könnt Ihr vielleicht diese Tölpel einschüchtern, mich jedoch nicht«, sagte der Alte.

Die Gäste in der Taverne waren still. Keiner von ihnen wollte Aufmerksamkeit erregen. Niemand wagte es aufzustehen, auch wenn eine bedrückte Stimmung herrschte. Sie hatten Angst und hielten sich aus der Angelegenheit heraus.

»Ihr seid ebenfalls ein Zauberer«, merkte Valentin an und musterte den alten Mann aufmerksam. »Interessant.«

»Das bin ich. Aber das soll nicht das Thema sein. Mein Meister hat Euren Werdegang beobachtet und würde Euch gerne kennenlernen.«

Der junge Mann lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Er möchte mich gerne kennenlernen?«

»Ihr besitzt großes Talent, aber Talent allein macht Euch nicht zu einem Meister.«

»Zu einem Meister?«, fragte Valentin misstrauisch.

Ein krampfhaftes Grinsen erschien in Rikards Gesicht. »Ich spreche von unbegrenzter Macht. Kräfte, die sich kein Zauberer je hat vorstellen können. Kräfte, die kein Zauberer je erlangen könnte.«

»Wenn sie keiner erlangen könnte, wie will Euer Meister mir dann dazu verhelfen und weshalb sollte er es tun? Welche Gegenleistung fordert er?«

Rikard schaute Valentin verschmitzt an. »Meister Rowan arbeitet seit Jahrzehnten daran. Er ist ein Pionier auf seinem Gebiet und hat sich uraltes Wissen angeeignet. Damit ist er in der Lage, Euch jene Macht zu verschaffen. Dafür möchte er nur eine Sache. Eine Sache, mit der Ihr Eure neuerworbenen Fähigkeiten direkt testen könnt. Es gibt da ein paar Personen, die nach dem Kopf meines Meisters trachten. Diese sollt Ihr für ihn ausschalten.«

»Und mehr fordert er nicht? Es muss doch irgendeinen Haken geben?«

»Nun«, gab Rikard zurück, »es gibt ein gewisses Risiko. Wie bereits erwähnt, arbeitet Meister Rowan seit Jahrzehnten daran und er musste etliche Fehlschläge einstecken. Aber nun hat er den Schlüssel zu unendlicher Macht gefunden. Dafür braucht er aber jemanden wie Euch. Jemanden, dessen magische Fähigkeiten der Prozedur standhalten können.«

»Prozedur. Sprechen wir hier von einem Fluch oder einem schwarzen Ritual?«

»Nein, nein, es ist etwas komplett anderes. Es hat mit Magie wenig zu tun, aber Euer Körper muss dem standhalten können.«

»Ich könnte dabei also sterben?«

»Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering. Stellt es Euch eher so vor, als würde man Euch ein Geschwür entfernen. Die Heilungschancen sind sehr hoch, dennoch besteht ein kleines Risiko, dass es zu einer Infektion kommen könnte. Nichts im Leben ist umsonst, das wisst Ihr sicher.«

»Hmm«, Valentin fuhr sich nachdenklich mit einer Hand durch seine struppelige Mähne. »Unbegrenzte Macht, sagt Ihr?«

»Unbegrenzte Macht.«

Der junge Zauberer streckte seine Hand aus. »Ich werde mich mit Eurem Meister treffen. Das Angebot ist in der Tat sehr verlockend.«

Ohne eine Miene zu ziehen, nahm Rikard den Handschlag an. »Ihr werdet es nicht bereuen«, gab er freudig zurück.

___________________________

Weiter im Westen, im Hochland von Rabensberg, war von einem Sturm keine Spur.

Leuvens Planwagen polterte über die unebene Landstraße, während die Stute ihren Unmut zum Ausdruck brachte, indem sie wild den Kopf hin und her schwang und dabei laut durch ihre Nüstern schnaubte.

Auf dem Kutschbock saß der junge Kaufmann, der sich in seine dicke Decke eingewickelt hatte. Nur sein Kopf und seine zittrigen Hände, die die Zügel festhielten, lugten heraus. Er war am Zetern und am Meckern. »Natürlich zählt das!«, schimpfte er.

»Du irrst dich«, gab der Halbdämon kalt zurück, der durch die Öffnung der Plane stieg und neben dem jungen Mann auf dem Kutschbock Platz nahm. »Wenn man überhaupt von einer Rettung sprechen kann, dann wäre es in diesem Fall Ida zu verdanken.«

Ida, die Stute, wieherte auf, als wollte sie Evan zustimmen.

»Und wer hat sie durch die Gassen geführt?«, wollte Leuven wissen und hob anmaßend eine Braue.

»Du sicher nicht. Du hattest sie zu keinem Zeitpunkt unter Kontrolle. Ich frage mich ohnehin, wie du es geschafft hast, sie bis nach Rabensberg zu führen. Wobei, bei dem Gepolter habe ich auch kein Auge zubekommen«, gab Evan zurück und wandte sein Gesicht ab.

Sein Blick fiel auf die Straße. Viele Furchen durchzogen den sandigen Weg, entstanden durch die Räder vieler Wagen, die diese Gegend befuhren. Aber eines störte ihn.

»Seit über einem Tag sind wir schon keinem anderen Karren begegnet, dabei ist das der Weg nach Norden. Da sollte man meinen, es wäre mehr los auf den Wegen. Bist du sicher, dass wir uns nicht verfahren haben?«

»Natürlich bin ich mir sicher!«, schnaubte der junge Mann neben ihm. »Außerdem, versuche nicht, vom Thema abzulenken. Ich habe dir das Leben gerettet, damit sind wir also quitt.«

»Quitt?«, fragte Evan erstaunt und verzog dabei sein Gesicht. »Ich habe dir dreimal das Leben gerettet. Wie kannst du da von quitt reden?«

»Dreimal? Ich glaube, dir hat diese Eldári ordentlich den Kopf durcheinandergebracht. Drei Male waren das sicher nicht«, prustete der Kaufmann.

»Als Erstes die Karraks. Die hätten dich bei lebendigem Leibe gefressen. Zumindest wenn sie dir nicht zum Spaß die Eingeweide herausgerissen hätten. Dann habe ich dich zur Burg Haren gebracht. Du wärst jämmerlich verhungert in der Wildnis, und zu guter Letzt habe ich den Hintz erledigt. Das wären also drei Male. Die Rettung vor den Stadtwachen, die dich beinahe festgenommen haben, zähle ich nicht einmal dazu.«

»Unfug!«, brüllte Leuven. »Die Karraks lasse ich durchgehen, aber die anderen beiden Male mitnichten. Ich hätte sicher etwas zu essen gefunden, und die Geschichte mit dem Hintz, wären wir nicht zur Burg gegangen, dann wären wir ihm auch nie begegnet. Außerdem war er hinter dem Fürsten und dessen Frau her. Für mich bestand also zu keiner Zeit Gefahr.«

»Mitnichten«, wandte Evan ein. »Der Hintz hätte jeden in der Burg umgebracht, ausnahmslos, und ich habe es verhindert.«

Leuven schaute den Halbdämon irritiert an. »Ja, aber wärst du nicht dagewesen und hättest ihn aufgehalten, dann wäre ich doch selbst auch nicht vor Ort gewesen und somit außer Gefahr.«

»Ändert nichts an der Tatsache.«

»Die Tatsache ist, du hast mir einmal das Leben gerettet und ich habe dir einmal das Leben gerettet. Damit sind wir quitt.«

»Nein. Wenn dann hat Ida mir das Leben gerettet.«

Abermals wieherte die Stute zustimmend.

Der junge Kaufmann schüttelte seine krause Mähne mit dem bestickten Barrett.

Ihm war sichtlich anzumerken, dass er die Meinung seines Begleiters in keinster Weise teilte. »Ach, diese Diskussion ist doch Unsinn. Mit einem Halbdämon zu diskutieren, ist, als würde man seinem Hund beibringen wollen, nicht ins Haus zu scheißen. Mit dem Unterschied, dass der Hund irgendwann dazulernt.«

Evan gähnte laut auf. »Das sage ich seit zwei Tagen, aber immer wieder fängst du damit an.«

»Aber natürlich ist das jetzt meine Schuld. Wie könnte ich auch so anmaßend sein, den Halbdämon als den Schuldigen darzustellen? Es war mal wieder der dumme Leuven.«

Die spottischen Worte ließen den Halbdämon kalt. Er blickte wieder auf die Straße und schnalzte dabei mit der Zunge. »Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob wir richtig sind.«

»Herrje«, gab der junge Kaufmann stöhnend zurück und rollte dabei mit den Augen. »Wenn du mir nicht glaubst, dann schau doch selbst auf die Karte.«

»Wenn ich wüsste, wo sie ist, dann würde ich das auch machen!«

»Wo soll sie schon sein? Rutsch doch mal ein Stück, dann gebe ich sie dir.«

Ein Wortgefecht entbrannte zwischen den beiden. Wild rutschten sie auf dem Kutschbock hin und her, sodass der Karren zu wanken begann.

»Nein, da doch nicht!«, schimpfte Leuven.

»Da hast du aber hingezeigt!«, entgegnete Evan.

Ehe ihr Wortgefecht in ein Handgemenge ausarten konnte, unterbrach sie ein lautes Zischen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall.

Ida stoppte ruckartig und hievte ihren massigen Körper, laut wiehernd, in die Luft. Beinahe wären Evan und Leuven vom Kutschbock gefallen.

»Bei den Göttern, was ist denn los?«, fragte ein erschrockener Leuven und blickte wild umher, als Ida ihre Hufe wieder auf den Weg preschte.

Nur ein kurzer Augenblick war vergangen, da stieg Evan vom Karren hinunter.

»Ich hasse es, wenn du das tust«, stöhnte der junge Kaufmann auf.

Vor ihnen breitete sich eine Pfütze aus Blut und Innereien aus. In deren Mitte, beinahe unkenntlich, ein Arm, ein Bein und die Überreste eines Torsos.

»Verflucht noch eins. Was ist eigentlich auf Brünnens Straßen los? Ständig liegen irgendwelche Leichen im Weg«, schimpfte Leuven und stieg dieses Mal ebenfalls vom Kutschbock hinab. Er bewegte sich auf seinen Begleiter zu, der ihm abwehrend einen Arm entgegenstreckte.

»Bleib lieber stehen«, sagte er ernst. »Das muss etwas ziemlich Gefährliches gewesen sein.«

»Deine Spürnase ist einfach brilliant. Wie bist du nur darauf gekommen?«

Auch diese spöttischen Worte konnten den Halbdämon nicht irritieren. Er behielt seine ernste Miene bei.

Sein Blick wanderte in den Himmel. Er war klar. Kaum eine Wolke war zu sehen.

»Wo verdammt noch eins kam der her? Der ist doch nicht einfach aus dem Himmel gefallen.«

Der Halbdämon versuchte, etwas im Himmelblau zu erkennen, spitzte die Ohren und konzentrierte sich, aber nichts. Es war nichts zu hören, nichts zu sehen, und er spürte auch nicht die Anwesenheit von etwas Bösem.

Er begutachtete die menschlichen Überreste, die sich auf der Straße verteilt hatten.

»Männlich, das ist zu erkennen. Das Alter ist aber nicht mehr festzustellen. Warte, was ist das?«

»Was ist was?«

»Stell keine dummen Fragen. Nach was sieht das für dich aus?« Der Halbdämon zeigte auf ein Stück Fleisch in der Blutlache.

Leuven legte seinen Kopf schief und überlegte kurz. »Sieht nach einem Arm aus.«

»Brilliant, du Spürnase. Ich meine diese Schnitte auf dem Arm. Könnten von Klauen stammen.«

Es schüttelte den jungen Kaufmann von Kopf bis Fuß. »Wehe du sagst jetzt, es muss sich um etwas Großes handeln.«

Evan schaute ihn nüchtern an. »Den Spuren nach zu urteilen.«

Dann blickte er wieder in den Himmel. »Aber etwas Großes, das fliegen kann? Das hätte uns doch auffallen müssen.«

»Ich habe eine Theorie!« Leuven erhob seinen Zeigefinger. »Was, wenn er einfach nur weit geschleudert wurde?«

»Bitte was?«

»Ja, vielleicht war es ein Riese, der mit dem armen Kerl Weitwurf geübt hat.«

Evan schüttelte entgeistert seinen Kopf. »Rede keinen Unsinn. Bring mir stattdessen die Karte. Vielleicht gibt es in der Nähe ein Dorf, in dem wir uns umhören können.«

»Du willst wirklich wissen, weshalb er vom Himmel gestürzt ist? Das geht uns doch gar nichts an. Außerdem wollten wir auf geraden Wegen nach Norden. Du bist doch derjenige, der immer wieder betont, wie wichtig es ist, dass du diesen Roland findest.«

»Rowan«, schnappte der Halbdämon, »und jetzt bringt mir einfach diese verdammte Karte.«

»Ja, ja. Auf einmal bin ich dir doch gut genug.« Leuven stemmte die Arme in die Hüfte und trabte zum Karren. Er brauchte nur einen kurzen Augenblick, um die besagte Karte zu finden.

Seufzend blickte Evan ihm hinterher. »Immerhin traue ich dir zu, dass du mir diese beschissene Karte bringst.«

»Ich schätze ja deine Wortgewandtheit«, sagte der Kaufmann und überreichte ihm mit einem bösen Blick die Landkarte. »Aber an deinen Aggressionen musst du noch arbeiten.«

Der Halbdämon bleckte die Zähne. Kraftvoll riss er die Landkarte an sich und rollte sie in seinen Händen aus.

Seine Augen bewegten sich rasch von einem Punkt zum anderen auf dem fetzen Papier.

»Wir sind hier«, säuselte er und blickte weiter. »Dort ist ein kleines Dorf. Keine Stunde von hier entfernt.«

Evan rollte die Landkarte wieder zusammen und drückte sie Leuven unsanft in die Hand. »Los jetzt.«

»Auf einmal muss es wieder schnell gehen«, schnaufte der junge Kaufmann und blickte auf die menschlichen Überreste, die in einer rot-braunen Suppe aus Blut und Innereien schwammen. »Aber ich stimme dir zu. Mich hält hier nichts.«

Geschwind folgte er Evan auf den Wagen und trieb die Stute an.

»Wo muss ich lang?«, fragte er seinen Begleiter.

»Folge der Straße nach Nordosten. Dann kommen wir durch das Dorf Garven«, gab Evan zurück.

Der Kaufmann nickte, während der Karren sich in Bewegung setzte.

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Kapitel 3
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Beschreibung: Evan und Leuven haben Ravensberg verlassen und setzen ihre Reise gen Norden fort. Ihr Weg führt sie durch ein Waldstück, das anfangs noch ruhig erscheint, doch plötzlich passiert etwas unerwartetes: Ein Mann fällt vom Himmel!

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Teil 1

Es blitzte und regnete in Strömen.

Das laute, unaufhörliche Klopfen der Tropfen auf den Dachziegeln wurde nur durch das ferne Grollen des Donners übertönt.

Direkt am Wegesrand, an einer Kreuzung nahe der Grenze zwischen Brünnen und dem Cardíz-Imperium, stand sie: die kleine Taverne, fernab von einer größeren Stadt oder einem bewohnten Dorf.

Bei Reisenden war sie äußerst beliebt, so war sie doch die letzte Gelegenheit, noch einmal seine Vorräte aufzustocken, ein kühles Bier zu genießen oder in einem richtigen Bett zu schlafen, ehe man die Grenze gen Osten überschritt.

An diesem Abend war die Taverne besonders gut besucht, denn viele Reisende wollten vor dem herannahenden Sturm Schutz suchen, der sich durch den Regen und das Gewitter angekündigt hatte.

Allerdings war kaum einem der Besucher zum Feiern zumute.

Fast jeder von ihnen betrat die Taverne durchnässt und mit schlammigen Stiefeln.

Dem Wirt aber machte es nichts aus, des Öfteren kehrten Reisende ein, die vor Regen und Sturm Schutz bei ihm suchten.

Er stand hinter dem Tresen und wies seine Tochter, ein junges Mädchen von gerade einmal vierzehn Jahren, an, noch mehr Bier für die Gäste zu zapfen, während seine Frau an der Feuerstelle stand und eine Pilzsuppe aufkochte.

Es herrschte eine unangenehme Stimmung in dem Gasthaus.

Jeder Gast versuchte, den Blickkontakt mit den anderen zu vermeiden.

Die unzähligen Reisetaschen, die sie bei sich trugen, drückten sie mit ihren Beinen unter die Tische, aus Angst, sie könnten bestohlen werden.

Unweit von ihnen herrschte ein Konflikt.

An den Grenzen der beiden großen Reiche postierten sich bereits die Soldaten.

Einen offenen Kampf oder gar einen Krieg provozierte noch keine Seite, aber viele Menschen verließen bereits aus Angst ihre Heimat und wanderten allein oder mit ihren Familien in Richtung Westen.

Nachdem sich die Nachricht von dem Feuer in der Sankt-Tristanius-Kirche herumgesprochen hatte, fürchteten die Bewohner, dass die Lage an der Grenze in Kürze angespannter werden könnte, als sie ohnehin schon war.

Der König ließ verlauten, dass es sich dabei um einen feigen Angriff auf den Glauben aller Menschen in Brünnen handelte, verursacht durch einen alten Feind.

Auch wenn er es nicht offiziell verkünden ließ, wusste jeder, dass er damit indirekt das Cardíz-Imperium verantwortlich machte.

Was letzten Endes wirklich an jenem Abend geschehen war, davon wusste unter der einfachen Bevölkerung niemand Bescheid.

In den Gesichtern der Reisenden war die Furcht vor einem Krieg deutlich zu erkennen.

Kinder hängten sich an die Rockzipfel ihrer Mütter und schauten verängstigt in die Runde.

Sie erschraken. Jeder Gast erschrak, als es aus einer Ecke laut wurde.

»Verdammt noch eins!«, brüllte ein junger Mann mit dunklem, zerzaustem Haar in einer abgetragenen, blauen Tunika. »Wo bleibt denn mein Bier?«

Die Tochter des Wirtes zuckte zusammen, als sie gerade einen Krug unter dem Zapfhahn befüllte.

»Herrje, jetzt sieh doch mal zu!«, folgte es schallend aus der Ecke.

Mit zittrigen Händen drehte sich das Mädchen herum und wanderte behutsam um den Tresen.

Der Schweiß rann ihr die Stirn hinunter, als sie auf den Tisch des jungen Mannes zuging.

Dieser schaute sie finster an.

Das Bier in ihren Händen schwappte im Krug von links nach rechts, als sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte.

Sie hatte Angst vor dem Mann. Das war ihr deutlich anzumerken.

Er sah aus wie ein verrückter Landstreicher, dem man am liebsten nicht zu nahe kommen sollte.

»Was ist denn jetzt, soll das Bier etwa warm werden?«, fragte der junge Mann giftig, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Das Mädchen wurde mit jedem Schritt nervöser. Das Bier schwappte bereits über den Rand.

Der ungeduldige Gast wurde zusehends wütender und spannte die Oberarme kräftig an.

Dann geschah es. Das junge Mädchen rutschte auf dem schlammigen Boden aus und landete mit einem Poltern auf dem Parkett.

Sie musste mit ansehen, wie das Bier aus dem Krug sich mit dem schwarzen Brei vermischte und in die Fugen des Holzbodens sickerte.

Innerlich erschauderte sie, nach außen hin aber war sie erstarrt.

Das Mädchen vernahm, wie der junge Mann von seinem Platz aufstand und dabei seinen Stuhl zur Seite warf.

»Bist du blöde?«, polterte er und spreizte die Finger der rechten Hand. Blaue Flammen begannen in dieser aufzuflackern. »Ich werde dir mal ordentlich den Kopf waschen.«

Aufgeregt rumpelte der Wirt hinter dem Tresen hervor, gefolgt von seiner erschrockenen Frau. »Bitte, Herr, es tut mir wirklich leid. Ich werde Euch sofort ein neues Bier bringen, aber bitte tut meiner Tochter nichts!«, flehte er.

Der junge Mann schaute ihn erbost an.

»Wenn du es nicht schaffst, deinem Kind Manieren beizubringen, dann muss ich es wohl tun«, fauchte er.

Die Gäste der Taverne wandten alle ihren Blick ab. Keiner von ihnen wagte es, auch nur einen Ton von sich zu geben.

Die Flamme in der Hand des jungen Mannes loderte wild auf. »Steh auf, ansonsten wird es nur umso unangenehmer für dich.«

Tränen rannen dem Mädchen über Nase und Wangen. Noch immer konnte sie sich nicht rühren. Ihre Augen waren weit geöffnet, sie wagte es nicht einmal zu blinzeln.

Ein leises Wimmern drang aus ihrem Mund, in der Erwartung, dass sogleich ein schrecklicher Schmerz über sie kommen würde.

Der unzufriedene Gast knirschte mit den Zähnen. Seine Mundwinkel wandelten sich zu einem boshaften Grinsen. Sein Blick wirkte irre.

Plötzlich schlug die Tür des Gasthauses auf, und alle Blicke wanderten zu ihr hinüber.

Regen und feuchtes Laub wurden ins Innere geweht. Der Wind pfiff durch den Schankraum.

Der Sturm hatte bereits zugenommen, sodass der gesamte Eingangsbereich vom Regen überschwemmt wurde.

Gebannt schauten die Gäste auf den Mann, der in einem schwarzen Umhang gehüllt die Taverne betrat.

Seine Stiefel gaben ein dumpfes Geräusch von sich, als sie auf dem modrigen Holzboden aufkamen.

Der junge Mann wischte mit seiner rechten Hand in der Luft umher, und die Flamme, die zuvor bedrohlich aufflackerte, erlosch.

Interessiert beobachtete er, wie der Mann die Tür hinter sich schloss und auf ihn zukam.

Der junge Mann blickte zu dem Mädchen hinunter.

»Verzieh dich endlich«, sagte er genervt.

Das Mädchen ließ sich nicht zweimal bitten. Sie schnappte sich den heruntergefallenen Krug und sprang auf. Jammernd lief sie in die Arme ihrer Eltern.

Der junge Mann stellte seinen Stuhl wieder auf und setzte sich mit lockerer Körperhaltung nieder.

Das dumpfe Geräusch von nassen Stiefeln auf dem Holzboden hallte durch die Gaststätte.

»Ihr müsst Rikard sein«, sagte der aufbrausende junge Mann und zeigte mit seiner Hand auf den freien Platz gegenüber von sich. »Ich hatte schon fast gedacht, ihr würdet gar nicht mehr aufkreuzen. Ich mag es nicht, wenn man mich warten lässt. Schreibt euch das gefälligst hinter die Ohren.«

Der Fremde setzte sich. Wasser tropfte von seinem Umhang, als er die Kapuze nach hinten fallen ließ.

Es präsentierte sich das faltige Gesicht eines alten Mannes.

»Ihr seid also Valentin Gillis«, sprach er mit heiserer Stimme. »Verzeiht mir meine Verspätung. Der Sturm hat mich aufgehalten.«

»Das ist mir vollkommen egal“, polterte der junge Mann. »Ihr habt meine Zeit verschwendet.«

»Ich verspreche Euch, dass sich dieses Treffen für Euch auszahlen wird. Ich habe ein großzügiges Angebot für Euch«, versprach der Alte und wischte sich über sein nasses Gesicht.

»Euer Angebot muss wirklich gut sein. Meine Dienste sind nicht günstig, das muss Euch bewusst sein, alter Mann. Aber wenn ich mich Euch ansehe, so wage ich doch zu bezweifeln, dass Ihr mir etwas anzubieten habt.«

»Ihr ward ein aufstrebender Student an der Zauberakademie, nicht wahr?«, fragte Rikard blinzelnd.

»Das war ich, aber worauf wollt Ihr hinaus? – Sind wir etwa nur hier, um zu quatschen? – Welche eine Vergeudung meiner wertvollen Zeit.«

»Natürlich nicht«, warf der Alte ein. »Ich bin gewiss nicht hier, um Eure Zeit zu vergeuden. Aber dennoch frage ich mich, weshalb der Enkel eines einstigen Mitglieds des Zauberrates von der Akademie geworfen wurde.«

Valentin Gillis stöhnte laut auf und rollte die eisblauen Augen. »Ich bin diese Frage leid. Was habe ich mit meinem Großvater zu schaffen? – Wollt Ihr mir etwa einreden, dass ich eine Schande für meine Familie sei? – Tja, da kommt Ihr leider etwas zu spät. Das haben mir schon andere gesagt. Valentin Gillis, die Schande der gesamten Familie. Seid Ihr jetzt glücklich alter Mann?«

Rikard fuhr sich über die weißen Bartstoppeln an seinem Kinn. »Das steht mir nicht zu. Ich bin im Auftrag meines Meisters hier.«

»Und was will er von mir?«

»Bevor Ihr die Akademie verlassen musstet, habt Ihr einige verbotene Zauber erlernt.«

Valentin lachte auf. »Und Euer Meister möchte, dass ich ihm diese beibringe.«

»Keineswegs«, entgegnete der Alte. »Mein Meister möchte Euch dabei helfen, Eure Fähigkeiten noch weiter auszubauen.«

Der junge Zauberer spreizte abermals die Finger und ließ eine blaue Flamme in seiner Hand tänzeln. »Ich denke nicht, dass Euer Meister mir noch etwas beibringen kann.«

Rikard erhob eine seiner buschigen Augenbrauen und blies mit einem eiskalten Hauch die Flamme aus.

Die Finger des Zauberers wurden steif und schmerzten, als hätte er die Nacht in eisiger Kälte verbracht.

»Wie habt Ihr das gemacht?«, fragte er erbost.

»Mit Euren Taschenspielertricks könnt Ihr vielleicht diese Tölpel einschüchtern, mich jedoch nicht«, sagte der Alte.

Die Gäste in der Taverne waren still. Keiner von ihnen wollte Aufmerksamkeit erregen. Niemand wagte es aufzustehen, auch wenn eine bedrückte Stimmung herrschte. Sie hatten Angst und hielten sich aus der Angelegenheit heraus.

»Ihr seid ebenfalls ein Zauberer«, merkte Valentin an und musterte den alten Mann aufmerksam. »Interessant.«

»Das bin ich. Aber das soll nicht das Thema sein. Mein Meister hat Euren Werdegang beobachtet und würde Euch gerne kennenlernen.«

Der junge Mann lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Er möchte mich gerne kennenlernen?«

»Ihr besitzt großes Talent, aber Talent allein macht Euch nicht zu einem Meister.«

»Zu einem Meister?«, fragte Valentin misstrauisch.

Ein krampfhaftes Grinsen erschien in Rikards Gesicht. »Ich spreche von unbegrenzter Macht. Kräfte, die sich kein Zauberer je hat vorstellen können. Kräfte, die kein Zauberer je erlangen könnte.«

»Wenn sie keiner erlangen könnte, wie will Euer Meister mir dann dazu verhelfen und weshalb sollte er es tun? Welche Gegenleistung fordert er?«

Rikard schaute Valentin verschmitzt an. »Meister Rowan arbeitet seit Jahrzehnten daran. Er ist ein Pionier auf seinem Gebiet und hat sich uraltes Wissen angeeignet. Damit ist er in der Lage, Euch jene Macht zu verschaffen. Dafür möchte er nur eine Sache. Eine Sache, mit der Ihr Eure neuerworbenen Fähigkeiten direkt testen könnt. Es gibt da ein paar Personen, die nach dem Kopf meines Meisters trachten. Diese sollt Ihr für ihn ausschalten.«

»Und mehr fordert er nicht? Es muss doch irgendeinen Haken geben?«

»Nun«, gab Rikard zurück, »es gibt ein gewisses Risiko. Wie bereits erwähnt, arbeitet Meister Rowan seit Jahrzehnten daran und er musste etliche Fehlschläge einstecken. Aber nun hat er den Schlüssel zu unendlicher Macht gefunden. Dafür braucht er aber jemanden wie Euch. Jemanden, dessen magische Fähigkeiten der Prozedur standhalten können.«

»Prozedur. Sprechen wir hier von einem Fluch oder einem schwarzen Ritual?«

»Nein, nein, es ist etwas komplett anderes. Es hat mit Magie wenig zu tun, aber Euer Körper muss dem standhalten können.«

»Ich könnte dabei also sterben?«

»Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering. Stellt es Euch eher so vor, als würde man Euch ein Geschwür entfernen. Die Heilungschancen sind sehr hoch, dennoch besteht ein kleines Risiko, dass es zu einer Infektion kommen könnte. Nichts im Leben ist umsonst, das wisst Ihr sicher.«

»Hmm«, Valentin fuhr sich nachdenklich mit einer Hand durch seine struppelige Mähne. »Unbegrenzte Macht, sagt Ihr?«

»Unbegrenzte Macht.«

Der junge Zauberer streckte seine Hand aus. »Ich werde mich mit Eurem Meister treffen. Das Angebot ist in der Tat sehr verlockend.«

Ohne eine Miene zu ziehen, nahm Rikard den Handschlag an. »Ihr werdet es nicht bereuen«, gab er freudig zurück.

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Weiter im Westen, im Hochland von Rabensberg, war von einem Sturm keine Spur.

Leuvens Planwagen polterte über die unebene Landstraße, während die Stute ihren Unmut zum Ausdruck brachte, indem sie wild den Kopf hin und her schwang und dabei laut durch ihre Nüstern schnaubte.

Auf dem Kutschbock saß der junge Kaufmann, der sich in seine dicke Decke eingewickelt hatte. Nur sein Kopf und seine zittrigen Hände, die die Zügel festhielten, lugten heraus. Er war am Zetern und am Meckern. »Natürlich zählt das!«, schimpfte er.

»Du irrst dich«, gab der Halbdämon kalt zurück, der durch die Öffnung der Plane stieg und neben dem jungen Mann auf dem Kutschbock Platz nahm. »Wenn man überhaupt von einer Rettung sprechen kann, dann wäre es in diesem Fall Ida zu verdanken.«

Ida, die Stute, wieherte auf, als wollte sie Evan zustimmen.

»Und wer hat sie durch die Gassen geführt?«, wollte Leuven wissen und hob anmaßend eine Braue.

»Du sicher nicht. Du hattest sie zu keinem Zeitpunkt unter Kontrolle. Ich frage mich ohnehin, wie du es geschafft hast, sie bis nach Rabensberg zu führen. Wobei, bei dem Gepolter habe ich auch kein Auge zubekommen«, gab Evan zurück und wandte sein Gesicht ab.

Sein Blick fiel auf die Straße. Viele Furchen durchzogen den sandigen Weg, entstanden durch die Räder vieler Wagen, die diese Gegend befuhren. Aber eines störte ihn.

»Seit über einem Tag sind wir schon keinem anderen Karren begegnet, dabei ist das der Weg nach Norden. Da sollte man meinen, es wäre mehr los auf den Wegen. Bist du sicher, dass wir uns nicht verfahren haben?«

»Natürlich bin ich mir sicher!«, schnaubte der junge Mann neben ihm. »Außerdem, versuche nicht, vom Thema abzulenken. Ich habe dir das Leben gerettet, damit sind wir also quitt.«

»Quitt?«, fragte Evan erstaunt und verzog dabei sein Gesicht. »Ich habe dir dreimal das Leben gerettet. Wie kannst du da von quitt reden?«

»Dreimal? Ich glaube, dir hat diese Eldári ordentlich den Kopf durcheinandergebracht. Drei Male waren das sicher nicht«, prustete der Kaufmann.

»Als Erstes die Karraks. Die hätten dich bei lebendigem Leibe gefressen. Zumindest wenn sie dir nicht zum Spaß die Eingeweide herausgerissen hätten. Dann habe ich dich zur Burg Haren gebracht. Du wärst jämmerlich verhungert in der Wildnis, und zu guter Letzt habe ich den Hintz erledigt. Das wären also drei Male. Die Rettung vor den Stadtwachen, die dich beinahe festgenommen haben, zähle ich nicht einmal dazu.«

»Unfug!«, brüllte Leuven. »Die Karraks lasse ich durchgehen, aber die anderen beiden Male mitnichten. Ich hätte sicher etwas zu essen gefunden, und die Geschichte mit dem Hintz, wären wir nicht zur Burg gegangen, dann wären wir ihm auch nie begegnet. Außerdem war er hinter dem Fürsten und dessen Frau her. Für mich bestand also zu keiner Zeit Gefahr.«

»Mitnichten«, wandte Evan ein. »Der Hintz hätte jeden in der Burg umgebracht, ausnahmslos, und ich habe es verhindert.«

Leuven schaute den Halbdämon irritiert an. »Ja, aber wärst du nicht dagewesen und hättest ihn aufgehalten, dann wäre ich doch selbst auch nicht vor Ort gewesen und somit außer Gefahr.«

»Ändert nichts an der Tatsache.«

»Die Tatsache ist, du hast mir einmal das Leben gerettet und ich habe dir einmal das Leben gerettet. Damit sind wir quitt.«

»Nein. Wenn dann hat Ida mir das Leben gerettet.«

Abermals wieherte die Stute zustimmend.

Der junge Kaufmann schüttelte seine krause Mähne mit dem bestickten Barrett.

Ihm war sichtlich anzumerken, dass er die Meinung seines Begleiters in keinster Weise teilte. »Ach, diese Diskussion ist doch Unsinn. Mit einem Halbdämon zu diskutieren, ist, als würde man seinem Hund beibringen wollen, nicht ins Haus zu scheißen. Mit dem Unterschied, dass der Hund irgendwann dazulernt.«

Evan gähnte laut auf. »Das sage ich seit zwei Tagen, aber immer wieder fängst du damit an.«

»Aber natürlich ist das jetzt meine Schuld. Wie könnte ich auch so anmaßend sein, den Halbdämon als den Schuldigen darzustellen? Es war mal wieder der dumme Leuven.«

Die spottischen Worte ließen den Halbdämon kalt. Er blickte wieder auf die Straße und schnalzte dabei mit der Zunge. »Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob wir richtig sind.«

»Herrje«, gab der junge Kaufmann stöhnend zurück und rollte dabei mit den Augen. »Wenn du mir nicht glaubst, dann schau doch selbst auf die Karte.«

»Wenn ich wüsste, wo sie ist, dann würde ich das auch machen!«

»Wo soll sie schon sein? Rutsch doch mal ein Stück, dann gebe ich sie dir.«

Ein Wortgefecht entbrannte zwischen den beiden. Wild rutschten sie auf dem Kutschbock hin und her, sodass der Karren zu wanken begann.

»Nein, da doch nicht!«, schimpfte Leuven.

»Da hast du aber hingezeigt!«, entgegnete Evan.

Ehe ihr Wortgefecht in ein Handgemenge ausarten konnte, unterbrach sie ein lautes Zischen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall.

Ida stoppte ruckartig und hievte ihren massigen Körper, laut wiehernd, in die Luft. Beinahe wären Evan und Leuven vom Kutschbock gefallen.

»Bei den Göttern, was ist denn los?«, fragte ein erschrockener Leuven und blickte wild umher, als Ida ihre Hufe wieder auf den Weg preschte.

Nur ein kurzer Augenblick war vergangen, da stieg Evan vom Karren hinunter.

»Ich hasse es, wenn du das tust«, stöhnte der junge Kaufmann auf.

Vor ihnen breitete sich eine Pfütze aus Blut und Innereien aus. In deren Mitte, beinahe unkenntlich, ein Arm, ein Bein und die Überreste eines Torsos.

»Verflucht noch eins. Was ist eigentlich auf Brünnens Straßen los? Ständig liegen irgendwelche Leichen im Weg«, schimpfte Leuven und stieg dieses Mal ebenfalls vom Kutschbock hinab. Er bewegte sich auf seinen Begleiter zu, der ihm abwehrend einen Arm entgegenstreckte.

»Bleib lieber stehen«, sagte er ernst. »Das muss etwas ziemlich Gefährliches gewesen sein.«

»Deine Spürnase ist einfach brilliant. Wie bist du nur darauf gekommen?«

Auch diese spöttischen Worte konnten den Halbdämon nicht irritieren. Er behielt seine ernste Miene bei.

Sein Blick wanderte in den Himmel. Er war klar. Kaum eine Wolke war zu sehen.

»Wo verdammt noch eins kam der her? Der ist doch nicht einfach aus dem Himmel gefallen.«

Der Halbdämon versuchte, etwas im Himmelblau zu erkennen, spitzte die Ohren und konzentrierte sich, aber nichts. Es war nichts zu hören, nichts zu sehen, und er spürte auch nicht die Anwesenheit von etwas Bösem.

Er begutachtete die menschlichen Überreste, die sich auf der Straße verteilt hatten.

»Männlich, das ist zu erkennen. Das Alter ist aber nicht mehr festzustellen. Warte, was ist das?«

»Was ist was?«

»Stell keine dummen Fragen. Nach was sieht das für dich aus?« Der Halbdämon zeigte auf ein Stück Fleisch in der Blutlache.

Leuven legte seinen Kopf schief und überlegte kurz. »Sieht nach einem Arm aus.«

»Brilliant, du Spürnase. Ich meine diese Schnitte auf dem Arm. Könnten von Klauen stammen.«

Es schüttelte den jungen Kaufmann von Kopf bis Fuß. »Wehe du sagst jetzt, es muss sich um etwas Großes handeln.«

Evan schaute ihn nüchtern an. »Den Spuren nach zu urteilen.«

Dann blickte er wieder in den Himmel. »Aber etwas Großes, das fliegen kann? Das hätte uns doch auffallen müssen.«

»Ich habe eine Theorie!« Leuven erhob seinen Zeigefinger. »Was, wenn er einfach nur weit geschleudert wurde?«

»Bitte was?«

»Ja, vielleicht war es ein Riese, der mit dem armen Kerl Weitwurf geübt hat.«

Evan schüttelte entgeistert seinen Kopf. »Rede keinen Unsinn. Bring mir stattdessen die Karte. Vielleicht gibt es in der Nähe ein Dorf, in dem wir uns umhören können.«

»Du willst wirklich wissen, weshalb er vom Himmel gestürzt ist? Das geht uns doch gar nichts an. Außerdem wollten wir auf geraden Wegen nach Norden. Du bist doch derjenige, der immer wieder betont, wie wichtig es ist, dass du diesen Roland findest.«

»Rowan«, schnappte der Halbdämon, »und jetzt bringt mir einfach diese verdammte Karte.«

»Ja, ja. Auf einmal bin ich dir doch gut genug.« Leuven stemmte die Arme in die Hüfte und trabte zum Karren. Er brauchte nur einen kurzen Augenblick, um die besagte Karte zu finden.

Seufzend blickte Evan ihm hinterher. »Immerhin traue ich dir zu, dass du mir diese beschissene Karte bringst.«

»Ich schätze ja deine Wortgewandtheit«, sagte der Kaufmann und überreichte ihm mit einem bösen Blick die Landkarte. »Aber an deinen Aggressionen musst du noch arbeiten.«

Der Halbdämon bleckte die Zähne. Kraftvoll riss er die Landkarte an sich und rollte sie in seinen Händen aus.

Seine Augen bewegten sich rasch von einem Punkt zum anderen auf dem fetzen Papier.

»Wir sind hier«, säuselte er und blickte weiter. »Dort ist ein kleines Dorf. Keine Stunde von hier entfernt.«

Evan rollte die Landkarte wieder zusammen und drückte sie Leuven unsanft in die Hand. »Los jetzt.«

»Auf einmal muss es wieder schnell gehen«, schnaufte der junge Kaufmann und blickte auf die menschlichen Überreste, die in einer rot-braunen Suppe aus Blut und Innereien schwammen. »Aber ich stimme dir zu. Mich hält hier nichts.«

Geschwind folgte er Evan auf den Wagen und trieb die Stute an.

»Wo muss ich lang?«, fragte er seinen Begleiter.

»Folge der Straße nach Nordosten. Dann kommen wir durch das Dorf Garven«, gab Evan zurück.

Der Kaufmann nickte, während der Karren sich in Bewegung setzte.

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